WETZLAR ERINNERT e.V.
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Gedenktafel zum Ochsenfest 1933
Vom Hakenkreuz beherrscht

Ein Heimatfest als Instrument
der nationalsozialistischen Machtsicherung

1852-1877 fand das bäuerliche Fest im Finsterloh jährlich statt, seit 1880 generell alle drei Jahre. 1933 legte man es mit dem anfallenden Nassauischen Bauerntag zusammen, aus praktischen Gründen einmalig auf der Bachweide. Es wurde zur großen Propagandaveranstaltung für den NS-Staat umgeformt.

Reichsminister Darré hatte seinen ersten öffentlichen Auftritt. Er nutzte das Fest, um die völkischen und rassistischen Grundzüge der aktuellen Gesetze zur Steuerung der Landwirtschaft zu preisen. Alle Redner leisteten Gelöbnisse auf den »Volkskanzler Adolf Hitler«, gar den »Reichskanzler von Gottes Gnaden«. Der Bauer sollte »geadelt« werden.

Nie war das Fest politisch dominiert worden. Nun führte die SA den Festzug an. Gruppen zu landwirtschaftlichen und historischen Themen, zu Industrie und Gewerbe, Gesang und Sport sollten eine »schicksalsgebundene Volksgemeinschaft« dokumentieren. Alles war wie auf dem Festplatz mit unzähligen Hakenkreuzen verbunden.

Inhaltsverzeichnis Gehe direkt per Klick zum gewünschten Kapitel  …

  1. Prolog
  2. Das Ochsenfest 1933: Eine unbekannte Geschichte
  3. Schauplätze und Festprogramm
  4. Gesellschaft und Geselligkeit
  5. Das Schmuckstück: der Festzug
  6. Kinder- und Jugendfest
  7. Erweitertes Festprogramm
  8. Verkehrspolitische Regelungen
  9. Akteure und ihre Rollen
  10. Lokale »Revolution von rechts«
  11. Die Rolle des Landbunds
  12. Parteipolitisches ZwischenspieI
  13. Neuer Mitspieler • Neue Orientierung • neues Motiv
  14. Durchsetzung der NS-Ideologie
  15. Machtdemonstration: physische totalitäre Herrschaft
  16. Gleichschaltung: institutionelle totalitäre Herrschaft
  17. Volksgemeinschaft: mentale totalitäre Herrschaft
  18. Epilog
  19. Ergänzend: Wie das Ochsenfest entstanden ist
  20. Quellenhinweis und Danksagungen
  21. Vorschau und Standorte der Gedenktafel
  22. Statements der Tafelstifter

Kapitel 1:
Prolog

Ulrich Mayer
Am 17. Juli 1933 berichtete der Wetzlarer Anzeiger, einzige Tageszeitung und damit wichtigstes Informationsorgan und Instrument der Meinungsbildung im Kreis Wetzlar, über das Ochsenfest-Feuerwerk vom Vorabend:

»Der Festplatz wurde am Sonntag erst so recht zu einem Volksfest größten Stils. Die Schausteller fanden immer wieder neues Publikum, die Gastzelte waren bis in die späten Abendstunden dicht besetzt. Auf beiden Tanzböden herrschte zeitweise ein beängstigendes Gedränge […] Mit dem Eintritt der Dunkelheit leuchteten an den Drähten entlang den Fahnenstangen und Lichtmasten bunte Lampions auf. Die allgemeine Fröhlichkeit wurde in ein gedämpftes Licht getaucht.

Gegen 22 Uhr versammelte sich die Mehrzahl der Festgäste am abfallenden Ufer zur Lahn wie auf einer Tribüne, um das Schauspiel einer Venezianischen Nacht zu erleben, die das Programm versprochen hatte. Zuerst erstrahlte der Turm des Wetzlarer Domes in rotem Feuerschein, der gespenstische Strahlen bald hierhin, bald dort über die Umrisse der alten Mauern warf. Wenn die Hakenkreuzfahne auf dem Turm in den Bereich des Feuerscheines kam, dann sandte sie ihr Wahrzeichen gleich einem metallischen Blitzen in die Nacht.

Der laute Knall, mit dem eine aufzischende Rakete in der Luft explodierte und ebenso wie einige Nachfolgerinnen die ganze Gegend mit kleinen Sternenbahnen überschüttete, kündigte den Beginn der Bootsausfahrt an. Lautlos und gespenstisch glitten die lampiongeschmückten Paddelboote von der Holzbrücke an der Starkenweide heran, fuhren vorbei, wendeten und verschwanden wieder. […] Die unzweifelhaft größte Überraschung war die Umrisszeichnung eines feurigen Ochsens, der den Kopf bewegen konnte, mit dem Lichter – Schweif wedelte und sich mit Eifer einer der Landwirtschaft sehr nützlichen grünfarbigen Tätigkeit hingab.

Der Scherz hatte einen stürmischen Heiterkeitserfolg zu verzeichnen. Die ganze Baumfront an der Starkenweide hatte ebenfalls eine Lampionbeleuchtung erhalten, die sich wie ein Gewirr von ruhig sitzenden Glühwürmchen ausnahm. Plötzlich strahlte rotes Licht die Ruine des Kalsmuntes an, auf dessen Spitze der Nachtwind die nassauischen Farben zerzauste. Menschenhand und Natur schufen im Zusammenwirken ein Bild, das alle Zuschauer in seinen Bann zog« [1].

[1] Wetzlarer Anzeiger (WA) vom 17.07.1933. Der Zeitungsartikel mutet an wie der zeitgenössische Bericht über das erste Volksfest auf dem Cannstatter Wasen 1818, nach: Seytter, Wilhelm: Unser Stuttgart, Stuttgart 1903, S. 578: »Viele mit Lampen behängte Schiffe und Nachen bewegten sich in scheinbarer Unordnung langsam den Fluß herab, dessen Wellen den Schein der Lichter tausendfältig zurückwarfen. [ … ] Während in anderen Schiffen ein Chor weiblicher Stimmen die festlichen Begebenheiten des Tages und die Vorgänge der Schifffahrt besang und die Musik strophenweise die Melodie des Gesanges wiederholte, reihten sich die Schiffe im Bogen um das anführende Schiff, an dessen Mast jetzt innerhalb einer sprühenden Sonne die Namen des Königs und der Königin in farbiger Glut leuchteten. Dabei flogen unzählige Leuchtkugeln von allen Schiffen unter Hurraruf und Trompetenschall auf.«

Ulrich Mayer
Dem stimmungsvollen Zeitungsbericht zufolge wurde das traditionelle Feuerwerk um einige ganz unterschiedliche Varianten von Illuminationen ergänzt. Die Lampions an den Fahnenstangen und Lichtmasten des Festplatzes, in den Bäumen am Flussufer sowie zur Beleuchtung der als Gondeln verstandenen Paddelboote bedienten eine bürgerlich-romantische Stimmungslage. Zu ihrer Steigerung hätte es nur noch der musikalischen Aufführung einer Barcarole bedurft. Einem ganz anderen Geschmack entsprach die derbe landwirtschaftliche Szene, in der ein offensichtlich durch farbige Leuchtröhren dargestelltes Rind Kuhfladen von sich gab.

Alles wurde sozusagen eingerahmt durch Elemente der spezifisch nationalsozialistischen Festkultur: das Zelebrieren eines fast liturgischen Veranstaltungszaubers durch die Kombination von nächtlicher Dunkelheit, überdimensionierten Fahnen und grellen Lichteffekten aus starken Scheinwerfern. Das waren deutliche Anklänge an die abendliche Massenkundgebung vom 1. Mai dieses Jahres auf dem Tempelhofer Feld, dem früheren kaiserlichen Paradeplatz und späteren innerstädtischen Berliner Flugfeld. Dort hatte Albert Speer eine Wand riesiger Fahnen in gleißendes Scheinwerferlicht tauchen lassen und damit gleichsam einen Prototyp theatralischer Inszenierung des nationalsozialistischen Machtanspruchs geschaffen[1].

[1] Ullrich, Volker: Adolf Hitler. Biografie, Bd. I: Die Jahre des Aufstiegs 1889-1939, Frankfurt am Main 2013, S. 495.

Ulrich Mayer
Nun gab es auch hier in Wetzlar die prominente Platzierung eines nächtlichen Aufgebots von Fahnen und Lichterspiel. Das Spektakel begann mit der Präsentation der Parteifahne auf dem ehrwürdigsten und höchsten Gebäude der Stadt. Hiermit wurden die neuen Herrschaftsverhältnisse dokumentiert. Mit dem Hissen der blau-gelben Flagge des alten Herzogtums Nassau auf der Ruine der ehemaligen Reichsburg Kalsmunt gegenüber dem Dom sollte an die Geschichte des aktuellen Regierungsbezirks Wiesbaden geknüpft werden.

Das Hissen des Parteizeichens auf dem Dom war keinesfalls ein übergriffiger Missbrauch der Wetzlarer Hauptkirche. Vielmehr folgte die Beflaggung des Domes zumindest von evangelischer Seite aus einer ausdrücklichen Aufforderung der obersten Verwaltungsbehörde der »Evangelischen Kirche der altpreußischen Union«, der Provinzen, die schon vor 1866 zu Preußen gehört hatten. Eine Anordnung des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin-Charlottenburg vom 27. Juni 1933 bestimmte:

»Um der tiefen Verbundenheit der Kirche mit dem nationalen Staat, unter dessen starken Schutz ihr irdischer Bestand, die ruhige Ordnung zu ihrem Neuaufbau und damit die freie Verkündigung des Evangeliums an das deutsche Volk für alle Zukunft gewährleistet ist, sichtbaren Ausdruck zu verleihen, ordnen wir folgendes an: bei allen festlichen Anlässen in Kirche und Staat sind hinfort außer der Kirchenfahne auf den evangelischen Kirchen und kirchlichen Gebäuden die Hoheitszeichen des Reiches, schwarz – weiß – rote und Hakenkreuzfahne, zu hissen« [1] .

Am 29. Juni wurde dieser Erlass den Pfarrern und Kirchengemeinden der preußischen Rheinprovinz, der Wetzlar kirchlich zugehörte, mitgeteilt. Dieses Zeichen der Anfälligkeit der preußischen Kirchenleitung für die Ideologie des jungen NS-Staates war keine Einzelerscheinung. Die politische Willfährigkeit entsprang dem tief eingewurzelten konservativen, antisozialistischen und antiliberalen Nationalprotestantismus der evangelischen Pfarrerschaft[2].

Ochsenfest 1933: Hakenkreuzfahnen auf dem Rathaus und Domturm

Beflaggung des Wetzlarer Doms (und des Rathauses, links) © Foto aus Bildersammlung Ralf Schnitzler

[1] Beflaggung der kirchlichen Gebäude. Anordnung des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin, in: Kirchliches Amtsblatt der Rheinprovinz, Jahrgang 1933, S. 70. Für Hilfen bei der Recherche danke ich Herrn Dr. Andreas Metzing von der Evangelischen Archivstelle Boppard in Boppard am Rhein.

[2] Vgl. Scholder, Klaus: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. I, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977. Gailus, Manfred: Protestantismus und Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2001.

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Kapitel 2:
Das Ochsenfest 1933: Eine unbekannte Geschichte

Ulrich Mayer
Ochsenfest ist die seit den 1860er Jahren volkstümliche Bezeichnung für das Tierschaufest des 1832 gegründeten Landwirtschaftlichen Vereins für den Kreis Wetzlar. Der Impuls zur Vereinsgründung in dem landwirtschaftlich rückständigen Kreis ging vom damaligen preußischen Landrat von Sparre aus. Grundidee des Vereins war Fürsorge: die Förderung der landwirtschaftlichen Produktivität und damit die Verbesserung der bäuerlichen Lebensverhältnisse.

Dazu sollten neue Erkenntnisse zur Produktionsverbesserung, die schon seit längerer Zeit theoretisch in der Fachliteratur existierten, in die Praxis umgesetzt werden. Das erfolgte in drei Schwerpunkten. Erstens sollte das Bildungsniveau der bäuerlichen Bevölkerung in landwirtschaftlichen Fragen gehoben werden, zweitens ging es um die Steigerung der Agrarproduktion durch die Anwendung neuer Methoden der Bodenverarbeitung und Düngung sowie den Einsatz neuer Geräte für Aussaat und Ernte, drittens sollte die Zucht des heimischen Nutzviehs verbessert werden.

Zur Förderung der Tierzucht veranstaltete der Verein im Sommer 1846 erstmals eine Tierschau mit Preisverleihung. Sie fand am damaligen Westrand der Stadt auf der Starken Weide zwischen Lahn und Braunfelser Straße statt. Das war seit dem Mittelalter der städtische Weideplatz für die »Sterken«, die einjährigen Kühe. Das Tierschaufest kam auch bei der Wetzlarer Bevölkerung gut an. Seit 1852 gab der Verein zugunsten eines größeren Publikumszuspruchs der rein landwirtschaftlichen Veranstaltung den Charakter eines Volksfestes mit einem Festzug durch die Stadt, einer Verlosung und »öffentlichen Lustbarkeiten«.

