KZ-Haft wegen Empfehlungsschreiben für Juden
Landrat Grillo war durch einen Spitzel an die Empfehlungsschreiben gelangt, noch bevor sie auf die Post gingen. Er meldete am 31. Dezember 1938 an die Gestapo Frankfurt: »Beiliegend übersende ich drei mir von dem hiesigen Kreisleiter der NSDAP übergebene Abschriften von Fotokopien eines Briefes der Firma Leitz in Wetzlar an ihre Filiale in New York und zwei Durchschläge. Wie aus den Abschriften ersichtlich ist, steht die Firma Leitz bzw. der verantwortliche Prokurist nicht an, jüdischen Emigranten, mit denen sie bisher in irgendwelchen Geschäftsverbindungen standen, Empfehlungsbriefe in die Hand zu drücken und gleichzeitig ihre Geschäftsleitung in New York anzuweisen, sich diesen Juden anzunehmen und sie in jeder Weise zu unterstützen. Unterzeichnet ist der Brief an die New Yorker Geschäftsleitung von dem Prokuristen Türk, einem bekannten Pazifisten, der dem heutigen Staat und seinen Einrichtungen völlig verständnislos und ablehnend gegenübersteht.
Es ist wohl anzunehmen, daß der Betriebsführer Dr. Ernst Leitz selbst von diesen Dingen nichts weiß. Im Einvernehmen mit dem Kreisleiter der NSDAP stehe ich auf dem Standpunkt, daß Leute, wie Prokurist Türk, die in der schamlosesten Weise ihr eigenes Vaterland verraten und ihm in den Rücken fallen, sofort ihres Postens enthoben und einem Konzentrationslager zugeführt werden müssten.«
Bürgermeister Kindermann unterstützte diesen Vorschlag und berichtet über Türk: »Er war vor der Machtübernahme Mitglied der Deutsch-Demokratischen-Partei und hat sich bis heute in keiner Weise hinsichtlich seiner politischen Einstellung geändert. Er ist ein ausgesprochener Pazifist und Judenfreund und wird als die ›schwarze Seele‹ des Werks bezeichnet, im Verein mit dem kaufmännischen Direktor der Firma Leitz, Henri Dumur, der in der Schweiz geboren ist und auch die schweizer Staatsangehörigkeit besitzt. (…) Sämtliche Geschäftsvorgänge der ausländischen Filialen und Vertretungen gehen durch seine Hand und werden von ihm geregelt. Mit Vorliebe stellt er für die ausländischen Filialen Juden ein bzw. bevorzugt diese.
Dem heutigen Staat steht er völlig verständnislos und ablehnend gegenüber, was umso schwerer in die Waagschale fällt, weil er wirtschaftliche Belange, soweit diese das Ausland berühren, zu vertreten hat. Wie er diese vertritt und handhabt, zeigt der vorliegende Fall in krasser Weise. Ich empfehle daher, im Einvernehmen mit dem Kreisleiter der NSDAP rücksichtslos durchzugreifen und der Geschäftsleitung der Firma Leitz durch Statuierung eines Exempels nunmehr klarzumachen, dass die Zeit der jüdisch-demokratischen Machenschaften endgültig vorbei ist, zumal heute das gesamte deutsche Volk – hinter dem Führer stehend – das Judentum bekämpft. Dem Vorschlag des Herrn Landrats, Türk in ein Konzentrationslager zu überführen, kann ich nur beipflichten.«24 (Anlage 4)
