Spurensuche
Nachfahren erkunden ihre Wurzeln in Deutschland

Bild oben: Die Gäste aus den USA besuchten gemeinsam mit Begleitern aus dem Frankfurter Projekt »Jüdisches Leben« Wetzlar. Von links: Irmtrude Richter (WETZLAR ERINNERT e.V.), Pearl und Jil Enfield, Dr. Oliver Nass (Familie Leitz und Gastgeber im Haus Friedwart), Jörg Kratkey (Kulturdezernent), Rick Enfield, sowie Miri und Benjamin Hesse (Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt) © WETZLAR ERINNERT e.V.

Empfang für die Familie Enfield im »Haus Friedwart«
Sitz der Industriellenfamilie Leitz

Am 16. Juni 2019 besuchten die US-Amerikaner Jill, Pearl und Rick Enfield die Stadt Wetzlar. Mittelpunkt des Besuches der Nachfahren der ehemaligen Frankfurter Familie Ehrenfeld stand ein Empfang im Haus Friedwart, zu dem Dr. Oliver Nass eingeladen hatte. Die Ehrenfelds haben Ernst Leitz II sehr viel für das Überleben ihrer Familie zu verdanken. Ein Bericht und Bilder von einer bewegenden Begegnung in Wetzlar.

Stippvisite bei Leica und Empfang im »Haus Friedwart«

Dr. Nass, der stellvertretend für seinen sich im Urlaub befindlichen Onkel ­Dr. Knut Kühn-Leitz eigens aus Paris angereist kam, begründete diesen Aufwand: »Ich habe von meiner Großmutter und meinem Onkel (Elsie und Knut Kühn-Leitz) so viel von dem Schicksal der Ehrenfelds erfahren, dass es mir eine Ehre ist, deren Nachkommen einmal persönlich kennen zu lernen«. An dem Empfang nahm auch der Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Kratkey teil. Dr. Nass führte seine Gäste durch die Leitz-Villa. Dabei spielten – neben den innenarchitektonischen Besonderheiten des Hauses Friedwart – das demokratische Engagement von Ernst Leitz II und seiner Tochter Elsie Kühn-Leitz eine hervorgehobene Rolle. Anschließend fand ein sehr herzliches und freundschaftlich geprägtes Gespräch bei Kaffee und Kuchen statt.

Jill, Pearl und Rick Enfield wurden von der Stadt Frankfurt und dem Projekt »Jüdisches Leben in Frankfurt« als Gäste eingeladen. Seit 1980 lädt die Stadt frühere Bürger*innen, die während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer politischen Einstellung verfolgt und vertrieben wurden, zu einem Aufenthalt ein. Seit 2012 werden auch deren Kinder und Enkel eingeladen. Diese kennen die frühere Heimatstadt der Vorfahren vor allem durch Erzählungen der Eltern und Großeltern. Die Einladung in die Mainmetropole gibt ihnen Gelegenheit, die Stätten der Kindheit und Jugend der (Groß-)Eltern aufzusuchen: das Haus, die Wohnumgebung, die früheren Schulen und die Gräber von Angehörigen. Für Jill, Pearl und Rick Enfield gehörte deshalb auch die Exkursion nach Wetzlar, der Wirkungsstätte von Ernst Leitz II, dazu.

Der Verein WETZLAR ERINNERT e.V. stellte hierfür ein Tagesprogramm zusammen, zu dem – neben dem Besuch im Haus Friedwart – ein Besuch des Leitz-Parks, der dortigen Ausstellung über die Entwicklungsgeschichte der Leica und der Fotoausstellung mit Bildern von Lenny Kravitz gehörte. Insbesondere für die professionelle Fotografin Jill Einfield, die einen Lehrstuhl für Fotografie an der Universität of New York besitzt, war das von besonderem Interesse. Irmtrude und Ernst Richter von WETZLAR ERINNERT e.V. stellten den amerikanischen Gästen und ihren Begleitern Miriam und Benjamin Hesse vom Verein »Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt« ihre Initiativen für eine aktive Erinnerungs- und Gedenkkultur zu NS-Zeit in Wetzlar vor. Rick Einfield wünschte den Wetzlarerern »eine gute Zukunft für den Weg der Erinnerung« und fragte nach den Chancen und Möglichkeiten, für das Projekt der antifaschistischen Stadtführung jüngere Menschen zu begeistern.