Dazu reichte die kleine Fläche der Starken Weide nicht mehr aus. Das Wetzlarer Hospital stellte als Eigentümer das »Finsterloh«, einen damals lichten Buchenhochwald etwa 3 km östlich des Obertors, als neuen Festplatz zur Verfügung[1]. 1872 wurde das Fest auf zwei, 1902 auf drei Tage ausgedehnt und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts jeweils mit einem Feuerwerk abgeschlossen. 1877 beschloss der Veranstalter, das Tierschaufest alle drei Jahre zu begehen und behielt diesen Turnus mit wenigen Ausnahmen bis heute bei[2].

Ochsenfestzug 1908 auf der Brücke über den Schleußenkanal in Richtung Neustadt

Ochsenfestzug 1908 auf der Brücke über den Schleusenkanal in Richtung Neustadt © Historisches Archiv Wetzlar

[1] Mayer, Christoph: Die Bedeutung des Landwirtschaftlichen Vereins für die Agrarentwicklung einer mittelhessischen Bergbauregion, in: Land, Agrarwirtschaft und Gesellschaft. Zeitschrift für Land- und Agrarsoziologie 12 (1997), S. 77-103, hier: S. 93-95.

[2] Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S.10- 227, hier: S. 190-217.

Ulrich Mayer
Recherchen für einen Beitrag anlässlich des Ochsenfestes von 2017 ergaben, dass im Unterschied zu früheren und späteren Zeitabschnitten [1]die Festgeschichte der 1930er Jahre noch gar nicht erforscht und sehr unzureichend dargestellt ist[2]. Aussagen dazu in der repräsentativen Agrargeschichte des Lahn-Dill-Gebiets sind fehlerhaft, widersprüchlich, verwirrend, ja verstörend angesichts der sonstigen fachlichen Kompetenz der betreffenden Autoren. Einerseits heißt es, wohl sei ein Fest für 1933 geplant gewesen. Kryptisch folgt: »Die Ereignisse ließen es denn auch nicht zustande kommen«. Vielmehr sei das Kreistierschaufest von 1937 das »einzige Ochsenfest im 3. Reich« gewesen[3].

Andererseits datiert eine chronologische Liste das 40. Ochsenfest exakt auf die Zeit vom 15. bis 17. Juli 1933[4]. Schließlich resümiert der anerkannte und seinerzeit beste Kenner der Wetzlarer Geschichte in knappen sechs Zeilen rätselhaft und vage, dass man das Fest

»zum ersten (und zugleich zum letzten) Male nicht an altgewohnter Stätte im Finsterloh, sondern als ›13. Nassauischen Bauerntag‹ in den Lahnwiesen unterhalb der Stadt beging, den Reichsbauernführer Reichsminister Darré als Hauptredner hatte, die Festtage auf Samstag bis Montag verschob und dabei den Montag sozusagen als eigentliches Ochsenfest dranhing, – dies alles waren Anzeichen eines drohenden Bruchs in einer sonst fest gefügten Tradition«[5].

Der Autor listet damit auffällige Veränderungen gegenüber der herkömmlichen Festgestaltung auf, ohne jedoch deren Verbindungen oder Zusammenhänge zu erläutern. Fraglich ist auch, ob die von ihm behauptete allgemeine Sorge um den traditionellen Charakter des Festes wirklich die vorherrschende Stimmung der damaligen Festgäste kennzeichnet. Natürlich signalisiert bereits die Anwesenheit des NS- Reichsernährungsministers, dass den Nationalsozialisten viel daran lag, selbst lokale und erst recht regional bedeutendere Feste zu nutzen, um sie für eigene ideologische Zwecke zu instrumentalisieren[6].

[1] [2] Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S.10- 227, S. 190, 207, 227.

[2] Mayer, Ulrich: Die Bauern zeigen Städtern ihre Zuchterfolge, Teil 2, in: Damals 886 (2017), S. 4.

[3] Schütz, Hermann: Der Landwirtschaftliche Verein nach der Wiedergründung im Jahre 1949, in: Landwirtschaft, Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S. 231.

[4] Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S. 207.

[5] Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S. 221.

[6] Freitag, Werner (Hrsg.): Das Dritte Reich im Fest. Führermythos, Feierlaune und Verweigerung in Westfalen 1933-1945, Bielefeld 1997.

Ulrich Mayer
Relevante Akten der lokalen bäuerlichen Organisationen haben Hinweisen des Landwirtschaftlichen Vereins zufolge »die zwei Beseitigungsaktionen bei der Machtergreifung 1933 und nach dem Zusammenbruch 1945 nicht überlebt«[1].

Zum Glück können wir mit der damals ergiebig sprudelnden Quelle des »Wetzlarer Anzeigers« auf einen aussagekräftigen Quellentyp zurückgreifen[2]. Der »Wetzlarer Anzeiger« (WA), die einzige Tageszeitung im Kreis Wetzlar, war vor 1933 im Ton konservativ und nationalistisch[3], distanzierte sich jedoch von den Methoden und Formen der politischen Agitation, wie sie die NSDAP anwandte[4]. Im Februar 1933 gebrauchte die Zeitung bei eigenen Berichten über NS-Wahlveranstaltungen noch den Konjunktiv des sachlichen Berichts oder zitiert den Polizeibericht[5], ging aber bald dazu über, im Sinne der neuen Herren zu schreiben.

Natürlich ermöglicht die Tageszeitung keine direkte und unverstellte Darstellung der vergangenen Wirklichkeit. Sie lässt jedoch in Berichten über lokale Ereignisse bestimmte Entwicklungen und mentale Dispositionen von Journalisten und Lesern deutlich werden. So erlaubt die Lokalpresse bei Beachtung quellenkritischer Standards durchaus den Blick auf allgemeine Interessen, zeitgenössische Informationslagen und Wahrnehmungsperspektiven. Allgemeiner gesagt, ermöglicht sie die Rekonstruktion dessen, was die Menschen damals als ihre Wirklichkeit betrachteten. In seinem Lokalteil berichtete der WA im Sommer 1933 sehr ausführlich über Planung, Durchführung und Ertrag des großen Regionalfestes. Zum Quellenwert dieser Berichte ist zu berücksichtigen, dass die Journalisten des WA offensichtlich Reden häufig stenografierten und deshalb in hohem Maße wörtliche Mitschriften vermittelten.

Neben der Einsicht in die Kopien des WA ist Dr. Irene Jung und Wolfgang Wiedl der Zugriff auf den Bildbestand des Historischen Archivs der Stadt Wetzlar (beide ehemals dort beschäftigt) zu verdanken. Oda Peter (1. Vorsitzende des Wetzlarer Geschichtsvereins) vermittelte den Kontakt zu Herrn Manfred Jung aus Lahnau-Waldgirmes. Er stellte eine Datei mit 70 Fotos zur Verfügung, die sein Naunheimer Großvater Heinrich Konrad Lamm, ein enger Mitarbeiter Oskar Barnacks in der Firma Leitz, während des Ochsenfestes 1933 aufgenommen hat.

[1] Schütz, Hermann: Der Landwirtschaftliche Verein nach der Wiedergründung im Jahre 1949, in: Landwirtschaft, in Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S. 228.

[2] Kraus, Hans-Christoph: Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter, Pamphlete, in: Maurer, Michael (Hrsg.): Aufriss der Historischen Wissenschaften, Bd. 4, Quellen, Stuttgart 2002, S. 373-401.

[3] Falter, Jürgen W. und Mühlberger, Detlef: Die Anatomie einer Volkspartei: Eine Soziographie der NSDAP-Mitgliederschaft in Stadt und Kreis Wetzlar, 1925-1935, in: MWGV 47 (2015), S. 135-184 S. 159.

[4] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, MWGV 24 (1970), S. 39-44.

[5] Gündisch, Dieter: Damit die nicht machen, was sie wollen. Dokumente aus der Geschichte der Arbeiterbewegung in Wetzlar 1889 bis 1945, Wetzlar 1982, S. 88-90.

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Kapitel 3:
Schauplätze und Festprogramm

Ulrich Mayer
Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich für die Veranstaltung feste Inszenierungen und Rituale herausgebildet: Festplatz mit Ständen und Richtringen für die Tierschau, Zelte und Freigelände zur Ausstellung und Vorführung land- und hauswirtschaftlicher Geräte und Maschinen, Vergnügungspark, Festzelte, Tanzböden, sowie die Abfolge zugehöriger Ereignisse: Präsentation und Prämierung des Zuchtviehs als Mittelpunkt der Festlichkeiten, Platzkonzerte, Tanzveranstaltungen, Kinderbelustigung, Kinderfestzug, großer Festzug mit Kapellen, Motivwagen und Fußgruppen durch die mit Waldgrün und Girlanden geschmückte Stadt zum Festplatz, abschließendes Feuerwerk.

So war es auch 1933, mit einer wesentlichen Veränderung: dem Ort des Festplatzes. Gefeiert wurde auf der Bachweide zwischen Lahn und Dillmündung. Der Zugang für die Beschickung und Versorgung des Festplatzes sowie für den Auftrieb der Rinder, des sog. »Rotviehs«, erfolgte von der Neustadt aus. Die Stände und der Richtring für das Kleinvieh (Schweine, Schafe, Ziegen) befanden sich auf der Starken Weide am anderen, linken Lahnufer. Nur von dort aus konnten die Besucher über eine speziell errichtete Holzbrücke den Festplatz erreichen.

Aufnahme vom Festplatz auf der Bchweide vom Kalsmunt

Blick auf den Festplatz Bachweide vom Kalsmunt aus. Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Ulrich Mayer
Der Lageplan gibt detaillierte Auskunft über alle Bestandteile des Festplatzes, die in modernisierter Form bis heute gebräuchlich sind. Zum Vergnügungspark gehörten verschiedene Karusselle, Schiffsschaukeln, Schießstände, Losbuden, Verkaufsstände für Süßigkeiten, Spielzeug und Scherzartikel.

Zwischen zwei großen holzgedielten Tanzplätzen im Freien stand ein Musikpavillon. Außer der Wetzlarer SA- Kapelle und der Feuerwehrkapelle spielte das Musikkorps der 4. Marine-Artillerie-Abteilung Cuxhaven, kurz Marinekapelle Cuxhaven genannt, zum Tanz auf. Tanzen war nicht umsonst, Einzeltänze für Herren kosteten zehn Pfg., das Dauerabzeichen pro Tag eine Mark. Das Tanzgeld für Damen betrug die Hälfte. Bei den Kosten ist zu bedenken, dass der durchschnittliche Tarifstundenlohn eines Arbeiters in der Wetzlarer Industrie damals weit weniger als eine Mark betrug[1].

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Dill
Lahn

Lageplan des Festplatzes für den Nassauischen Bauerntag 15.-17. Juli 1933

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Sportplatz

Fahrräder
Fahrräder
Festzelt

Vergnügungspark
Tierschau

Garderobe
Garderobe

Richt-ringe
Richt-ringe

Toiletten
Verkaufsstände
Verkaufsstände
Bier
Bier
Bier
Bier
Most

Wein
Bier
Bier
Bier

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Lageplan des Festplatzes Bachweide, Quelle: Wetzlarer Anzeiger, nachgezeichnet als interaktive Grafik, Ernst Richter @ Wetzlar erinnert e.V.

Kirmes auf dem Ochsenfest 1933 V.r.n.l.: Schiffsschaukel, Magier, Schießbude, Kettenkarussell unter Hakenkreuzfahnen

Blick über den Vergnügungspark auf dem Festplatz, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

[1] Gündisch, Dieter: Damit die nicht machen, was sie wollen. Dokumente aus der Geschichte der Arbeiterbewegung in Wetzlar von 1989 bis 1945, Wetzlar 1982, S. 108.

Ulrich Mayer
Außer dem großen Festzelt gab es zur Verköstigung und Bewirtung zahlreiche kleinere Gastzelte. Für diese war das rot- weiß gestreifte Zelttuch typisch. Während der gesamten Festdauer konnte man Ausstellungen von Geräten für den hauswirtschaftlichen und den landwirtschaftlich -technischen Bedarf sowie von Produkten der hiesigen Industrie und des regionalen Gewerbes in einem Zelt und im Freigelände besuchen.

1. Bild: Kettenkarussell, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer
2. Bild: Blick auf die Tanzplätze, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer
3. Bild: Marinekapelle Cuxhaven im Musikpavillon, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Ulrich Mayer
Traditionelles Kernstück des Ochsenfestes war damals – und ist es bis heute – die Tierschau mit Prämierung. Die Leistungsschau wurde nicht nur von Züchtern aus dem Kreis Wetzlar, sondern aus dem gesamten Regierungsbezirk Wiesbaden, also den Mittelgebirgen Taunus und Westerwald sowie der Region Hinterland (zwischen Dillenburg, Wetzlar und Biedenkopf) beschickt. Etwa 125 Stück Rotvieh, 65 Schweine, 190 Schafe, 120 Ziegen, allesamt Produkte hochwertiger Tierzucht[1], wurden dem bäuerlichen Fachpublikum und interessierten Städtern präsentiert gemäß dem traditionellen Auftrag, den heimischen Bauern und den Städtern gemeinsam die landwirtschaftlichen Erfolge zu demonstrieren.

Bilder von der Vorführung von prämiertem Zuchtvieh, Fotos: H. K.Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

[1] WA vom 8.07.1933.