Unverzüglich versuchte Leitz, seinen leitenden Angestellten Türk frei zu bekommen und kontaktierte im Reichswirtschaftsministerium in Berlin Oberregierungsrat Hans Humbert, den er von früher kannte. Dieser erreichte eine Besprechung in dieser Sache, an der mehrere Ressorts und Dienststellen, zeitweise auch Ernst Leitz und sein Mitarbeiter Glocker, teilnahmen. Wie Hans Humbert später aussagte, zeigte die mehrstündige Besprechung eindeutig die feindselige Haltung der Partei: »Die Firma Leitz sei ein ganz reaktionärer Betrieb. Herr Dr. Leitz sei ein Demokrat geblieben, als der er vor 1933 bekannt geworden sei und wolle vom Dritten Reich nichts wissen. So werde die Firma auch geführt: nationalsozialistischen Forderungen komme man nur da entgegen, wo es gar nicht anders gehe; sonst mache man den Parteidienststellen in ihrem Bemühen, den Betrieb mit nationalsozialistischem Geiste zu erfüllen, alle möglichen Schwierigkeiten. Unverhüllt zeigten Herr Dr. Leitz und die Geschäftsleitung ihr wahres Gesicht im Auslandsgeschäft, wo sie sich unkontrolliert fühlten: Die ausländischen Filialen und Vertretungen von Leitz seien weithin geradezu Sammelpunkte deutschfeindlicher Elemente und alles andere als Propagandastätten für das neue Deutschland. Offenbare Gegner des nationalsozialistischen Deutschlands, die sich hier nicht mehr halten könnten – insbesondere Juden – würden in Wetzlar für das Auslandsgeschäft ausgebildet. Dann wanderten sie aus und tauchten bald irgendwo in einer Auslandsvertretung als Angestellte auf. In der Gefolgschaft sei wegen dieser Vorgänge große Unruhe ausgebrochen.«25
Der letzte Satz sollte natürlich ein Vorgehen der Partei gegen Leitz in ein Anliegen der »Volksgemeinschaft« umdichten. In Wahrheit wurden gerade die Angelegenheiten, die jüdische Angestellte betrafen, äußerst diskret behandelt und waren der Belegschaft überhaupt nicht bekannt. Den Rest darf man getrost als ein unfreiwilliges Loblied auf einen mutigen Demokraten und Lebensretter betrachten. Türk blieb 10 Tage in Haft, wurde von der Firma Leitz mit vollem Gehalt pensioniert und zog Anfang Juli 1939 nach München. Die KZ-Haft mit unsicherem Ausgang konnte Ernst Leitz abwenden.
Auch andere führende Mitarbeiter von Leitz unterlagen der besonderen Aufsicht und Kontrolle der Kreisleitung der NSDAP. Über den Ingenieur und mathematischen Rechner Dr. Erwin Lihotzky, der vom Gaupersonalamt verdächtigt wurde, Halbjude zu sein, gab Kreisleiter Haus nach Angaben von Betriebsobmann Pg. Träger folgende Beurteilung ab: er sei 1920 von Wien zugezogen und seitdem bei der Firma Leitz beschäftigt, den deutschen Gruß habe er bis heute nicht angewandt. »Es war nicht möglich, betr. der arischen Abstammung etwas Bestimmtes in Erfahrung zu bringen; seinem Aussehen nach und auch seinen Manieren und Umgangsformen möchte man behaupten, dass er Volljude ist. Näheres konnte hier nicht ermittelt werden.« Der von Lihotzky angestrebte Hauskauf aus jüdischem Besitz ist wegen dieser Beurteilung wahrscheinlich nicht zustande gekommen.