Für einen Besuch in der Altstadt blieb nur wenig Zeit, da zwei der Gäste am folgenden Tag sehr früh die Rückreise in die USA bzw. Weitereise nach Schottland antreten mussten. Jill Enfield bedankte sich zum Abschluss sehr bewegt »für den herzlichen Empfang«, den man ihr und ihren beiden Geschwistern in Wetzlar bereitet habe. Man verabredete in Kontakt zu bleiben.

Die Enfields besuchten auch das neue Leica Werk im Ernst-Leitz-Park. Zu einem kleinen Empfang der Delegation sah sich Leica an einem Sonntag nicht in der Lage.

Hintergrundinformationen
Zur Hilfe von Leitz für die Ehrenfelds und der Frankfurter Inititive

Zum Lesen die einzelnen Kapitel aufklappen:

Logo Spurensuche jüdisches Leben Frankfurt

»I am coming to learn as much as to share«*
Die Erinnerung an das frühere jüdische Leben in Frankfurt und die Auseinandersetzung mit jüdischem Leben heute stehen im Mittelpunkt der Arbeit des Projektes Jüdisches Leben in Frankfurt.

Die Projektgruppe forscht über die Schicksale ehemaliger Frankfurterinnen und Frankfurter jüdischer Herkunft, organisiert Zeitzeugengespräche in Schulen und hat ein methodisches Konzept für die Vor-und Nachbereitung solcher Begegnungen entwickelt.

Seit 1984 beteiligt sich die Projektgruppe an dem jährlichen Besuchsprogramm der Stadt für ehemalige Frankfurterinnen und Frankfurter jüdischer Herkunft. 2012 wurde das Programm auch für die Angehörigen der Zweiten Generation geöffnet.

Die Mitglieder des Projektes unterstützen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Archiven und lokalen Initiativen die Gäste bei der Spurensuche, stellen Kontakte zu Orten her, die mit der Geschichte der Familie verbunden sind, und begleiten die Besucher. Die Begegnungen werden dokumentiert, die Ergebnisse archiviert und veröffentlicht.

—› Geschichte des Projekts
—› Informationen zum Besucherprogramm der Stadt Frankfurt

Schilderungen von Heinrich Ehrenfeld zu den Ereignissen in den 1930er Jahren

Henry Enfield (Heinrich Ehrenfeld) schildert die Hilfen von Ernst Leitz II für die Auswanderung der Familie Einfield und für den Aufbau einer neuen Existenz in den USA 1961 in einem Brief (Übersetzung Ernst Richter). 

Einfields
Miami Fla.
1339 Biscoyne Boulevard
FR 3-7676

17.02.1961

An Herrn Normann C. Lipton
17 East 45th Street
New York 17, N.Y.

Lieber Herr Lipton:
Ich möchte mich entschuldigen, dass ich erst heute Ihren Brief vom 8. Februar beantworte, aber meine Frau ist sehr schwer erkrankt und im Krankenhaus. Ich hatte nicht zu viel Zeit.

Ich freue mich über den Sachverhalt, den ich im Folgenden zur Verfügung stellen werde, allerdings mit der Bitte, meinen Namen in Veröffentlichungen zu meiden, da in Deutschland mehrere Ansprüche bezüglich Entschädigungen anhängig sind.

Unser Geschäft in Frankfurt war immer ein guter Kunde der Fa. Ernst Leitz in Wetzlar, und ich persönlich kannte den Inhaber und die Geschäftsführer der Firma. Besonders Dr. Leitz, von dem ich wusste, dass er gut bekannt ist. Als ich davon überzeugt wurde, dass wir unser Geschäft aufgeben und in die Vereinigten Staaten abreisen müssen, hatte ich mehrere Gespräche mit Herrn Dumur und Herrn Türk und auch mit Dr. Leitz, der sich zu dieser Zeit – im August 1938 – im Städtischen Krankenhaus in Frankfurt aufhielt, wo ich ihn besuchte.