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Kapitel 4:
Gesellschaft und Geselligkeit

Ulrich Mayer
Freilich stand es mit der erwünschten und unterstellten Gemeinsamkeit der beiden Bevölkerungsgruppen im Kreis seit Anbeginn nicht zum Besten. Das Kreistierschaufest als ausgesprochen bäuerlich-agrarisch ausgerichtete Veranstaltung wurde in einer Stadt ausgerichtet, der 1832 ca. 4.500 und 1852 etwa 5.000 Einwohner zählte. Hier gab es zwar noch zahlreiche Ackerbürger und einige große Landwirtschaften wie etwa den Hospitalhof. Aber die auf Handwerk, Handel und Dienstleistungen bezogene Sozialstruktur Wetzlars unterschied sich doch deutlich von der des umgebenden Kreisgebiets mit 80 % bäuerlichem Bevölkerungsanteil[1].

Zudem war der Kreis keine traditionell homogene, sondern eine erst seit kurzem obrigkeitlich oktroyierte Verwaltungseinheit. Im Zuge der territorialen Neuordnung des alten Reichsgebietes durch die Schlussakte des Wiener Kongresses von 1815 wurden die Stadt Wetzlar, die an Lahn und Dill gelegenen Ämter der Fürstentümer Solms-Braunfels und Solms-Lich-Hohensolms, das Kloster Altenberg sowie die östlich von Wetzlar gelegenen Exklaven des Fürstentums Nassau- Weilburg dem Königreich Preußen zugeteilt. Seit 14. Mai 1816 wurden die Gebietsteile über kurzfristige Zwischenstufen schließlich am 31. August 1822 zum Kreis Wetzlar zusammengefasst. Dieser gehörte als Exklave zum Regierungsbezirk Koblenz der seit 1822 so bezeichneten preußischen Rheinprovinz. Der nordöstliche Teil des Kreises war zudem durch einen Streifen des Großherzogtums Hessen- Darmstadt, das so genannte Hinterland, vom übrigen Kreisgebiet getrennt[2].

Die alten Territorien hatten ihre je eigene historische Herkunft und herrschaftliche Bindung sowie eine teilweise sehr konfliktreiche Beziehungsgeschichte. Sie waren insbesondere kulturell und konfessionell unterschiedlich geprägt. Nun sollte etwas verbunden werden, was in der Vergangenheit nicht zusammengehört hatte.

Flickenteppich: Landkarte mit den Einzugesbereichen in Mittelhessen im Jahre 1789

Flickenteppich: Lage des Kreises Wetzlar 1822 im Kontext der territorialen Verhältnisse der vorrevolutionären Zeit (Karte: L. Dreher) 

Erläuterung der Legende in obiger Karte:
1 =
Landgrafschaft Hessen – Darmstadt;
2 = Landgrafschaft Hessen – Kassel;
3 = Nassauische Fürstentümer: N-D Nassau-Dillenburg, N-W Nassau-Weilburg, N-U Nassau-Usingen;
4 = Fürsten Grafen von Solms: S-B  Solms-Braunfels, S-L Solms-Lich-Hohensolms;
8 = Propstei;
11 = Kondominate (Kondominate sind Gebiete, das unter der Herrschaft mehrerer Staaten stehen);
Aufgeführt sind die an den Kreis Wetzlar (Gebiet 1822 rot umrandet) grenzenden Territorien.

[1] Lindenthal, Bernd: Der Kreis Wetzlar am Vorabend der Industrialisierung, in: MWGV 31 (1985), S. 297, 315.

[2] Schoenwerk, August: Geschichte von Stadt und Kreis Wetzlar, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. von Herbert Flender, Wetzlar 1975, S. 286 f. Lindenthal, wie Anm. 42, S. 292 f. Mathes,Louisa: Unter der Herrschaft des Königreichs Preußen. Die Entstehung des Kreises Wetzlar vor 200 Jahren, in: Damals 820 (2016), S. 4. Porezag, Karsten: 14. Mai 2016: 200 Jahre Kreis Wetzlar, Teil 1, in: Damals 827 (2016), S. 4. Teil 2, in: Damals 828 (2016), S. 4. Teil 3, in: Damals 829 (2016), S. 4.

Ulrich Mayer
Angesichts der territorialen Gemengelage kann man davon ausgehen, dass die Initiativen der beiden Landräte von Sparre (1822–1845) und Groos (1851–1858) zur Gründung des Landwirtschaftlichen Vereins 1832 und zur Ausrichtung eines regionalen Festes 1852 nicht nur der Popularisierung landwirtschaftlicher Neuerungen, sondern letztlich auch dem Zusammengehörigkeitsgefühl auf Kreisebene dienen sollten. Was in einer überkommenen Sprache »die wirkliche Verschmelzung der Bevölkerung« genannt wurde[1], bezeichnen wir heute als soziale Integration gesellschaftlicher Gruppen mit unterschiedlichen territorialgeschichtlichen, sozio-ökonomischen und mentalen Hintergründen.

Als probates Mittel hierzu gelten seit jeher Feste. Sie haben große Bedeutung für Integration und Identität gesellschaftlicher Gruppen. Feste sind ja nicht einfach da, sondern werden geschaffen, um in ihrem jeweiligen Umfeld Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl zu bewirken sowie sie selbst zum Ausgangspunkt neu erfundener Traditionen zu machen[2]. Sie befriedigen Bedürfnisse nach Gemeinsamkeit und Gleichheit, setzen Gemeinschaft, begründen und befestigen sie. So gehört die Schöpfung des Ochsenfestes in den Kontext der Erfindung großer Volksfeste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie die des Münchener Oktoberfestes 1810 oder des Volksfestes auf dem Cannstatter Wasen bei Stuttgart 1818. Nach Schaffung der Königreiche Bayern und Württemberg wollte man die durch Napoleon und den Wiener Kongress neu erworbenen Gebiete in den Gesamtstaat einfügen, indem durch die Feste ein eigenes bayerisches bzw. württembergisches Gemeinschaftsgefühl und Nationalbewusstsein erzeugt und die Bevölkerung auf die Residenzstadt ausgerichtet werden sollte[3].

[1] Schoenwerk, August: Geschichte von Stadt und Kreis Wetzlar, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. von Herbert Flender, Wetzlar 1975, S. 287.

[2] Marquard, Odo: Kleine Philosophie des Festes, in: Schultz, Uwe (Hrsg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, S. 413-420. Speitkamp, Winfried: Eschwege: Eine Stadt und der Nationalsozialismus, Marburg 2015, S. 156 f.

[3] Düding, Dieter u.a. (Hrsg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988. Hartl, Andrea: Oktoberfest und Cannstatter Volksfest – Vom Nationalfest zum Massenvergnügen, München 2010. Dering, Florian/Eynold, Ursula: Das Oktoberfest 1810-2010. Wegen Überfüllung geschlossen, München 2010.

Ulrich Mayer
Das Wetzlarer Vorhaben war in gewisser Weise erfolgreich. Die Beteiligung weiterer Vereine am Festzug, die Teilnahme der Soldaten des 1818–1877 in Wetzlar stationierten preußischen Militärs, die Komposition und seither traditionelle Aufführung zweier Festmärsche, die Veröffentlichung spezieller Festgedichte sowie die generell steigende Besucherzahl belegen nicht nur die wachsende Attraktivität der Veranstaltung. Sie sind als Merkmale für die »weitere gesellschaftliche Bedeutung« des Festes in der angestrebten Richtung bewertet worden[1]. Euphorisch beurteilte 1911 der WA die Kraft des Festes zu emotionaler Zusammenführung und heimatbezogener Integration, wenn er feststellt, dass »das Ochsenfest stets der Treffpunkt, eine Art Generalappell für alle diejenigen Wetzlarer und Wetzlarerinnen aus Stadt und Kreis geworden ist, die des Schicksals Lauf mehr oder minder weit in die Fremde hinaus geschleudert hat [ … ]«[2], Freilich ist kaum anzunehmen, dass Wetzlarer darauf aus waren, sich endlich einmal mit Bauern aus dem Hüttenberg oder dem Gleiberger Land zusammenzusetzen. Vielmehr freuten sich Städter und Landleute wohl eher, ihre jeweiligen Verwandten wieder zu treffen oder alte Freundschaften aufleben zu lassen.

Links: Junge Bauern bei der Begutachtung einer Häckselmaschine, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer
Rechts: Landleute vor einem Festzelt, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

[1] Mayer, Christoph: Die Bedeutung des Landwirtschaftlichen Vereins für die Agrarentwicklung einer mittelhessischen Bergbauregion, in: Land, Agrarwirtschaft und Gesellschaft. Zeitschrift für Land – und Agrarsoziologie 12 (1997), S. 94.

[2] Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S. 216 f.

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Die Veranstaltung wurde während des Ersten Weltkrieges ausgesetzt und lebte erst 1924 wieder auf. Gerade weil im Großen politische Krisen und gesellschaftliche Verwerfungen herrschten, wurde man nicht müde, in den Festschriften zum Kreistierschaufest der Jahre 1924 bis 1930 für den lokalen Bereich Gemeinsamkeiten zu postulieren und an das Zusammengehörigkeitsgefühl von Stadt-und Landbevölkerung zu appellieren. 1924 rief der Wetzlarer Oberlehrer Ludwig Seher (1865–1928), ein

»glühender Liebhaber seiner Heimatstadt und ihres größten Volksfestes«[1], in altväterlicher Weise Erinnerungen wach an »fröhliches Zusammensein von Landsleuten und Städtern, das sich im Laufe der Jahre zu einem wahren Volksfest im besten Sinne des Wortes« entwickelt habe[2]. Drei Jahre später prägte Wolfgang Dornberger, Hauptgeschäftsführer der Kreisbauernschaft,[3] gar den Begriff »Haupt- und Nationalfest des gesamten Kreises«.

Dornberger setzte 1927 zudem inhaltlich-ideologisch neue Akzente. Die traditionelle Forderung nach Herstellung und Sicherung lokaler und regionaler Integration lenkte er in die Richtung völkischer Vorstellungen. Er behauptete,

»Bürger und Bauer, Arbeiter und Angestellter«

fänden sich einmütig im Finsterloh zusammen, um

»gemeinsam, weitab von allen kleinlichen Partei- und Standesgegensätzen […] sich nur als Mensch unter Menschen und als Glieder eines Volkes zu fühlen«[4].

Er machte das Volksfest nun zu einem völkischen Fest.

1927 kam es aber zu offenen Differenzen und Zwistigkeiten. Die lokale bäuerliche Verbandszeitung beklagte bedenkliche Einstellungen eines großen Teils der städtischen Bevölkerung zum Fest. Sie warf vielen Wetzlarern vor, ihre Häuser nicht zu schmücken und nicht am Festzug teilzunehmen. Den Verantwortlichen des im Jahr zuvor gegründeten Verkehrsvereins wurde gar unterstellt, die eigentlich doch zugkräftige Wetzlarer Veranstaltung zu boykottieren, statt sie mit allen zu Geboten stehenden Mitteln zu fördern und zu unterstützen[5].

[1] Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S. 213

[2] Festschrift und Festordnung mit Schauverzeichnis zum Kreistierschaufest am 10., 11. und 13. Juli 1924, S. 4.

[3] Vgl. WA vom 15.07.1933.

[4] Festschrift und Festordnung mit Schauverzeichnis zum Kreistierschaufest am 10., 11. und 13. Juli 1924, S. 8.

[5] Spiess, Diether: Das Ochsenfest überdauert alle Zeiten, in: HLD 554 (2006), S.13.

Ulrich Mayer
Auf die Dissonanzen ging Dornberger in der Festschrift von 1930 ein. Dass in diesem Jahr die Stadt das Ochsenfest mit der 750-Jahr-Feier der Privilegierung der Wetzlarer Bürger durch Friedrich Barbarossa verband, betrachtete er als »sinnfälligen Ausdruck der innigen Verbundenheit zwischen Stadt und Land, der weiterhin mit dazu beitragen dürfte, die manchmal vorhandenen Gegensätze in harmonischer Weise zu überbrücken«[1]: Auch diesmal erweiterte Dornberger das regionale Moment der Stadt-Land-Beziehung um die völkisch-nationale Komponente. Alle: »einerlei ob Bauer, Arbeiter, Angestellter, Kaufmann, Handwerker« seien »Kinder eines Volkes und Vaterlandes«. Dabei maß er dem Heimatfest gar einen »sittlichen Zweck« bei und überhöhte seine integrative Bedeutung ins Religiöse und Allgemeinmenschliche: »Wir wollen die Tradition der Ochsenfeste heilig halten … und uns bei dieser Veranstaltung ohne alle Gegensätze nur als Mensch unter Menschen fühlen«[2]. Auch 1933 wollte man sicher gehen und beschwor vorsorglich die »treue Verbundenheit zwischen Stadt und Land«[3].

[1] »Festschrift 1930« zum Ochsenfest, S. 9. Auch hier wurde, wie bis heute immer wieder, die Urkunde vom 1. April 1180 irrtümlich als Dokument der »Verleihung der Stadtrechte« angeführt.

[2] »Festschrift 1930« zum Ochsenfest, S. 10.

[3] WA vom 13.07.1933.

