1941: Bis kurz vor Moskau
Der fatale Glaube an einen Blitzkrieg
Der fatale Glaube an einen Blitzkrieg
VON DR. BERGIS SCHMIDT-EHRY
Am frühen Morgen des 22. Juni 1941 griffen 121 deutsche Divisionen in drei Heeresgruppen (Süd, Mitte und Nord) auf einer 2.130 km breiten Front mit drei Millionen deutschen Soldaten sowie weiteren 600.000 Soldaten aus Italien, Ungarn, Finnland, Rumänien und der Slowakei ohne Vorwarnung die Sowjetunion an. Durch einen massiven Luftschlag gegen die sowjetischen Flugplätze wurden allein am ersten Kriegstag etwa 1.200 Flugzeuge am Boden zerstört und die russische Luftabwehr damit praktisch ausgeschaltet. Trotz teilweise erbitterter Gegenwehr der zu kurzfristig in Alarmbereitschaft versetzten Rotarmisten stieß die deutsche Wehrmacht in den ersten Wochen tief in den russischen Raum vor.
Deutsche Soldaten am Tag nach dem Überfall
(German soldiers advancing in Russia, 23.6.1941; Lester Halenja, © Yad Vashem, FA159/A212)
Deutsche Truppen erobern eine russische Ortschaft
(German soldiers advancing in Russia, July 1941; Lester Halenja, © Yad Vashem, FA159/A237)
Optimismus unter den deutschen Soldaten
Dementsprechend sind die Briefe von der Front zunächst optimistisch. So schreibt Fritz Donsbach aus Merkenbach, der am 01.12.1939 seinen Wehrdienst in der heutigen Sixt-von-Armin-Kaserne in Wetzlar angetreten hatte, im Juli 1941 an seine Eltern: »Ihr hättet wohl auch nicht gedacht, dass es in Russland so rasch vorwärts geht.« Und wenige Wochen später: »Wenn dieser Ring vollständig geschlossen ist, werden wohl die Hauptkampfhandlungen in Russland ihrem Ende zu gehen.«
Pferdetreck bei Brest-Litowsk (Foto: Donsbach, Juni 1941 © Birgit Kunz, Merkenbach)
Urteil über die »Unterlegenen«
Und das Urteil über die Unterlegenen ist auch schnell gefällt: »Was man so früher im Allgemeinen über Russland gelesen hat, stimmte doch zum großen Teil. Polen und Russland sind doch die schmutzigsten Länder, die es gibt. Solche Verhältnisse könnt ihr euch einfach nicht vorstellen. Straßen in unserem Sinne gibt es hier überhaupt nicht. Bauern wie bei uns gibt es hier nicht. Das Land gehört alles dem Staat. Die Leute müssen es nur bearbeiten. Es wird alles gemeinschaftlich gearbeitet. Das Vieh steht in großen Gemeinschaftsställen. Das Getreide in großen Scheunen. Alle 2 bis 3 Dörfer ist ein roter Kommissar eingesetzt, der die Arbeiten überwacht. Die Einwohner bekommen pro Tag ein Pfund Korn und dann sonst noch einige Kleinigkeiten. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Geld ausgeben kann man hier überhaupt nicht. Wir sind bis jetzt schon durch viele Dörfer gekommen, aber ein Geschäft haben wir bis jetzt noch nie angetroffen. Die Leute müssen sich alles selber machen können. Ihre Sandalen müssen sie sich selber flechten oder barfuß laufen, was ja auch die meisten machen.«
Dorf an der polnisch-russischen Grenze (Foto: Donsbach, 20.6.1941 © Birgit Kunz, Merkenbach)
Die Weite Russlands
Aber die Weite Russlands lässt doch schon ein bisschen die kommenden Probleme erahnen: »Wie man aussieht, wenn man 40-45 km geritten ist, könnt ihr euch denken. Wir marschieren ungefähr von morgens halb vier bis abends neun bis zehn. Das Schlafen gewöhnt man sich schon ganz ab. Mehr wie drei Stunden gibt es nicht. Wir sind immer weiter auf dem Vormarsch durch Russland. Allzu lange können wir wohl nicht mehr marschieren, sonst gehen die Pferde allmählich ein, , oder man müsste uns neue geben. Russland ist doch unheimlich groß.« Und wenige Tage später bei Rogatschew: »Der Russe verteidigt sich hier in unserem Abschnitt bis aufs Letzte – versucht fast jeden Tag an irgendeiner Stelle durchzubrechen.«
Trotz weiterer Erfolge und Vormarsch klingen in den Briefen von Fritz aber bereits im September erste zweifelnde Töne auf: »Vor einigen Tagen haben wir wieder einmal Stellungswechsel gemacht. Hier geht es nur langsam vorwärts. Der Russe sitzt sehr fest hier. Bis der seine Stellungen aufgibt, wird noch einige Zeit vergehen. Dass die Russen noch Flugzeuge trotz den ungeheuren Verlusten besitzen, merken wir jeden Tag. Sie kommen jeden Tag paarmal.«