Dr. Leitz erzählte mir damals, wie deprimiert er von den Wende-Ereignissen war. Er riet mir, ich solle mich mit den beiden oben genannten Gentlemen in Verbindung setzen, die mir Ratschläge geben könnten, wie ich mich in den Vereinigten Staaten gewinnbringend etablieren könnte.

Gleichzeitig war ich mit Zeiss-Ikon in Dresden im Kontakt, die mir empfohlen, in den Vereinigten Staaten spezielle fotografische Gerätschaften für Krankenhäuser anzubieten.

Nach diesen Gesprächen habe ich Muster für diese Art von Geräten bestellt, die ich in die Vereinigten Staaten mitnehmen konnte. Ich erhielt hierzu Pro-Forma-Rechnungen, mit denen ich die Exportgenehmigungen durch die deutsche Regierung erhalten konnte. In der Zwischenzeit, am 9. November 1938, zerstörten und plünderten die antisemitischen Pogrome unser Geschäft vollständig. Mein Bruder und ich wurden in das KZ-Buchenwald gebracht und am 21. November 1938 freigelassen, da ich mit dem US-Konsul in Stuttgart einen Termin hatte, um meinen Visumsantrag zu überprüfen. Nachdem ich mein Visum erhalten hatte, ließ mich die Gestapo erst gehen, nachdem alles, was wir hatten, vollständig liquidiert war.

Ich war zu dieser Zeit in Kontakt mit den Herren in Wetzlar, und sie bereiteten ein Empfehlungsbüro in New York vor, in dem sie um Unterstützung bei meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten gebeten wurden. Dies war Ende Dezember 1938. Ich erhielt den Brief am 30. Dezember persönlich, als ich mein Postfach leerte.  Nachdem ich im Januar in London angekommen war, kontaktierte ich Herrn Wiedling, den London-Manager von E. Leitz & Company, der mir zum ersten Mal mitteilte, dass eine von Dr. Leitz unterzeichnete Kopie dieses Briefes der Gestapo in die Hände gefallen sei.

Das Original des Briefes war immer in meinem Besitz gewesen. Und da ihn niemand – außer mir –  gesehen haben konnte, war mir vollkommen klar, dass das Exemplar aus dem Geschäftsbüro von Dr. Leitz gestohlen und der Gestapo übergeben worden sein musste.

Herr Wiedling erzählte mir in London, dass Dr. Leitz aufgrund dieses Schreibens in ungeheure Schwierigkeiten geraten war, dass Herr Türk aus dem Unternehmen ausscheiden musste und dass die Tochter von Dr. Leitz, Frau Kühn-Leitz, als Vergeltung in Haft genommen wurde.

Im Jahr 1935 konnte mein Sohn seine Schulbildung in Deutschland nicht fortsetzen. Deshalb schickte ich ihn nach England, um dort seine Ausbildung abzuschließen. Für die Kosten der Schule waren besondere Arrangements mit einem Mann getroffen worden, der Verwandte in Deutschland unterstützte. Sein Reisepass wurde vom deutschen Konsulat in Liverpool nur unter der Bedingung erneuert worden, dass er niemals nach Deutschland zurückkehren wird. Nachdem er die Schule beendet hatte, wurde er von Herrn Dr. Leitz durch dessen Firma in London über Herrn Wiedling als Lehrling an Wallace & Heaton in der Bond Street in London vermittelt, den damals prominentesten Fotohändler. Dort konnte er seine Ausbildung absolvieren und sich auf seine künftige Karriere vorbereiten.

Kurt kam später zu uns, als er im Februar 1939 in die USA abreiste und im Dezember 1939 unserer Fotogeschäft in Miami Beach eröffnete. Seitdem sind wir hier geschäftlich präsent.

Ich hoffe, dass diese Informationen Ihnen bei Ihrer Recherche helfen wird. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir eine Kopie des Artikels, den Sie vorbereiten, zusenden würden.