Ulrich Mayer
Was aber das traute Beisammensein von Stadt und Land angeht, sind auch für diesen Zeitpunkt Zweifel angebracht. Einzelbilder, selbst Dokumentarfotos, sind keine empirischen Beweise für gesellschaftliche Erscheinungen. Die nicht gestellten Abbildungen 9, 11 und 12 aber können gerade wegen ihrer Zufälligkeit zumindest schlaglichtartig Atmosphärisches und Stimmungen ausdrücken. Abb. 12 dokumentiert durchaus gesellschaftliche Distanz. Abb. 9 und 12 erlauben die Vermutung, dass bei dem Fest Dorfleute und Städter offensichtlich am liebsten getrennt voneinander mit ihresgleichen zusammenglucksten.

Die noch nach 80 Jahren Festgeschichte brisante Problematik, das Spannungsverhältnis von Stadt und Land, lag nicht an persönlichen Abneigungen der Beteiligten, sondern resultierte aus traditionellen und langdauernden strukturellen und mentalen Unterschieden.

Bild 1: Festgäste vor der Losbude, Bild 2: städtische Festgäste, Bild 3: Bäuerinnen und Städterin, Fotos: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Ulrich Mayer
Die Sozialstruktur Wetzlars war durch die Rolle der Stadt als Standort von Industrie, Gewerbe und Verwaltung bedingt. Mit ihrer Kombination von Schwerindustrie einerseits und optisch – feinmechanischer Industrie andererseits war die Stadt ein wichtiges Produktionszentrum. Fabrikarbeiter unterschiedlicher Branchen bildeten die bedeutendste soziale Gruppierung. Sie machten über die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung aus. Hinzu kam ein großer Anteil von fast 40% des tertiären Bereichs.

Im Kreisgebiet hingegen dominierten mit fast 56% die Beschäftigten des land- und forstwirtschaftlichen Bereichs. Vor allem im Hohensolmser Land, im Hüttenberg und im Schöffengrund lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung von der Landwirtschaft, in einzelnen Dörfern sogar über 75%. Dabei waren kleine und mittelgroße Betriebe bis 10 Hektar vorherrschend[1]. Den Großteil der fast 33% Beschäftigten des sekundären Sektors im Kreis bildeten die aus den umliegenden Dörfern einpendelnden Arbeiter der Wetzlarer Großbetriebe, die Beschäftigten verschiedener Industriezweige in den großen Dörfern im Lahntal und an der Dill sowie der Zigarrenfabriken im Gleiberger Land und in den Dörfern an der Lahn östlich von Wetzlar.

Die Lebensbedingungen in Stadt und agrarischem Umfeld waren faktisch konträr, die Beziehungen der Stadt- und Landleute zueinander häufig kontrovers. Man darf wohl von Dissonanzen und Diskrepanzen reden. Deutlich kontrastierte die Kleidung der Frauen in der Stadt und den Dörfern. Auch Landfrauen, die sich städtisch kleideten (Abb. 9), hätten nie modische Topfhüte getragen (Abb. 10 und 11).

Der Wetzlarer Dialekt und die Ausformungen der ländlichen Mundart unterschieden sich deutlich[2]. Die gegenseitigen Uznamen taten ihr Übriges: die Bezeichnung eines Wetzlarers als »Plasterschisser« war keine augenzwinkernde Nettigkeit, die Benennung als »Bauer« andererseits meinte keine neutrale Berufsbezeichnung, sondern diente den Städtern als Schimpfwort[3].

Vergleiche der Sozialstruktur in der Stadt Wetzlar, dem Landkreis, der Region, Preußen und dem Deutschen Reich

Sozialstruktur in Stadt und Kreis Wetzlar, Quelle: Falter, Jürgen W. und Mühlberger, Detlef: »Die Anatomie einer Volkspartei: Eine Soziographie der NSDAP – Mitgliederschaft in Stadt und Kreis Wetzlar«, 1925-1935, in: MWGV 47 (2015), S.142. Nachzeichnung: Ernst Richter

[1] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 16-21. Falter, Jürgen W. und Mühlberger, Detlef: »Die Anatomie einer Volkspartei: Eine Soziographie der NSDAP – Mitgliederschaft in Stadt und Kreis Wetzlar«, 1925-1935, in: MWGV 47 (2015), S. 140-145.

[2] Berthold, Luise: Einblick in die Wetzlarer Mundart, in: Wetzlarer Heimathefte, 2. Folge des Heimatbuchs für Stadt und Kreis Wetzlar, Wetzlar o. J., S. 39-46. Raab, Friedrich: Aus meinem Sammelheft. 2. Wetzlarer Deutsch, in: MWGV 8 (1922), S. 72.

[3] Von den Guggugern bis zu den Plasterschissern: Orts-Uznamen im Lahn-Dill-Kreis, in: Lahn-Dill-Anzeiger vom 23.12.2009.

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Kapitel 5:
Das Schmuckstück: Der Festzug

Ulrich Mayer

Am Sonntag, den 16. Juli führte der traditionelle Festzug nach Aufstellung in der Frankfurter Straße vom Goldfischteich durch die Altstadt (Obertor – Kornmarkt – Domplatz – Krämerstraße – Eisenmarkt – Lahnstraße), über die alte Lahnbrücke in die Neustadt, von dort durch das Bannviertel, über die Bahn- Überführung [1], durch die Hermannsteiner Straße, die Formerstraße und den Niedergirmeser Weg wieder zurück zur Überführung[2, danach durch die Bahnhofstraße bis zum Langgässer Tor. Hierzu ist zu bedenken, dass es damals den heutigen Karl-Kellner-Ring mit der neuen Brücke als Umgehung der Altstadt noch nicht gab. Deshalb führte der Zug vor der teichartigen Ausbuchtung des Mühlgrabens in die Langgasse, wieder über die Lahnbrücke in die Altstadt und vom Eisenmarkt über den Schillerplatz bis zur Straßenecke Silhöfertor-, Braunfelser, Schützenstraße (heute Ernst-Leitz-Platz). Aus verkehrstechnischen Gründen löste der Zug sich schon dort auf und nicht erst in der Nähe der Starken Weide.

[1] Zu diesem Zeitpunkt hieß das Bauwerk noch »Hugenberg-Brücke« nach dem ehemaligen Vorsitzenden der DNVP, der am 30. Januar 1933 als Koalitionspartner und vermeintlich starker Mann der Konservativen. Wirtschaftsminister und Minister für Landwirtschaft und Ernährung im Kabinett Hitler geworden war. Er hatte geglaubt, als »Wirtschaftsdiktator« im Verein mit Vizekanzler Papen Hitler bändigen zu können, wurde aber schnell politisch kaltgestellt und legte nach heftigen Intrigen vor allem seitens des NS-Agrarexperten R. Walther Darré am 27. Juni 1933 seine Ministerämter nieder. Vgl. Ullrich, Volker: Adolf Hitler. Biografie, Bd. I: Die Jahre des Aufstiegs 1889-1939, Frankfurt am Main 2013, S. 498 f.

[2] Der Leica-Fotograf H. K. Lamm hat die meisten Bilder vom Ochsenfestzug an der Einmündung des Niedergirmeser Wegs zur Überführung aufgenommen.

Die Fotoaufnahmen wurden von HK Lamm ausschließlich an der Nordrampe der alten Bahnhofsüberführung gemacht, die bis 1960 von der Bahnhofstraße auf der Stadtseite über die Bahngleise gerade nach Niedergirmes führte. Am Ende der Nordrampe gabelte sich die Straße an einem Kreisel schräg rechts in den Niedergirmeser Weg und links zur Hermannsteiner Straße, die man an der nächsten Straßenecke erreichte. Dort steht noch heute das Backsteinhaus, welches bis zum 2. Mai 1933 das Wetzlarer Gewerkschaftshaus war (heute Sitz des Kinderschutzbundes). © Bilder von HK Lamm, Sammlung Ulrich Mayer

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Kapitel 6:
Kinder- und Jugendfest

Ulrich Mayer

Seit dem Ochsenfest von 1902 sollten die Kinder nicht zu kurz kommen. So auch 1933. Die Wetzlarer Schulen gaben am Samstag ab 11 Uhr schulfrei. Am Montag fand gar kein Unterricht statt. Der Montagnachmittag war der traditionellen »Kinderbelustigung« auf dem Festplatz gewidmet. Dabei ging es um vertraute, die jugendliche Kraft und Geschicklichkeit fordernde, vor allem aber der allgemeinen Heiterkeit dienende Spiele. Die Attraktion für die Jungen war das Erklimmen eines 10 m hohen Kletterbaums, von dessen Spitze man praktische Gegenstände wie Gürtel, Rucksäcke, Turnschuhe abgreifen konnte.

Weitere Disziplinen waren Sackhüpfen und Würstchenschnappen. Die Mädchen konnten beim Ballwerfen nach der Art des heutigen Torwandschießens teilnehmen. Für allgemeine Heiterkeit sorgte das Heidelbeerkuchen-Wettessen, bei dem es darum ging zu einem eingebackenen 50 Pfg.-Stück vorzudringen. Die Spuren, die die Heidelbeeren in den Gesichtern hinterließen, gaben immer wieder Grund zu Gelächter.

Kinderspaß: Sackhüpfen auf dem Festgelände des Ochsenfestes 1933

Sackhüpfen beim Kinderfest, Foto: Historisches Archiv der Stadt Wetzlar

Die Nationalsozialisten versuchten, schon die Kinder und Jugendlichen durch demonstrative Hierarchisierung und durch Inhalte im nationalsozialistischen Sinne zu beeinflussen und zu lenken. Vor dem Fest auf der Bachweide fand von der Großen Promenade aus durch Altstadt, Hausertorstraße, Brückenstraße, Bahnhofstraße, Langgasse und wieder die Altstadt bis zum Festplatz ein Kinderfestzug von sage und schreibe 3.000 Wetzlarer Kindern statt.

In Regime-konformer Weise berichtete der Wetzlarer Anzeiger:

»Um 14 Uhr bewegte sich hinter dem Spielmannszug des Wetzlarer Kriegervereins und der SA-Kapelle der Kinderzug durch die Straßen. […] An der Spitze kamen Abteilungen der Hitlerjugend mit ihren Wimpeln, dann folgten die Schulen in Begleitung ihrer Lehrer. Während man fast keinen Jungen mehr ohne die braune Uniform sah und auch eine Gruppe des BDM im braunen Kleid, bildeten die übrigen Mädchenklassen in weißen oder bunten Kleidern, mit Blumen und Kränzchen geschmückt, einen lebhaften Gegensatz.

Volksgesänge und Hitlerlieder kündigten das Nahen der Kleinen, unter deren gleichmäßigen, rhythmischen Schritten sogar die Eiserne Brücke über die Lahn zu schwanken begann. Die Bewegung verstärkte sich so, dass die Insassen eines ausländischen Kraftwagens, die sich die Erscheinung offenbar nicht erklären konnten, ausstiegen und sich verwundert umschauten«[1].

Zwangsteilnahme aller Schülerinnen und Schüler, Hitlerlieder, Nazilieder, Gleichschritt zur Marschmusik der SA- Kapelle, Uniformierung, Sonderrolle der NS- Jugendorganisation, in allem ging es nicht um ein harmloses Kinderfest oder die Einführung in die Tradition des Heimatfestes, sondern um die frühe Konditionierung für NS-Ideologie und -Praxis.

Kinder vom Radfahrverein und Fahradstaffel Jugend beim Festzug am 16.07.1933. Von dem gesonderten Kinderfestzug mit 3.000 Wetzlarer Kindern stehen uns bisher keine Bilder zur Verfügung. Falls Sie welche haben, oder jemand wissen, der welche hat, dann melden Sie sich bitte bei uns! Vielen Dank

[1] WA vom 18.07.1933.

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Kapitel 7:
Erweitertes Festprogramm

Ulrich Mayer

Im Juli 1933 fand in Wetzlar zusammen mit dem 40. Ochsenfest der 13. Nassauische Bauerntag statt. Diese Tagung war die Jahresversammlung des agrarischen Interessenverbandes Nassauischer Landbund. Warum aber fand diese Veranstaltung ausgerechnet in Wetzlar statt, das nie zu Nassau gehört hatte? Ende 1932/Anfang 1933 hatte der Begriff Nassau hier durchaus politische Bedeutung und Konjunktur im öffentlichen Sprachgebrauch und Bewusstsein. Das lag an Veränderungen der bislang komplizierten territorialen Lage und verwaltungspolitischen Situation des Kreises Wetzlar [1] im Bereich des heutigen Bundeslandes Hessen. Nach dem Ersten Weltkrieg mussten das Königreich Preußen und das Großherzogtum Hessen ihre monarchische Staatsform aufgeben. Aber die Binnengrenzen blieben während der Weimarer Republik erhalten.

So gab es den Volksstaat Hessen (Hauptstadt Darmstadt) mit den Provinzen Oberhessen, Starkenburg und Rheinhessen sowie die preußische Provinz Hessen- Nassau (Oberpräsidium in Kassel) mit den Regierungsbezirken Wiesbaden – bis 1866 Herzogtum Nassau und Freie Stadt Frankfurt – sowie Kassel – bis 1866 Kurfürstentum Hessen. Zwischen diesen drei großen Verwaltungseinheiten, sozusagen am Schnittpunkt der Bezirke Oberhessen, Kassel und Wiesbaden lag westlich des Gießener Lahnknies der Kreis Wetzlar. Er blieb auch nach den Veränderungen von 1918 weiterhin eine Exklave des Regierungsbezirks Koblenz der preußischen Rheinprovinz.