Dass Ernst Leitz noch auf andere Weise Leben gerettet hat und den Hass von Kreisleiter Haus auf die Firma zeigt der monatliche Stimmungsbericht an Gauleiter Sprenger vom 23. Februar 1940: »Bei der Fa. Leitz habe ich den bestimmten Verdacht, dass eine ähnliche Vetternwirtschaft wie im Weltkriege vor sich geht. Junge wehrhafte Menschen, selbstverständlich innerlich verseucht vom Pazifismus, werden reklamiert. Um einen Grund zu finden werden diese in wehrwichtige Abteilungen des Betriebes versetzt und nur zu dem Zweck, diese Burschen vom Wehrdienst zu schützen. Ich habe mich beim Arbeitsamt schon mehrfach bemüht hinter diese Schliche zu kommen, es ist aber nicht möglich, weil die sogen. R-Betriebe ihre UK-Anträge über das Rüstungskommando in Gießen stellen und dem Arbeitsamt in Wetzlar lediglich über die UK-Stellung Mitteilung gemacht wird. Andere Anträge laufen über das Arbeitsamt. Wäre es nicht möglich, daß sämtliche Reklamationen in einem Kreisgebiet das Einverständnis des zuständigen Kreisleiters haben müsste? Denn nur dann weiß die Bevölkerung, daß es gerecht dabei zugeht. – Es ist tatsächlich so, dass heute die Menschen, die wir bei der Machtübernahme vergessen haben zu beerdigen, über Menschenschicksale entscheiden.«
Als wiederum Bürgermeister Kindermann Ernst Leitz im Jahre 1941 dringend ans Herz legte, in die NSDAP einzutreten und dies als letzte Chance bezeichnete, wodurch auch deutlich wurde, dass der Parteieintritt seines Sohnes Ludwig vom 30. November 1939 nicht ausgereicht hatte, entschloss sich der Senior schweren Herzens zu diesem Schritt und stellte am 10. März 1941 den Aufnahmeantrag. Er wollte sein Unternehmen und seine Mitarbeiter nicht einer unberechenbaren Leitung überlassen. Das Gaupersonalamt gab Ende November 1942 auf Anfrage des Gauwirtschaftsberaters folgende Einschätzung der Persönlichkeit von Dr. Ernst Leitz: »Er war vor der Machtübernahme im politischen Leben in Wetzlar eine besondere Persönlichkeit. Er war im Jahre 1922–1928 führender Demokrat, demokratischer Stadtverordneter und marschierte sogar aktiv im Reichsbanner mit und kleidete dieses im Jahre 1930/31 auf seine Kosten mit Uniformen ein. Später ging er zur Staatspartei über und kandidierte auch für diese bei den Landtagswahlen. Seine nach links gerichtete Aktivität ging soweit, dass er während der Kampfzeit in öffentlichen Versammlungen gegen die NSDAP auftrat. Noch im Jahre 1932 bezeichnete er Nationalsozialisten als ›Braune Affen‹.
Sein politisches Verhalten nach der Machtübernahme ließ jahrelang eine positive Einstellung zum Nationalsozialismus nicht erkennen. In dieser Hinsicht ist seine Haltung bezüglich der Judenfrage besonders hervorzuheben. Die Umgestaltung des Lebens, die die Machtübernahme mit sich brachte, fruchtete bei Ernst Leitz sen. zunächst gar nicht und späterhin nur teilweise und sehr langsam. Vielmehr hatte die demokratische Auffassung stets eine aktive Betonung zu verzeichnen, insbesondere war und ist wohl auch bis zu einem gewissen Grade heute noch seine internationale Betrachtung auf dieser Grundlage fundamentiert. Seine Geschäftsbeziehungen mit Juden im Ausland und auch mit Emigranten, die es vorgezogen haben, nach der Machtübernahme das deutsche Reich zu verlassen, waren noch lange Jahre nach der Machtübernahme sehr eng. Seine Einstellung zur Judenfrage war niemals angepasst an die von der NSDAP veranlassten Maßnahmen und Anschauungen im deutschen Volke. Nur so konnte es geschehen, dass noch im Jahre 1938 ein Abteilungsleiter der Leitz-Werke für nach Amerika ausgewanderte Juden Empfehlungsschreiben zur Aufnahme von Geschäftsbeziehungen erteilen konnte. Die Angelegenheit wurde damals aufgegriffen und dieser Abteilungsleiter wurde entlassen. Allerdings wird er nach wie vor seitens der Firma Leitz durch eine reichliche Pension auskömmlich unterhalten.
Wenn somit der Angefragte in politischer Hinsicht nicht günstig geschildert wird, so ergibt dafür sein soziales Verhalten ein erfreulicheres Bild. (…) Bei der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle, ist der Angefragte aktenmässig bekannt. Eine schriftliche Berichterstattung kann nicht erfolgen. Ich empfehle Akteneinsicht daselbst.«
Quelle: Ernst Leitz II – ›Ich entscheide hiermit, es wird riskiert‹ (Hrsg.: Dr. Knut Kühn-Leitz), S. 265–267.