Mit besten Grüßen verbleibe ich ganz herzlich

Henry Enfield

Quelle: Ernst Leitz II – ›Ich entscheide hiermit, es wird riskiert‹ (Hrsg.: Dr. Knut Kühn-Leitz), S. 265–267.

Der Druck auf Ernst Leitz wächst

1937 lehnte Ernst Leitz das Amt eines Wehrwirtschaftsführers ab, weil er in diesem Zusammenhang ein Dokument unterschreiben sollte, das ihn zum rückhaltlosen Bekenntnis zur NSDAP verpflichtet hätte. Daraufhin kam prompt die persönliche Aufforderung Sprengers zum Eintritt in die Partei (1938), woraufhin Ernst Leitz dem Überbringer gegenüber wörtlich geäußert hat: »Ich lege auf die Partei keinen Wert.«20 Über die Konsequenzen dieser Ablehnung berichtete nach dem Kriege Bürgermeister Kindermann in einer eidesstattlichen Erklärung vom 2. September 1946: »Zur Sache: Etwa im Jahre 1938 erfuhr ich gelegentlich einer Besprechung bei der Gauleitung in Frankfurt a. M. gesprächsweise entweder von dem Gauleiter selbst oder einem führenden Parteigenossen über den Fabrikanten Dr. h.c. Ernst Leitz, Wetzlar: Der Gauleiter habe neben anderen führenden Persönlichkeiten auch den Fabrikanten Dr. h.c. Ernst Leitz sen. zum Eintritt in die N.S.D.A.P. auffordern lassen. Dr. Leitz habe jedoch einen Beitritt abgelehnt und dabei dem Überbringer der Aufforderung gegenüber wörtlich geäußert, ›er lege auf die Partei keinen Wert‹.

Diese Äußerung bedeute eine Ablehnung der Partei. Sie mache zusammen mit dem Umstand, dass Dr. Leitz alter führender Demokrat sei, es unmöglich, ihn länger als Betriebsführer der Ernst Leitz G.m.b.H., Wetzlar, zu belassen, da bei dem Umfang der Belegschaft der Leitzwerke nur ein Parteigenosse Betriebsführer sein könne. Wenn Dr. Leitz und auch mindestens einer seiner Söhne nicht in Kürze in die Partei einträten, würden alle Mitglieder der Familie von der Betriebsführerschaft ausgeschlossen. Ein entsprechendes Ehrengerichtsverfahren mit dem Ziel der Entziehung der Betriebsführereigenschaft solle gegen Dr. Leitz eingeleitet werden. Ich habe alsbald darauf Herrn Dr. Leitz hiervon in Kenntnis gesetzt und ihm dringend geraten, im Interesse seines Betriebes und der gesamten optischen und mechanischen Industrie Deutschlands dem gegen ihn und seine Familie geplanten Verfahren dadurch zuvor zu kommen, dass er und mindestens einer seiner Söhne pro forma in die Partei eintreten. Jede Betätigung und jede Teilnahme an Veranstaltungen könne er wegen seiner betrieblichen Inanspruchnahme und seines hohen Alters ohnehin ablehnen.«

Als Ernst Leitz, von Bürgermeister Kindermann vertraulich informiert, ablehnte, weil er glaubte, alle Angriffe aus eigener Kraft abwehren zu können, und sich in einer IHK-Sitzung wiederum mit Professor Lüer anlegte, indem er dessen Autarkiepolitik zurückwies, wurde – wie um den Druck auf die Firma zu erhöhen – am 27. Januar 1939 der Verkaufsleiter Alfred Türk von der Gestapo verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, dem jüdischen Fotohändler Heinrich Ehrenfeld aus Frankfurt am Main und dem ebenfalls aus Frankfurt stammenden H. Blumenfeld ein Empfehlungsschreiben für die Leitz’sche Niederlassung in New York ausgestellt zu haben.

Es war wiederum Eugen Kindermann, der Ernst Leitz warnte, zuzugeben, dass er mit den Empfehlungen einverstanden wäre, weil er sonst selbst verhaftet werden würde.