Partiell existierten jedoch organisatorische Verbindungen mit der direkt benachbarten preußischen Verwaltungseinheit. Für die Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Landtag bildete der Kreis Wetzlar zusammen mit der Provinz Hessen-Nassau den Wahlkreis 19. Die Wetzlarer Kreisorganisation des landwirtschaftlichen Interessenverbandes Landbund gehörte nicht dem Provinzverband Rheinischer Landbund an, sondern dem für den Regierungsbezirk Wiesbaden zuständigen Nassauischen Landbund. Dieser hieß deshalb vollständig »Bezirksbauernschaft für Nassau und den Kreis Wetzlar«[2].

Im Zuge der letzten preußischen Gebietsreform während der Weimarer Republik wurde der Kreis Wetzlar am 1. Oktober 1932 aus der Rheinprovinz herausgelöst und dem Regierungsbezirk Wiesbaden der Provinz Hessen-Nassau eingegliedert. Zugleich wurde er arrondiert um die neun südlichen Orte des Kreises Biedenkopf und fünf nördliche Orte des Kreises Usingen[3].

—› Siehe nächstes Aufklappfeld »Lage des Kreises Wetzlar in Hessen«
—› Siehe auch übernächstes Aufklappfeld »Kreis Wetzlar nach der Neugliederung vom 01.10.1932«

[1] Vgl. Abb. im nächsten Aufklappmenü zur Lage des Kreis Wetzlar in Hessen

[2] Zu organisatorischen und inhaltlichen Fragen des Landbundes ausführlicher weiter unten.

[3] Hessisches Statistisches Landesamt (Hrsg.): Hessen im Wandel der letzten 100 Jahre. 1860-1960, Wiesbaden 1960, S. 21 f.

 

Karten mit den Hessischen Staaten in den Grenzen von 1928. Rot markiert der Landkreis Wetzlar, Exklave der Preußischen Rheinprovinz.

Karte von Hessen im Jahre 1932, aufgeteilt als Provinzen des Freistaates Hessen mit Regierungssitz in Darmstadt (zudem auch Rheinhessen und Mainz gehörten). Der Rest von Hessen gehörte zum Freistaat Preußen. Innerhalb des Regierungsbezirks Wiesbaden gehörte ab 1933 der Kreis Wetzlar (rote Markierung) dazu. Zuvor war Wetzlar dem Preußischen Bezirk Koblenz als Enklave zugeordnet.Quelle: Hessen Karte © Wikimedia Von David Liuzzo – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 Der rot umrandete Bereich stellt den Altkreis Wetzlar von 1932 dar.

Kreis Wetzlar nach der Neugliederung 1932

Kreis Wetzlar nach der Neugliederung vom 01.10.1932. Karte: U. Mayer, nachgezeichnet als Vektorgrafik von Ernst Richter @ Wetzlar erinnert e.V. S.241

Ulrich Mayer
1933 war Wetzlar turnusgemäß Austragungsort der Jahrestagung des Nassauischen Landbundes. Das bot die Gelegenheit, zugleich mit der Ausrichtung dieses Treffens die Eingliederung des Kreises Wetzlar in das Gebiet der historischen Einheit »Nassau« offiziell zu feiern. Damit wurde das Lokalfest zumindest für das Jahr 1933 zu einer Art Provinzfest aufgewertet. Entsprechend reagierten die Organisatoren des Wetzlarer Heimatfestes.

Um den auswärtigen Besucherinnen und Besuchern die Teilnahme am Bauerntag zu ermöglichen, wurde dieser auf Sonntag gelegt und das eigentliche Ochsenfest auf Montag verschoben. Traditionelle Programmpunkte des Ochsenfestes wie Festzug, Tierschau, Viehprämierung, Kinderfestzug, Kinder -und Jugendfest wurden so terminiert, dass sie nicht mit den wichtigsten Bestandteilen des Nassauischen Bauerntags kollidierten.

Es ergaben sich folgende Elemente:

Tabelle 1 Ochsenfest 1933 Programmtage

Ulrich Mayer
Während des Festes selbst wurde in verschiedener Weise auf den Anschluss des Kreises Wetzlar an Nassau Bezug genommen. Ein Leitartikel der Redaktion des WA »Zum Gruß und Geleit« gab das Motto aus:

»Nassau heißt unsere Heimat, auch wenn die Feststadt an der Grenze ihres Raumes liegt und in der Vergangenheit der letzten 100 Jahre politisch zur Rheinprovinz gehörte«.

Aus dieser Einheit könne das Wetzlar Gebiet und seine Bevölkerung nicht herausgelöst werden. Neben dem angeblich Gemeinschaft verbürgenden Gesamtcharakter des Nassauer Bodens behauptete der Autor als besondere Eigenschaft der Nassauer das gegenseitige Verhältnis von Treue und Gefolgschaft zwischen Heimat und »wirklichen Führern«.

Danach erging er sich in einer langen Eloge über Adolf Hitler als Retter Deutschlands vor völkischem und staatlichem Zerfall. Neben den Feldherrenpersönlichkeiten Wilhelm von Nassau-Dillenburg, dem »Schweiger«, den Fürsten von Solms-Braunfels und Solms-Hohensolms sowie Peter Melander aus Holzappel, einem General des 30jährigen Kriegs, hob er – dem Fest entsprechend – die Bedeutung des Freiherrn vom und zum Stein als »Bauernbefreier« hervor[1]. Dieser Figur widmete sich im Ochsenfestzug auch ein Motivwagen mit der Nachbildung des damaligen neugotischen Stein-Denkmals unterhalb der Burg Nassau.

Motivwagen »Freiherr von und zu Stein« auf dem Festzug zum Ochsenfest 1933

Motivwagen Freiherr vom und zum Stein, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

[1] WA vom 15.07.1933.

Weitere Wagen kommentierten die fast noch aktuellen Veränderungen der territorialen Zugehörigkeit. Sie nahmen mit einem Bild des »deutschen Rheins« Abschied von der Rheinprovinz oder formulierten etwas schief: »Hat Nassau uns auch einverleibt, der rheinische Wein uns doch verbleibt« – nicht recht bedenkend, dass ja gerade die Weingegenden des Mittelrheintals und des Rheingaus zu Nassau gehörten.

Die Menge und die Art des Fahnenschmucks signalisierten, dass das diesjährige Fest nicht mehr vordringlich die lokale Integrationsfunktion für Stadt und Land hatte, sondern neu interpretiert wurde: überregional, politisch, nationalsozialistisch ausgerichtet. Der Festplatz war mit Girlanden und Lichterketten geschmückt und wie von einem Fahnengewoge überwölbt. Deutlich sind auf dem Foto (Abb. 5) zahlreiche Flaggen mit den alten nassauischen Farben Blau – Gelb zu erkennen, sozusagen als Reverenz für die neue verwaltungspolitische Zuordnung des Kreises Wetzlar, aber auch als Hinweis auf die Ablösung des lokalen Kontextes des Festes durch seine Einordnung in größere regionale Zusammenhänge und in eine NS-dominierte Festkultur, ja Weltsicht. Eine ähnliche Tendenz zeigte sich auch im Ochsenfestzug: Fahnen und Wimpel überall.

Die Fahnenschwinger der Bannergruppe des Turnvereins Wetzlar hantierten mit dem Hakenkreuzbanner, dem nationalen Schwarz-Weiß-Rot, den blau-gelben Farben Nassaus, dem Schwarz-Rot Wetzlars und der goldenen Ähre des Landbundes. Dem NS-Fahnenkult entsprechend, überwogen auf dem Festplatz und im Zug die schwarz-weiß-roten sowie die Hakenkreuzfahnen und – Wimpel.

1. Bild: Motivwagen Abschied von der Rheinprovinz, Foto: H. K. Lamm, © Bildersammlung Ulrich Mayer
2. Bild: Motivwagen Trost beim Abschied, Foto: H. K. Lamm, © Bildersammlung Ulrich Mayer
3. Bild:
Fahnenschwinger, Foto: H. K. Lamm, © Bildersammlung Ulrich Mayer

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Kapitel 8:
Verkehrspolitische Regelungen

Ulrich Mayer
Zu den Festtagen vom 15. bis 17. Juli war mit viel Zustrom aus dem Kreis, für die ersten beiden Tage auch mit Besuchern aus ganz Nassau zu rechnen. Dem sollte mit günstigen Verkehrsmöglichkeiten und mit dem Angebot eines geräumigen, verkehrstechnisch praktisch gelegenen Festplatzes Rechnung getragen werden.

Für den Anschluss aller Gemeinden des Kreises Wetzlar vermehrte die Kraftpost nicht nur die Fahrten auf den bestehenden Linien, sondern richtete auch Zusatzlinien in die Orte ein, die weder an einer Kraftpost – noch Bahnlinie lagen. Für die Orte, die mehr als 10 km von Wetzlar entfernt lagen, wurden Preisermäßigungen von bis zu einem Drittel der regulären Fahrkosten angeboten. Innerhalb der Stadt wurden mit Stadtbussen zwischen Bahnhof und dem Festplatzeingang an der Starken Weide Pendelfahrten eingerichtet.

Um die Verkehrssituation in diesem Bereich zu entlasten, wurde für die Festdauer die Braunfelser Straße in Richtung Braunfels über Steindorf bis nach Oberndorf zur Einbahnstraße erklärt. Entsprechend wurde der von Weilburg und Braunfels kommende Verkehr von Oberndorf aus über Burgsolms und Oberbiel und auf der ebenfalls zur Einbahnstraße erklärten Altenberger Straße in die Stadt Wetzlar geführt.

 

Ulrich Mayer
Nassauisches Eisenbahnnetz

Die Anreise aus den verschiedenen Regionen Nassaus war nicht schwer. Ein erstaunlich dichtes Netz von Eisenbahnlinien durchzog damals die Flusstäler von Rhein, Main, Lahn, Sieg und Dill sowie die Mittelgebirgsregionen Taunus, Westerwald und Hinterland.

Am Sonntag, dem Hauptfesttag, verkehrten alle Züge nach Werktagsfahrplan, auf den Nebenstrecken wurden zusätzliche Züge eingesetzt, die den Anschluss an die Sonderzüge auf den Hauptlinien

  • Koblenz – Limburg – Gießen,
  • Siegen – Gießen,
  • Frankfurt – Gießen – Marburg,
  • Westerburg – Limburg,
  • Limburg – Frankfurt

sicherstellten. Für einen Umkreis von 150 km um Wetzlar wurden Sonntagskarten von allen Stationen aus mit einem Preisnachlass von 33% ausgegeben.

Das engmaschige Eisenbahnnetz rund um Wetzlar finden Sie im nachfolgenden Aufklappfeld

Die Organisatoren rechneten für:

Tabelle 2 Statistik Ochsenfest 1933 Tage und TN soll

Im Endeffekt betrugen die Besucherzahlen:

Tabelle 3 Statistik Ochsenfest 1933 Tage und TN ist[1]

[1] WA vom 17. und 18.07.1933.

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Regierungsbezirk Wiesbaden

Frankfurt/M

Wiesbaden

Rüdesheim

Diez
Limburg
Siegen
Biedenkopf
Marburg
Gießen
Friedberg
Usingen

Montabaur
Westerburg
Weilburg
Wetzlar

0
30
km
20
10

Quelle: Zeichnung von Ulrich Mayer, als Vektorgrafik nachgezeichnet von Ernst Richter @ Wetzlar erinnert e.V.

Die aufgeführten Städte waren die Kreisstädte im Regierungsbezirk Wiesbaden

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Kapitel 9:
Akteure und ihre Rollen

Ulrich Mayer
Bis 1914 wurde das Ochsenfest vom Landwirtschaftlichen Verein ausgerichtet, nach der Wiederbelebung des Festes seit 1924 gemeinsam mit der Kreisbauernschaft. Damit ist die Doppelstruktur des bäuerlichen Vereinswesens im Kreis Wetzlar angesprochen.

Einerseits gab es den aus obrigkeitlicher Sicht begründeten traditionellen Landwirtschaftlichen Verein. Verbandsrechtlich war er eine Lokalabteilung des 1839 gegründeten Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen, den Bereich der preußischen Rheinprovinz[1]. Die Verflechtung zwischen Verein und der staatlichen Bürokratie dokumentierte sich darin, dass die jeweils amtierenden königlich-preußischen Landräte automatisch zu Vereinsvorsitzenden gewählt wurden. Von 1900-1929 war dies Landrat Geheimrat Dr. Wilhelm Sartorius, der als allerseits geschätzter preußischer Beamter über die politischen Veränderungen der Revolution von 1918 hinweg auch unter dem neuen sozialdemokratischen Innenminister des republikanischen Landes Preußen sein Amt ausübte[2].