Anfang Oktober mischen sich Optimismus und Skepsis. »Wir liegen jetzt direkt am Dnjepr in Stellung. Morgen früh am 2.10. soll ein Großangriff auf der gesamten mittleren Front stattfinden. Eine Unmenge Truppen sind hier zusammengezogen. Anschließend an den Angriff soll dann der große Vormarsch beginnen. Hoffentlich ist dies der letzte Einsatz in Russland. Winterbekleidung bekommen wir keine. Etwas Hoffnung ist also immer noch, dass wir vor Winter noch hier herauskommen. Hoffen kann man es ja noch, aber glauben tue ich es noch nicht. Wenn es nicht gar zu schnell Winter wird, glaube ich, dass der Feldzug doch noch zu Ende geht. Es geht mit Gewalt auf Moskau zu. Wir sind ungefähr noch 160 km vor Moskau. Wenn es so weiter geht könnten wir in 8 Tagen dort sein.«
Jubel zuhause – unzureichende Ausrüstung an der Front
Das Blatt wendet sich
Die Daheimgebliebenen feiern derweil die Erfolge an der Ostfront. So lesen wir in der Heimat-Zeitung für die Kameraden an der Front aus ihrer Heimat Waldgirmes, Folge 13, Oktober 1941, herausgegeben von der N.S.D.A.P., Ortsgruppe Waldgirmes:
»Die dritte Heimatzeitung während des Ostfeldzuges wird euch jetzt erreichen. Die Erfolge in den letzten Wochen und Tagen, die von Euch im Kampfe gegen den Bolschewismus errungen wurden, haben alle bisher erzielten weit übertroffen. Der Fall von Kiew, Odessa und anderen großen Städten, bei denen Ihr Übermenschliches geleistet, viele Hunderttausende von Bolschewiken gefangen genommen und unüberschaubares Kriegsmaterial erbeutet habt, haben Eure Heimat und die Welt aufhorchen lassen.“ Und die Kriegskameradschaft Waldgirmes ergänzt: „Liebe Kameraden. Wir stehen jetzt im dritten Kriegsjahr, wir danken Euch allen für das Große, was Ihr geleistet habt, ein jeder wo er steht in diesem Ringen. Jetzt seid Ihr auf dem Vormarsch in Russland, um noch bis zum Winter den Sowjets den Todesstoß zu geben. Gott sei mit euch! Liebe Kameraden wir wünschen Euch alles Gute, wünschen, dass Ihr den Feind schlagt, wo Ihr ihn findet.«
Die Turner vom Turnverein Waldgirmes scheinen etwas realistischer, aber dem Führer (Adolf Hitler) um so ergebener: »Liebe Turnkameraden, noch manche schweren Tage werden Euch bis zum endgültigen Sieg bevorstehen, aber im festen Vertrauen auf unseren Führer, der uns in allem ein leuchtendes Vorbild ist, werdet Ihr auch diese Schwere überwinden.«
Im November werden die Probleme dieses Feldzuges für Fritz Donsbach deutlicher: »Bis Moskau 110 km. Seit 8 Tagen liegt jetzt schon Schnee. Wie das in Zukunft noch mit uns werden soll weiß ich nicht. Allmählich geht alles entzwei. Die Stiefel halten schon lange kein Wasser mehr ab. Jetzt bei dem Sauwetter sieht man wirklich aus wie ein Schwein. Verdreckt und verschlammt von oben bis unten.« Und: »Von 12 Geschützen haben wir jetzt glücklich 4 zum Einsatz gebracht. Alles übrige ist zurückgeblieben. Auch ein Teil der Mannschaften. Jetzt sind wir mit 4 kleinen Russenwagen 50 km zurückgefahren um Verpflegung und Hafer zu holen. Heute sind wir den 5. Tag unterwegs. In 3 bis 4 Tagen werden wir vielleicht bei unserer Einheit sein.«
Obwohl im November 1941 deutsche Truppen vor Leningrad und vor Moskau standen, kam die deutsche Offensive aufgrund des frühen Wintereinbruchs und langer Versorgungswege Anfang Dezember zum Erliegen. Mit dem am 17. November von Stalin erlassenen »Fackelmänner-Befehl«, alle Siedlungspunkte, an denen sich deutsche Truppen befinden, auf 40 bis 60 Kilometer ab der Hauptkampflinie in die Tiefe zu zerstören und in Brand zu setzen, wurden den deutschen Truppen die Möglichkeiten zur Selbstversorgung genommen. Große Kälte, Schneefälle und lange Versorgungswege führten Anfang Dezember zum endgültigen Zusammenbruch der deutschen Offensive. Die deutsche Führung hatte erwartet, dass der Krieg gegen Russland nur wenige Wochen dauern würde und somit die Truppen nur ungenügend auf den russischen Winter vorbereitet. Es fehlte die richtige Winterausstattung, Gewehre und Geschütze verklemmten, Motoröl und Benzin wurden unbrauchbar und vielen Soldaten erfroren die Gliedmaßen.
Ende 1941 wurde klar, dass die anfänglichen Erfolge des Unternehmens »Barbarossa« mit einem hohen, zu hohen Preis bezahlt worden waren. Über 2.750 Panzerkampfwagen und Sturmgeschütze, fast 25.000 Kfz, fast 40.000 Krafträder und mehr 35.000 Lkw waren verloren gegangen. Rund eine Million Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeten waren getötet oder schwer verwundet worden.