Quelle: Ernst Leitz II – ›Ich entscheide hiermit, es wird riskiert‹ (Hrsg.: Dr. Knut Kühn-Leitz), S. 265–267.

KZ-Haft wegen Empfehlungsschreiben für Juden

Landrat Grillo war durch einen Spitzel an die Empfehlungsschreiben gelangt, noch bevor sie auf die Post gingen. Er meldete am 31. Dezember 1938 an die Gestapo Frankfurt: »Beiliegend übersende ich drei mir von dem hiesigen Kreisleiter der NSDAP übergebene Abschriften von Fotokopien eines Briefes der Firma Leitz in Wetzlar an ihre Filiale in New York und zwei Durchschläge. Wie aus den Abschriften ersichtlich ist, steht die Firma Leitz bzw. der verantwortliche Prokurist nicht an, jüdischen Emigranten, mit denen sie bisher in irgendwelchen Geschäftsverbindungen standen, Empfehlungsbriefe in die Hand zu drücken und gleichzeitig ihre Geschäftsleitung in New York anzuweisen, sich diesen Juden anzunehmen und sie in jeder Weise zu unterstützen. Unterzeichnet ist der Brief an die New Yorker Geschäftsleitung von dem Prokuristen Türk, einem bekannten Pazifisten, der dem heutigen Staat und seinen Einrichtungen völlig verständnislos und ablehnend gegenübersteht.

Es ist wohl anzunehmen, daß der Betriebsführer Dr. Ernst Leitz selbst von diesen Dingen nichts weiß. Im Einvernehmen mit dem Kreisleiter der NSDAP stehe ich auf dem Standpunkt, daß Leute, wie Prokurist Türk, die in der schamlosesten Weise ihr eigenes Vaterland verraten und ihm in den Rücken fallen, sofort ihres Postens enthoben und einem Konzentrationslager zugeführt werden müssten.«

Bürgermeister Kindermann unterstützte diesen Vorschlag und berichtet über Türk: »Er war vor der Machtübernahme Mitglied der Deutsch-Demokratischen-Partei und hat sich bis heute in keiner Weise hinsichtlich seiner politischen Einstellung geändert. Er ist ein ausgesprochener Pazifist und Judenfreund und wird als die ›schwarze Seele‹ des Werks bezeichnet, im Verein mit dem kaufmännischen Direktor der Firma Leitz, Henri Dumur, der in der Schweiz geboren ist und auch die schweizer Staatsangehörigkeit besitzt. (…) Sämtliche Geschäftsvorgänge der ausländischen Filialen und Vertretungen gehen durch seine Hand und werden von ihm geregelt. Mit Vorliebe stellt er für die ausländischen Filialen Juden ein bzw. bevorzugt diese.

Dem heutigen Staat steht er völlig verständnislos und ablehnend gegenüber, was umso schwerer in die Waagschale fällt, weil er wirtschaftliche Belange, soweit diese das Ausland berühren, zu vertreten hat. Wie er diese vertritt und handhabt, zeigt der vorliegende Fall in krasser Weise. Ich empfehle daher, im Einvernehmen mit dem Kreisleiter der NSDAP rücksichtslos durchzugreifen und der Geschäftsleitung der Firma Leitz durch Statuierung eines Exempels nunmehr klarzumachen, dass die Zeit der jüdisch-demokratischen Machenschaften endgültig vorbei ist, zumal heute das gesamte deutsche Volk – hinter dem Führer stehend – das Judentum bekämpft. Dem Vorschlag des Herrn Landrats, Türk in ein Konzentrationslager zu überführen, kann ich nur beipflichten.«24 (Anlage 4)