Doppelstruktur von Landwirtschaftlichen Verbände Ochsenfest 1933

Landwirtschaftliche Verbände im Kreis Wetzlar, Grafik: U. Mayer

[1] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24.  Spiess, Diether: Wetzlar – Stadt und Land 1945/46. Ende und Neubeginn, Gießen 1984. Rossmann, Wittich: Panzerrohre zu Pflugscharen. Zwangsarbeit, Wiederaufbau, Sozialisierung. Wetzlar 1939 – 1956, Marburg 1987. Klonek, Dietmar: Dokumentation über die Vertreibung, Aufnahme und Eingliederung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge im Lahn-Dill-Kreis, Dillenburg u. a. 1988. Wiedemann, Andreas: Wetzlar von 1945-1949, in: MWGV 33 (1988), S. 89 – 273. Schmidt, Hartmut: Die fünfziger Jahre in Wetzlar. Eine Ausstellung des Heimatvereins Garbenheim e.V., Wetzlar 1993. Jung, Irene: Schwere Zeiten in Wetzlar: 1939-1949. Eine Ausstellung des Historischen Archivs der Stadt aus Anlass des 50. Jahrestages des Einmarschs der Amerikaner am 29. März 1945, Wetzlar 1995. Porezag, Karsten und Spiess, Diether: Wetzlar 1945. Kriegsende und Neubeginn im Altkreis Wetzlar. Dokumentation, Wetzlar 1996. Giel, Rüdiger: Die Stadt Wetzlar und ihre Industrie als Zielgebiet alliierter Spezialisten im Jahr 1945, in Nassauische Annalen 115 (2004), S. 461-490. Döhn, Heike: „Hier sollt ihr nun zu Hause sein“. Flucht und Vertreibung nach Mittelhessen, Wetzlar 2005. Göbel, Ingeborg: Das verstehst du noch nicht. Erlebnisse eines Schulmädchens aus der Zeit von 1937 bis1945, Wetzlar 2008. Jung, Irene: Wetzlar – 60 Jahre in Hessen. Streiflichter durch die Stadtgeschichte seit 1945, Wetzlar 2006. Petersen, Christa Maria: Der Eiserne Heinrich – ein Kind erzählt vom Zweiten Weltkrieg, Garbenheim 2012. Lindenthal, Bernd: Lotte Arnt. Sieben Jahre Java- Frau, in: MWGV 49 (2018), S. 377 – 434.

[2] Hahn, Hans-Werner: Reichsstädtisches Freiheitsbewusstsein und preußischer Obrigkeitsstaat. Wetzlar unter königlich-preußischer Herrschaft., in: MWGV 48 (2016), S. 178.

 

Neben dem Verein existierte nach Kriegsende als berufsständischer Zusammenschluss der hiesigen Landwirte die am 30. März 1919 gegründete »Bauernschaft des Kreises Wetzlar«. Sie gehörte zum geografisch näher gelegenen Nassauischen Landbund, einem Provinzialverband des mächtigen Interessenverbandes Reichslandbund. Dieser war seinerzeit ein besonders robustes und einflussreiches Instrument zur Durchsetzung der agrarischen Interessen. Er verband einen nationalistischen und antidemokratischen Kurs mit Ablehnung der Weimarer Republik.

Mitbegründer und seit 1928 Vorsitzender der Kreisbauernschaft war der Wetzlarer Landwirt und Gastwirt des traditionsreichen Gasthofs »Alte Post«, Georg Allmenröder[1]. Hauptgeschäftsführer des Kreisverbandes war seit 1923 der 1898 in Gießen geborene Diplomlandwirt Wolfgang Dornberger. Nach einem Volontariat auf einem Rittergut in Thüringen hatte er als Artillerist an der Endphase des Ersten Weltkrieges teilgenommen und anschließend Landwirtschaft an der Universität Gießen studiert. Seine nationalistische politische Einstellung hatte er früh durch die Mitgliedschaft in einem Freikorps dokumentiert, das im Januar 1919 in Berlin an der Niederschlagung des so genannten Spartakusaufstandes beteiligt war[2].

[1] WA vom 15.07.1933.

[2] WA vom 15.07.1933.

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Kapitel 10:
Lokale »Revolution von rechts«

Ulrich Mayer
Als Landrat Dr. Sartorius zum 1. April 1929 in den Ruhestand trat, ergab sich für den Landwirtschaftlichen Verein eine Situation, die in der offiziellen Vereinsgeschichte vage und verschleiernd mit »Schwierigkeiten« umschrieben wird [1]. Es ging um einen revolutionären Bruch mit einer bisher nie infrage gestellten Tradition. Erstmals wählte der Verein den nächsten Landrat nicht auch zu seinem nächsten Vorsitzenden. Diese betont politische Entscheidung stand infolge inhaltlicher und personaler Verknüpfungen zwischen Verbänden und Parteien im agrarischen Milieu des Kreises in engem Zusammenhang mit den parteipolitischen Auseinandersetzungen um die Bestellung eines Landratsnachfolgers.

Die Geschehnisse um die Auswahl des neuen Landrats enthielten durchaus so etwas wie den lokalen Hauch der damals verbreiteten Vorstellungen und Zielsetzungen einer »Revolution von rechts«. Dies war eine Denkrichtung der antidemokratischen Rechten[2], welche die »Resultate der Revolution und die darauf gegründete Machtverteilung« revidieren wollte[3]. Man wollte zumindest im lokalen Zuständigkeitsbereich nach Kräften die demokratisch-revolutionäre Entwicklung aufhalten oder abschwächen.

[1] Schütz, Hermann: Der Landwirtschaftliche Verein nach der Wiedergründung im Jahre 1949, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S. 230.

[2] Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1968.

[3] Flemming, Jens: Revolution, in: Asendorf, Manfred u. a.: Geschichte. Lexikon der wissenschaftlichen Begriffe, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 554.

 

Ulrich Mayer
Preußischer Innenminister war von 1926 bis 1930 Alfred Grzesinski (1879–1947), einer der hervorragendsten sozialdemokratischen Staatsfunktionäre in der Weimarer Republik[1], der sich im Sinne seines Vorgängers Carl Severing (1875-1952, Innenminister; 1920-1926 und 1930-1932) um die Demokratisierung von Verwaltung und Polizei sowie den Schutz der Republik bemühte und im Verein mit Otto Braun (1872–1955, Preußischer Ministerpräsident 1920–1932) dazu beitrug, aus dem ehemaligen Hohenzollernstaat für einige Zeit ein Bollwerk der Weimarer Demokratie zu machen[2]. Zu diesem Zwecke forcierte Grzesinski die Ernennung von erfahrenen und zuverlässigen republikanischen Verwaltungsfachleuten, vor allem aus dem gewerkschaftlichen und dem SPD-Partei-Apparat, zu Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Polizeipräsidenten und Landräten.

Albert-Grzesinski (Bild 1926) Sozialdemokrat und Gewerkschaftsfunktionär war Innenminister des Freistaates Preußen bis 1933

Albert Grzesinski (1926) © Bundesarchiv

[1] Bahne, Siegfried: Grzesinski, Albert, in: Neue Deutsche Biographie 7, Berlin 1966, S. 240 f. Neuestens: Krause-Vilmar, Dietfrid (Hrsg.): Albert Grzesinski. Politische Reden 1919-1933, Stuttgart 2022, Weimarer Schriften zur Republik, Bd.21, S.19.

[2] Winkler, Heinrich August: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Sonderausgabe Bonn 2000, S. 413.

Ulrich Mayer
Eine solche Ministerentscheidung befürchteten auch die Vertreter der bürgerlichen und agrarischen Rechten im Wetzlarer Kreistag. Dieser setzte sich aus elf Abgeordneten der SPD, einem der KPD, einem des Zentrums, zwei der DDP und zwölf der »Arbeitsgemeinschaft für Stadt und Land« zusammen, in der DNVP, DVP, Kreisbauernschaft und Kreishandwerkerschaft vertreten waren[1].

Bereits im Vorfeld des förmlichen Verfahrens formulierten die 13 Abgeordneten der Arbeitsgemeinschaft und des Zentrums in einer Eingabe vom 17. Januar 1929 gleichsam die vorwegnehmende Ablehnung einer zu erwartenden Entscheidung des Ministeriums. Mithilfe soziologischer Statistiken stellten sie die landwirtschaftlich-kleinbäuerliche Struktur der Kreisbevölkerung dar und forderten ein

»tüchtigen, fachlich geschulten Verwaltungsbeamten bürgerlicher Weltanschauung«,

der gerade als Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Vereins besonders kompetent die kleinbäuerlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe[2]. Am 20.02.1929 schlug der zuständige Referent dem Preußischen Innenminister den SPD-Bezirksparteisekretär Konrad Miß aus Köln als Nachfolger vor. Als drei Tage später Abgeordnete des Preußischen Landtags dem Minister im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft die Eingabe vom 17. Januar überreichten und zusätzlich erläutern wollte, erfuhren sie eine strikte Ablehnung: Die Entscheidung für die kommissarische Besetzung der Stelle mit Konrad Miß sei bereits gefallen.

Dieser Kandidat war von Herkunft, Werdegang und politischem Profil das Gegenbild dessen, was die Arbeitsgemeinschaft von einem Landrat erwartete und für Wetzlar wünschte. Miß war am 30. Oktober 1880 in Mönchengladbach in die Familie eines Fabrikarbeiters geboren, erlernte nach der Volksschule das Müllerhandwerk, fuhr einige Jahre zur See, schlug 1905 eine Funktionärslaufbahn im gewerkschaftlichen Seemannsverband ein, wurde 1910 Parteisekretär der SPD in Mülheim an der Ruhr, diente von 1915 bis 1917 bei der Kriegsmarine und avancierte 1919 zum Bezirkssekretär der SPD für den Bezirk Obere Rheinprovinz in Köln.

[1] Bäuerliche Vertreter der DNVP hatten sich inzwischen der 1928 gegründeten bäuerlichen Partei Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei (CNBLVP) angeschlossen.

[2] Einsicht in die Akte Miß, Geheimes Staatsarchiv Berlin, Rep. 77 I, Nr. 5674 verdanke ich Herrn Professor Dr. Hans- Werner Hahn, Aßlar- Berghausen.

Von Prof. Dr. Ulrich Mayer
Die Arbeitsgemeinschaft wollte sich mit der Entscheidung für Miß nicht abfinden, setzte alles daran, die Besetzung des Postens durch einen Sozialdemokraten zu vermeiden und erhöhte ihren Druck durch eine weitere Eingabe vom 4. März 1929, diesmal direkt an den Ministerpräsidenten Otto Braun. Dies war nach Kategorien der Verwaltungshierarchie gedacht, aber nicht unbedingt politisch klug. Warum sollte der Ministerpräsident seinem Innenminister in die Parade fahren, der doch seine Ziele zur Demokratisierung der hohen Bürokratie teilte? Die Arbeitsgemeinschaft führte eine ganze Reihe von Argumenten auf. Neben der Wiederholung der ländlichen Sozialstruktur des Kreises ging es um die politischen Mehrheitsverhältnisse bei den Wahlen der letzten Jahre.

Da generell nicht SPD und KPD das Übergewicht hätten, sondern das bürgerliche Lager, könne, so wurde nun offen gesagt,

»nach demokratischer Auffassung ein sozialdemokratischer Landrat gar nicht infrage kommen«.

Erweitert wurde die Palette der Argumente um die Frage der Konfessionszugehörigkeit. Es sei eine

»ganz selbstverständliche Voraussetzung«, dass »nur ein ganz bewusst evangelischer und kirchlich eingestellter Landrat«

dem starken evangelisch-kirchlichen Gemeindeleben im Kreis gerecht werden könne. Insbesondere diesem Kriterium entsprach der ehemals katholische Dissident Miß nicht.

Ulrich Mayer
Gegen alle Vorbehalte des bürgerlichen Lagers wurde Miß am 2. April 1929 mit der Verwaltung des Amtes betraut. Während der Tätigkeit als kommissarischer Landrat konnte er durch seine konziliante, in religiösen Fragen tolerante Art und die sachliche, ruhige, unparteiische, kooperative Amtsführung in weiten Kreisen, bis in die bürgerliche Bevölkerung hinein, Ansehen und Anerkennung gewinnen. Der von Miß eingebrachte Kreishaushalt wurde auch mit den Stimmen der DDP- Fraktion und von Abgeordneten der DVP aus der Arbeitsgemeinschaft gebilligt. Der Zentrumsabgeordnete, der von Kölner Parteifreunden zudem eine positive Beurteilung über Miß erhalten hatte, scherte aus der bürgerlichen Front aus.

Der Kreistag lehnte am 9. August 1929 mit 14 Stimmen von AG und DDP gegen 13 von SPD, KPD, Z den Vorschlag des Kreisausschusses ab, Miß zur endgültigen Ernennung vorzuschlagen. Die Arbeitsgemeinschaft opponierte nicht aus fachlichen oder persönlichen Erwägungen, sondern aus rein ideologischer Ablehnung eines Sozialdemokraten. Sie blieb, auch unter Anwendung des Fraktionszwangs, unnachgiebig, konnte dem Preußischen Minister des Inneren allerdings selbst keinen personellen Gegenvorschlag unterbreiten. Ausdeutungsfähig war die Erklärung der DDP-Fraktion, welche die Ablehnung der Arbeitsgemeinschaft begrüßte, ohne sich diese »im Wortlaut zu eigen zu machen«. Nach Vorlage eines abwägenden Berichtes des Koblenzer Regierungsvizepräsidenten vom 13. August 1929 ernannte das preußische Kabinett auf Vorschlag des Innenministers am 10. September Konrad Miß endgültig zum Landrat.

Ulrich Mayer
Die Arbeitsgemeinschaft im Kreistag freilich fühlte sich »von oben« von der sozialdemokratischen Landesregierung »vergewaltigt«[1]. Die Fronde gegen Berlin in der Frage des Landratsamtes war gescheitert, aber auf einem anderen Felde konnte es das bürgerliche Lager den Sozialdemokraten heimzahlen. Der Landwirtschaftliche Verein wählte 1930 nicht den neuen Landrat, sondern den Vorsitzenden der Kreisbauernschaft Georg Allmenröder, der selbst Abgeordneter der Arbeitsgemeinschaft im Kreistag war, auch zum Vorsitzenden des Landwirtschaftlichen Vereins. Allmenröder vereinte nun in seiner Person die Leitung der beiden landwirtschaftlichen Organisationen im Kreis und organisierte in dieser Funktion zusammen mit Wolfgang Dornberger das Ochsenfest 1930 und das Doppelfest von 1933[2].

Hierbei ist auf die offensichtlich einflussreiche Rolle des Hauptgeschäftsführers hinzuweisen: Dornberger verfasste die Geleitworte aller Festschriften für die Feste der Jahre 1927 bis 1933 und war damit Wortführer der Gemeinschafts- und Integrationsideologie dieser Jahre. Zusätzlich agierte er ein Jahrzehnt lang als eigentlicher Motor der Festorganisation. Den jeweiligen Festschriften zufolge war er Mitglied in allen Ausschüssen und Kommissionen aller Ochsenfeste und damit wichtigster Funktionsträger der Jahre 1924 bis 1933.

Alles in allem war Dornberger Garant für den kontinuierlichen Einfluss der Kreisbauernschaft und damit des Interessenverbandes Reichslandbund auf das große regionale Landwirtschaftsfest.

[1] Gündisch,Dieter: Arbeiterbewegung und Bürgertum in Wetzlar 1918-1933. Ein Beitrag zur politischen Geschichte »von unten«, Wetzlar 1992, S. 238. Gündisch spricht fälschlich von der »bürgerlichen Mehrheit«.

[2] WA vom 15.07.1933.

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Kapitel 11:
Die Rolle des Landbunds

Ulrich Mayer
Die Führung des RLB verfolgte generell einen rechtsgerichteten, nationalistischen, antidemokratischen Kurs und lehnte die Weimarer Republik ab. Parteipolitisch stand sie vor allem der republikfeindlichen DNVP und der rechtsliberalen DVP nahe und übte politischen Einfluss insbesondere durch personelle Verflechtungen mit diesen Parteien aus. So war Hepp 1920-1928 Reichstagsabgeordneter der DVP, danach bis 1932 der 1928 gegründeten neuen Christlich-Nationalen Bauern-und Landvolkpartei[1].

Seit 1920 hielt der Nassauische Landbund seine jährlichen Hauptversammlungen in wechselnden Städten des Regierungsbezirks Wiesbaden als Nassauische Bauerntage ab, so etwa erstmals in Weilburg, 1926 in Herborn, 1930 in Frankfurt-Unterliederbach, 1932 in Hachenburg im Westerwald. Bestandteil der Feste waren auch bunte volkstümliche Festzüge mit Kostüm- und Trachtengruppen, bäuerlicher Folklore und Musikkapellen[2]. Inhaltlich waren sie, da der Landbund in Fundamentalgegnerschaft zum Weimarer Staat stand, jährliche oppositionelle Kundgebungen gegen die Agrarpolitik der jeweiligen Reichsregierung und gegen die Republik insgesamt.

[1] Vgl. hierzu den 1. Absatz im nächsten Aufklappfeld.

[2] Geschichtsverein Herborn (Hrsg.): Herborn: Historische Stadtansichten, Herborn 2009, S. 250 f.

Ulrich Mayer
Unter den meist konfessionell ausgerichteten Bauernvereinigungen der Weimarer Republik war der Reichslandbund (RLB) mit einer ausgeprägten Organisationsstruktur von etwa 500 Kreisverbänden der größte und einflussreichste landwirtschaftliche Interessenverband seiner Zeit. Er entstand 1921 durch den Zusammenschluss der beiden protestantisch, nationalkonservativ und monarchistisch ausgerichteten Verbände »Bund der Landwirte« (BdL) und »Deutscher Landbund«. Die meisten Mitglieder waren Kleinbauern, die Führungsgremien wurden allerdings von den ostelbischen Großgrundbesitzern dominiert. In der Tradition des BdL[1]forderte der RLB in seinem Programm eine agrarprotektionistische Zoll-und Handelspolitik, Herauslösung der Landwirtschaft aus dem marktwirtschaftlichen System durch möglichst weit reichende Subventionierung und steuerpolitische Entlastung, den Schutz der landwirtschaftlichen Betriebe vor Überschuldung und die Betonung einer herausragenden gesellschaftlichen Rolle des »Bauernstandes«[2].

Der RLB war streng regional in mehr als 30 Landes- bzw. Bezirks- oder Provinzialverbände gegliedert. Für den Bereich des heutigen Bundeslandes Hessen waren dies Hessischer Landbund (Volksstaat Hessen), Kurhessischer Landbund (Regierungsbezirk Kassel), Waldeckischer Landbund (Fürstentum Waldeck 1929 offiziell endgültig zum Regierungsbezirk Kassel), Nassauischer Landbund (Regierungsbezirk Wiesbaden und Kreis Wetzlar). Vorsitzender des Nassauischen Landbundes war der aus Seelbach (heute Ortsteil von Villmar an der Lahn) stammende Karl Hepp (1889-1970). Er war 1928-1933 zugleich Präsident der Landwirtschaftskammer Wiesbaden und 1921-1930 Mitpräsident des Reichslandbundes[3].

[1] Flemming, Jens: Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890-1925, Bonn 1978.

[2] Münkel, Daniela: Bäuerliche Interessen versus NS -Ideologie. Das Reichserbhofgesetz in der Praxis, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), H. 4, S. 552.

[3] Kuhnigk, Armin Matthäus: Villmar -Geschichte und Gestalt einer hessen-nassauischen Großgemeinde, 2. Aufl., Villmar 2000, S. 143.

 

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Kapitel 12:
Parteipolitisches Zwischenspiel

Ulrich Mayer
Die Landwirte des Kreises Wetzlar waren berufsständisch im Reichslandbund organisiert. Parteipolitisch waren sie traditionell deutschnational oder rechtsliberalen eingestellt. Bei der Reichstagswahl vom 7. Dezember 1924 erhielten die DNVP 18,5% und die DVP 20,9% der abgegebenen Stimmen im Kreisgebiet (ohne Stadt Wetzlar)[1]. Diese Ausrichtung der bäuerlichen Wähler veränderte sich binnen weniger Jahre.

Nach heftigem innerparteilichem Streit in der Führung der DNVP Mitte der 1920er Jahre setzte sich zeitweilig ein gemäßigter Flügel durch, der die radikale Republikfeindlichkeit ablegte und sich um eine Regierungsbeteiligung im Reich bemühte. Von Januar bis Oktober 1925 kam die erste Reichsregierung eines Bürgerblocks mit deutschnationaler Beteiligung unter dem parteilosen Kanzler Hans Luther zustande[2]. Dass dabei führende Mitglieder des RLB über die DNVP Ministerposten im Reichskabinett erhielten, stieß in der Verbandbasis auf Ablehnung und veranlasste vor allem viele Kleinbauern zum Austritt aus dem RLB.

Zudem waren zahlreiche Landbundfunktionäre seit Mitte des Jahrzehnts mit der Agrarpolitik der Führungsgremien von DNVP und DVP unzufrieden. Landbundführer, unter ihnen der Nassauer Karl Hepp (DVP), gründeten Anfang 1928 eine rein bäuerliche Partei namens »Christlich-Nationale Bauern – und Landvolkpartei« (CNBLP). Diese wollte im Gegensatz zu den Deutschnationalen, wo die ostelbischen Großgrundbesitzer den Ton angaben und die agrarpolitische Richtung bestimmten, die Interessen der kleinen und mittleren Bauern vertreten.

Ideologisch verblieb sie eine nationalkonservative, antisozialistische, prinzipiell antiparlamentarische und antidemokratische Interessenpartei[3]. Sie verstand sich als »Sammlung aller Landbewohner« und propagierte die »Loslösung von marxistischen Ideen«. Allein eine »entschiedene nationale Politik«, die sich auf »deutsche Kultur«, die »Liebe zur Scholle«, die Familie und die christliche Weltanschauung stütze, könne die deutsche Landwirtschaft dazu befähigen eine autarke Versorgung des deutschen Volkes zu sichern. »Klipp und klar gehören wir Bauern und das gesamte Landvolk nach rechts«[4].

[1] Falter, Jürgen W. und Mühlberger, Detlef: Die Anatomie einer Volkspartei: Eine Soziographie der NSDAP – Mitgliederschaft in Stadt und Kreis Wetzlar, 1925-1935, in: MWGV 47 (2015), S.157.

[2] Winkler, Heinrich August: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Sonderausgabe Bonn 2000, S. 455.

[3] Müller, Markus: Die Christlich-Nationale Bauern- und Landvolk Partei 1928-1932, Düsseldorf 2001.

[4] Zusammenfassend Hennig, Eike: »Der Hunger naht« – »Mittelstand weh Dich« – »Wir Bauern misten aus«, in: Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 397.

 

Ulrich Mayer
Diese Botschaft fand vor allem in ländlichen Bezirken Mittel-und Südwestdeutschlands, auch gerade im Hessischen, Anklang. Am 11. April 1928 gab es in Gießen eine große Bauernkundgebung, am 18. April erfolgte in Wetzlar die Aufstellung einer Kandidatenliste für die anstehende Reichstagswahlen und am 29. April die Gründung einer Kreisgruppe der Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei (CNBLP), allesamt unter Leitung des RLB- Vorsitzenden Karl Hepp[1].

Die DNVP-Mitglieder der Fraktion »Arbeitsgemeinschaft für Stadt und Land« des Wetzlarer Kreistags traten zur neuen Partei über, darunter der Vorsitzende des Kreisbauernvereins, Pfarrer Adolf Bausch aus Kölschhausen, Vorstandsmitglied Karl Droß aus Katzenfurt und Lehrer Fritz Gaß aus Dutenhofen. Gaß, ursprünglich Mitglied der DDP, der das Spektrum »aller möglichen rechten Gruppen«[2] bis zum äußersten rechten Rand durchlaufen sollte, wurde Kreisvorsitzender, Brunnenbesitzer Karl Broll aus Biskirchen sein Stellvertreter, die Landwirte Wilhelm Langsdorf aus Großrechtenbach und Georg Welsch aus Hohensolms wurden weitere Vorstandsmitglieder der Partei im Kreis Wetzlar[3].

[1] Busch, Heinz: Wetzlar, Aßlar und Ehringshausen – drei Kommunen an der unteren Dill zwischen 1918 und 1933, Wetzlar 1991, S. 229.

[2] Busch, Heinz: Wetzlar, Aßlar und Ehringshausen – drei Kommunen an der unteren Dill zwischen 1918 und 1933, Wetzlar 1991, S. 139.

[3] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 60.

Ulrich Mayer
Die neue Kraft, politische Organisation der landwirtschaftlichen populistischen Protestorientierung[1], kam im ganzen Reich gut an. Sie erhielt bei der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 auf Anhieb bei einem Anteil von fast 3% der Stimmen zehn Reichstagsmandate[2]. In der Provinz Hessen-Nassau erzielte sie mit 7,6% einen guten Zuspruch, im stärker agrarisch geprägten Volksstaat Hessen mit 13,4% einen noch größeren Erfolg[3]. Der Zulauf zur CNBLP erfolgte eindeutig auf Kosten der etablierten bürgerlichen Rechtsparteien.

Im Regierungsbezirk Wiesbaden ging der Stimmenanteil der DNVP zwischen 1924 und 1928 von 15,4% auf 6,9%, derjenige der DVP von 13,1% auf 10,3% zurück[4]. Als geradezu sensationell kann man den Einstieg der CNBLP im Kreis Wetzlar nennen, der die »Wahlgeometrie im Kreis grundlegend veränderte«[5] Hatten DNVP und DVP 1924 gemeinsam fast 40% der Stimmen erhalten, so waren es bei der Wahl 1928 nur noch 15% (DNVP 9,2%, DVP 5,8%). Die CNBLP wurde mit 31,5% die beherrschende Mittelstandspartei und zweitstärkste Kraft im Landkreis hinter der SPD mit 41,4%.

[1] Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 400.

[2] Winkler, Heinrich August: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Sonderausgabe Bonn 2000, S. 475 f.

[3] Schönekäs, Klaus: Hinweise auf die soziopolitische Verfassung Hessens in der Weimarer Republik, in: Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 58.

[4] Kropat, Wolf- Arno: Die nationalsozialistische Machtergreifung in Wiesbaden und Nassau, in: Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 265.

[5] Falter, Jürgen W. und Mühlberger, Detlef: Die Anatomie einer Volkspartei: Eine Soziographie der NSDAP – Mitgliederschaft in Stadt und Kreis Wetzlar, 1925-1935, in: MWGV 47 (2015), S. 157.