Unverzüglich versuchte Leitz, seinen leitenden Angestellten Türk frei zu bekommen und kontaktierte im Reichswirtschaftsministerium in Berlin Oberregierungsrat Hans Humbert, den er von früher kannte. Dieser erreichte eine Besprechung in dieser Sache, an der mehrere Ressorts und Dienststellen, zeitweise auch Ernst Leitz und sein Mitarbeiter Glocker, teilnahmen. Wie Hans Humbert später aussagte, zeigte die mehrstündige Besprechung eindeutig die feindselige Haltung der Partei: »Die Firma Leitz sei ein ganz reaktionärer Betrieb. Herr Dr. Leitz sei ein Demokrat geblieben, als der er vor 1933 bekannt geworden sei und wolle vom Dritten Reich nichts wissen. So werde die Firma auch geführt: nationalsozialistischen Forderungen komme man nur da entgegen, wo es gar nicht anders gehe; sonst mache man den Parteidienststellen in ihrem Bemühen, den Betrieb mit nationalsozialistischem Geiste zu erfüllen, alle möglichen Schwierigkeiten. Unverhüllt zeigten Herr Dr. Leitz und die Geschäftsleitung ihr wahres Gesicht im Auslandsgeschäft, wo sie sich unkontrolliert fühlten: Die ausländischen Filialen und Vertretungen von Leitz seien weithin geradezu Sammelpunkte deutschfeindlicher Elemente und alles andere als Propagandastätten für das neue Deutschland. Offenbare Gegner des nationalsozialistischen Deutschlands, die sich hier nicht mehr halten könnten – insbesondere Juden – würden in Wetzlar für das Auslandsgeschäft ausgebildet. Dann wanderten sie aus und tauchten bald irgendwo in einer Auslandsvertretung als Angestellte auf. In der Gefolgschaft sei wegen dieser Vorgänge große Unruhe ausgebrochen.«25

Der letzte Satz sollte natürlich ein Vorgehen der Partei gegen Leitz in ein Anliegen der »Volksgemeinschaft« umdichten. In Wahrheit wurden gerade die Angelegenheiten, die jüdische Angestellte betrafen, äußerst diskret behandelt und waren der Belegschaft überhaupt nicht bekannt. Den Rest darf man getrost als ein unfreiwilliges Loblied auf einen mutigen Demokraten und Lebensretter betrachten. Türk blieb 10 Tage in Haft, wurde von der Firma Leitz mit vollem Gehalt pensioniert und zog Anfang Juli 1939 nach München. Die KZ-Haft mit unsicherem Ausgang konnte Ernst Leitz abwenden.

Auch andere führende Mitarbeiter von Leitz unterlagen der besonderen Aufsicht und Kontrolle der Kreisleitung der NSDAP. Über den Ingenieur und mathematischen Rechner Dr. Erwin Lihotzky, der vom Gaupersonalamt verdächtigt wurde, Halbjude zu sein, gab Kreisleiter Haus nach Angaben von Betriebsobmann Pg. Träger folgende Beurteilung ab: er sei 1920 von Wien zugezogen und seitdem bei der Firma Leitz beschäftigt, den deutschen Gruß habe er bis heute nicht angewandt. »Es war nicht möglich, betr. der arischen Abstammung etwas Bestimmtes in Erfahrung zu bringen; seinem Aussehen nach und auch seinen Manieren und Umgangsformen möchte man behaupten, dass er Volljude ist. Näheres konnte hier nicht ermittelt werden.« Der von Lihotzky angestrebte Hauskauf aus jüdischem Besitz ist wegen dieser Beurteilung wahrscheinlich nicht zustande gekommen.

Dass Ernst Leitz noch auf andere Weise Leben gerettet hat und den Hass von Kreisleiter Haus auf die Firma zeigt der monatliche Stimmungsbericht an Gauleiter Sprenger vom 23. Februar 1940: »Bei der Fa. Leitz habe ich den bestimmten Verdacht, dass eine ähnliche Vetternwirtschaft wie im Weltkriege vor sich geht. Junge wehrhafte Menschen, selbstverständlich innerlich verseucht vom Pazifismus, werden reklamiert. Um einen Grund zu finden werden diese in wehrwichtige Abteilungen des Betriebes versetzt und nur zu dem Zweck, diese Burschen vom Wehrdienst zu schützen. Ich habe mich beim Arbeitsamt schon mehrfach bemüht hinter diese Schliche zu kommen, es ist aber nicht möglich, weil die sogen. R-Betriebe ihre UK-Anträge über das Rüstungskommando in Gießen stellen und dem Arbeitsamt in Wetzlar lediglich über die UK-Stellung Mitteilung gemacht wird. Andere Anträge laufen über das Arbeitsamt. Wäre es nicht möglich, daß sämtliche Reklamationen in einem Kreisgebiet das Einverständnis des zuständigen Kreisleiters haben müsste? Denn nur dann weiß die Bevölkerung, daß es gerecht dabei zugeht. – Es ist tatsächlich so, dass heute die Menschen, die wir bei der Machtübernahme vergessen haben zu beerdigen, über Menschenschicksale entscheiden.«

Als wiederum Bürgermeister Kindermann Ernst Leitz im Jahre 1941 dringend ans Herz legte, in die NSDAP einzutreten und dies als letzte Chance bezeichnete, wodurch auch deutlich wurde, dass der Parteieintritt seines Sohnes Ludwig vom 30. November 1939 nicht ausgereicht hatte, entschloss sich der Senior schweren Herzens zu diesem Schritt und stellte am 10. März 1941 den Aufnahmeantrag. Er wollte sein Unternehmen und seine Mitarbeiter nicht einer unberechenbaren Leitung überlassen. Das Gaupersonalamt gab Ende November 1942 auf Anfrage des Gauwirtschaftsberaters folgende Einschätzung der Persönlichkeit von Dr. Ernst Leitz: »Er war vor der Machtübernahme im politischen Leben in Wetzlar eine besondere Persönlichkeit. Er war im Jahre 1922–1928 führender Demokrat, demokratischer Stadtverordneter und marschierte sogar aktiv im Reichsbanner mit und kleidete dieses im Jahre 1930/31 auf seine Kosten mit Uniformen ein. Später ging er zur Staatspartei über und kandidierte auch für diese bei den Landtagswahlen. Seine nach links gerichtete Aktivität ging soweit, dass er während der Kampfzeit in öffentlichen Versammlungen gegen die NSDAP auftrat. Noch im Jahre 1932 bezeichnete er Nationalsozialisten als ›Braune Affen‹.

Sein politisches Verhalten nach der Machtübernahme ließ jahrelang eine positive Einstellung zum Nationalsozialismus nicht erkennen. In dieser Hinsicht ist seine Haltung bezüglich der Judenfrage besonders hervorzuheben. Die Umgestaltung des Lebens, die die Machtübernahme mit sich brachte, fruchtete bei Ernst Leitz sen. zunächst gar nicht und späterhin nur teilweise und sehr langsam. Vielmehr hatte die demokratische Auffassung stets eine aktive Betonung zu verzeichnen, insbesondere war und ist wohl auch bis zu einem gewissen Grade heute noch seine internationale Betrachtung auf dieser Grundlage fundamentiert. Seine Geschäftsbeziehungen mit Juden im Ausland und auch mit Emigranten, die es vorgezogen haben, nach der Machtübernahme das deutsche Reich zu verlassen, waren noch lange Jahre nach der Machtübernahme sehr eng. Seine Einstellung zur Judenfrage war niemals angepasst an die von der NSDAP veranlassten Maßnahmen und Anschauungen im deutschen Volke. Nur so konnte es geschehen, dass noch im Jahre 1938 ein Abteilungsleiter der Leitz-Werke für nach Amerika ausgewanderte Juden Empfehlungsschreiben zur Aufnahme von Geschäftsbeziehungen erteilen konnte. Die Angelegenheit wurde damals aufgegriffen und dieser Abteilungsleiter wurde entlassen. Allerdings wird er nach wie vor seitens der Firma Leitz durch eine reichliche Pension auskömmlich unterhalten.

Wenn somit der Angefragte in politischer Hinsicht nicht günstig geschildert wird, so ergibt dafür sein soziales Verhalten ein erfreulicheres Bild. (…) Bei der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle, ist der Angefragte aktenmässig bekannt. Eine schriftliche Berichterstattung kann nicht erfolgen. Ich empfehle Akteneinsicht daselbst.«

Quelle: Ernst Leitz II – ›Ich entscheide hiermit, es wird riskiert‹ (Hrsg.: Dr. Knut Kühn-Leitz), S. 265–267.