Ulrich Mayer
Eine weitere Protestpartei, die NSDAP, konnte 1928 im Kreis mit absolut 246 Stimmen nur 1,1% der Wähler für sich gewinnen[1]. Dieses schlechte Ergebnis der NSDAP war keine Einzelerscheinung. Bei der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 erhielt die Partei reichsweit 2,6% der Stimmen, in überwiegend landwirtschaftlich geprägten Wahlkreisen wie Ostpreußen, Pommern, Ost-Hannover jedoch lag der Stimmenanteil unter dem Reichsdurchschnitt, im Volksstaat Hessen betrug er 1,9%[2]. Das lag am prinzipiellen Verhältnis zwischen Partei und Bauernschaft:

»Die NSDAP war in ihren Anfängen für ländliche Bevölkerungskreise eher abstoßend als anziehend«[3].

Sie war im städtisch orientierten Milieu von Arbeiterschaft und Kleinbürgertum entstanden. Bauern wurden abgeschreckt durch die Forderung in Punkt 17 des NS-Parteiprogramms von 1920 nach einer »den nationalen Bedürfnissen angepassten Bodenreform« sowie »Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke«[4]. Befeuert wurden die bäuerlichen Bedenken und Ängste durch propagandistische Zuspitzungen von Landbundfunktionären, die NSDAP wolle Grund und Boden enteignen[5].

Derartige Behauptungen wies die NS- Parteileitung als böswillige Unterstellung, gehässige Missdeutung und verlogene Auslegung zurück. Rechtmäßig erworbenes Eigentum solle keinesfalls enteignet werden. Unentgeltliche Enteignung gelte nur für Boden, der auf unrechtmäßige Weise erworben sei oder nicht nach Grundsätzen des Volkswohls verwaltet werde. Das richte sich selbstredend »in erster Linie gegen die jüdischen Grundspekulationsgesellschaften«[6]. Diese Erklärung vom 13. April 1928 wirkte sich allerdings noch nicht auf das bäuerliche Abstimmungsverhalten bei der anstehenden Reichstagswahl aus.

SA auf der alten Lahnbrücke 1932

SA auf der Alten Lahnbrücke in Wetzlar 1932

[1] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 105.

[2] Schönekäs, Klaus: Hinweise auf die soziopolitische Verfassung Hessens in der Weimarer Republik, in: Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 56-58.

[3] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 341.

[4] Programm der NSDAP von 1925, in: Hofer, Walther (Hrsg.): Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Durchgesehene Aufl., Frankfurt a.M. 1960, S. 29.

[5] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 341.

[6] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 341.

Ulrich Mayer
Infolge der allgemeinen Agrarkrise der späten 1920 er Jahre trafen wirtschaftliche Depression und materielle Not die heimische Landbevölkerung. Seit 1929 häuften sich Berichte und Anzeigen über Zwangsverkäufe und Zwangsversteigerungen vor allem in den rein agrarischen Dörfern im Norden und Südosten des Kreises Wetzlar Die zunehmende wirtschaftliche Notlage der Landwirtschaft im Kreis führte allmählich zu einer Radikalisierung auch der hiesigen Bauernschaft[1]. Mit ihrem plötzlichen Erfolg 1928 hatte die CNBLP, die seit 1930 als »Deutsches Landvolk« firmierte, auch schon ihren Zenit erreicht.

Die nächste Reichstagswahl am 14. September 1930 brachte der NSDAP einen spektakulären reichsweiten Gewinn von 18,3% der Stimmen und 107 Mandate im Reichstag. Im Landkreis Wetzlar blieb das Landvolk als Hauptvertreter bäuerlicher Interessen mit 19,3% noch immer die zweitstärkste Partei hinter der SPD mit 37% und vor der NSDAP mit 15,7%[2]. Salopp gesagt, waren die Wetzlarer Landwirte keine Nazis der ersten Stunde. Das kippte erst bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932. Die NSDAP erreichte im Kreis 51,5%, das Landvolk nur noch 0,3%[3] Wie konnte es geschehen, dass die Integrationskraft der bäuerlichen Interessenpartei so schnell »aufgezehrt«[4] wurde?

[1] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 59. Falter, Jürgen W. und Mühlberger, Detlef: Die Anatomie einer Volkspartei: Eine Soziographie der NSDAP – Mitgliederschaft in Stadt und Kreis Wetzlar, 1925-1935, in: MWGV 47 (2015), S. 157.

[2] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 105.

[3] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 105.

[4] Hennig, Eike: „Der Hunger naht“ – „Mittelstand weh Dich“ – „Wir Bauern misten aus“, in: Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 400.

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Kapitel 13:
Neuer Mitspieler • neue Dramaturgie • neues Motto

Ulrich Mayer
Im Sommer 1930 kam ein neuer Akteur ins Spiel, der »agrarpolitische Apparat« der NSDAP, der für die nächsten drei Jahre die landwirtschaftlichen Verhältnisse reichsweit und lokal bis zur Gestaltung von Bauerntag und Ochsenfest 1933 mitbestimmen sollte.

Nach dem enttäuschenden Wahlausgang von 1928 ging die Nazipartei auf »Bauernfang«[1]. Aus wahltaktischen Gründen wandte man sich der Landbevölkerung zu, um hier ein bisher nicht beachtetes Wählerreservoir zu erschließen. Erster Schritt war die Proklamation eines eigenen Agrarprogramms. Mitautor der »Parteiamtliche(n) Kundgebung über die Stellung der NSDAP zum Landvolk und zur Landwirtschaft« vom 6. März 1930[2] war der 30-jährige Diplomlandwirt Heinrich Himmler, seit 1923 Parteifunktionär, 1929 kurzfristig erfolgloser Betreiber einer Hühnerfarm, später »Reichsführer SS« [3].

Die Aussagen standen weitgehend im Einklang mit den traditionellen Forderungen des RLB:

  • Lösung der Landwirtschaft aus dem Markt,
  • Schaffung eines Erbrechts,
  • das ungeteilten bäuerlichen Besitz gewährleistete,
  • Gründung einer einheitlichen Bauernorganisation,
  • Verbot jüdischen Landbesitzes.[4].

Zugespitzt wurden sie durch rassenbiologische (»Hauptträger volklicher Erbgesundheit«), auf Autarkie zielende (»vom eigenen Grund und Boden ernähren«) und militärische (»Rückgrat der Wehrkraft«) Gesichtspunkte[5] sowie die imperialistische Perspektive: »Ernährungs- und Siedlungsraum im Großen für das wachsende deutsche Volk zu schaffen, ist Aufgabe der deutschen Außenpolitik«[6]. Die problematische »unentgeltliche Enteignung« tauchte nur noch im Zusammenhang von »unrechtmäßig erworbenem Boden« auf[7].

Argumentationsweise und Formulierung zielten darauf, den Bauern jeder Betriebsgröße das Gefühl zu vermitteln, nur die NSDAP nehme sich ihrer Probleme an und biete konkrete Lösungsmöglichkeiten. Die Veröffentlichung in allen NS-Publikationsorganen und als Flugblatt im Wahlkampf dürfte dazu beigetragen haben, dass die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 erstmals reichsweit in die Bauernschaft eindringen konnte und in den überwiegend ländlichen Wahlkreisen mit 22,6% sogar deutlich über dem Reichsdurchschnitt von 18,3% lag[8].

[1] Schober, Gerhard: Die nationalsozialistische Bauerngesetzgebung. Schwerpunkt: Das Reichserbhofgesetz von 1933, Magisterarbeit 2007, https://www.grin.com/document/167745, eingesehen am 24.11.2018.
[2] Feder, Gottfried (Hrsg.): Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken, 166.-169. Aufl., München 1935.
[3] Gies, Horst: R. Walther Darré und die nationalsozialistische Bauernpolitik in den Jahren 1930-1933, Diss. Frankfurt a. M. 1966, S. 32 ff.
[4] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4,  S. 341.
[5] Feder, Gottfried (Hrsg.): Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken, 166.-169. Aufl., München 1935, S. 10.
[6] Feder, Gottfried (Hrsg.): Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken, 166.-169. Aufl., München 1935, S. 12.
[7] Feder, Gottfried (Hrsg.): Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken, 166.-169. Aufl., München 1935, S. 13.
[8] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 543.

 

Ulrich Mayer
Über die bisherigen allgemeinen und vagen Programmpunkte hinaus wurde die Entwicklung einer eigenständigen NS- Agrarkonzeption und ihre Durchsetzung entscheidend durch den 1895 in Argentinien geborenen Richard Walther Darré geprägt. Darré besuchte seit 1905 Schulen in Deutschland und England, begann nach Schulabbruch 1914 in Witzenhausen eine Ausbildung zum Koloniallandwirt, nahm als Kriegsfreiwilliger 1914-1918 am Krieg teil, setzte danach sein Studium in Witzenhausen bis zum Diplom 1920 fort und schloss ein Landwirtschaftsstudium mit Schwerpunkt Genetik der Tierzucht an den Universitäten Gießen und Halle an. Nach Studienabschluss als Diplomlandwirt 1925 beschäftigte er sich in kurzfristigen Anstellungen in Ostpreußen, Finnland und den baltischen Staaten weiterhin mit der Vererbungslehre von landwirtschaftlichen Nutztieren[1].

Aufgrund eigener Erfahrungen in der Tierzucht und unter dem Einfluss rassenbiologischer Vorstellungen des radikal-völkischen Siedlerbundes »Artamanen«[2] – in dem er die Bekanntschaft Heinrich Himmlers machte – und der Theorien des Rassenideologen Hans F. K. Günther[3] verfasste er zwei programmatische Bücher zur Verherrlichung des Bauerntums.

In »Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse« von 1929 versuchte er den Ursprung der germanischen Besiedlung Deutschlands aus einem rassisch einheitlichen ansässigen Bauernturm nachzuweisen. In »Neuadel aus Blut und Boden« von 1930 forderte er eine neue Verbäuerlichung Deutschlands durch Auslese eines Bauernadels als biologischer Kern eines gesunden Volkes mit besten rassischen Eigenschaften. Dabei übertrug er das Muster der Tierzucht umstandslos auf die Menschen. Darré war nicht Erfinder, aber lautstärkster Propagandist der Blut- und Boden -Ideologie, die die Einheit eines rassisch »reinen« Volkskörpers mit seinem Siedlungsgebiet postulierte[4].

[1] Reichle, Hermann: Reichsbauernführer Darré, der Kämpfer um Blut und Boden. Eine Lebensbeschreibung, Berlin 1933. Haushofer, Heinz: Darré, Walter, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 517.
[2] Bergmann, Klaus: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim 1970. Brauckmann, Stefan: Artamanen als völkisch- nationalistische Gruppierung innerhalb der deutschen Jugendbewegung 1924-1935, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, NF Bd. 2/05, Schwalbach/Ts. 2006.
[3] Günther, Hans F. K.: Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1922.
[4] »Blut und Boden« hieß auch eine Artamanen-Zeitschrift. Schon vor Darré tauchte das Begriffspaar auf bei: Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes 1922. Wundt, Max: Was heißt völkisch? 1924.Winnig, August: Befreiung 1926. Ders.: Das Reich als Republik 1928. Titel des Verlagsprogramms 1927/28 des Verlags Eugen Diederichs, Jena.

Ulrich Mayer
Seit 1929 versuchte Darré, der durch seine Bücher in völkisch nationalistischen Kreisen bekannt wurde, eine rassenideologisch orientierte Agrarorganisation für die NS- Bewegung aufzubauen. Im Mai 1930 vermittelten Freunde Darrés eine Begegnung mit Hitler und dessen Stellvertreter Heß. Hier gelang es dem damals noch parteilosen Darré, ab 1. Juni als Agrarexperte der NSDAP eingestellt zu werden mit dem Auftrag, ab 1. August eine agrarpolitische Abteilung bei der Reichsleitung der Partei in München aufzubauen[1]. Erst im Juli trat er der NSDAP und der SS bei.

Bereits am 15. August 1930 erhielt Hitler von Darré das geheim gehaltene Exposé einer expliziten politisch- ideologischen Konzeption. Statt pragmatischer berufsständischer Forderungen kamen unterschiedliche Handlungsebenen und zeitliche Dimensionen in den Blick, wie die Partei ihre »Aufgabe am deutschen Bauern« bewältigen könne bzw. »der Landstand im heutigen Kampf um den Staat einzusetzen« sei. Die Bauernschaft solle erstens kurzfristig durch Bauernstreiks und Nahrungsmittelboykotte zur Unterstützung des NS- Kampfes um die Macht im Staat gegen die »verstädterte Republikregierung« dienen, zweitens längerfristig und dauerhaft als ernährungspolitischer »Lebensmotor für den Volksorganismus und biologischer Bluterneuerungsquell des Volkskörpers« fungieren und drittens in einer imperialistischen Perspektive als Träger neuen, von den Slawen zu erobernden Siedlungslandes im »Ostraum« bereitgehalten werden[2].

Als Instrument plante Darré den Ausbau eines »agrarpolitischen Netzes über das Reichsgebiet«, das regionale Mentalitäten berücksichtigen, aber fest in Parteihand bleiben sollte. Innerhalb weniger Monate baute er in Anlehnung an die bestehende Parteiorganisation den »agrarpolitischen Apparat« (a. A.) auf. Hierarchisch und nach dem Führerprinzip geordnet, erhielt jeder politische Leiter der NSDAP vom Gau über den Kreis bis zur Ortsgruppe einen »landwirtschaftlichen Fachberater« zugeordnet. Dieser Funktionskader war als »Waffe im agrarpolitischen Angriffs- und Abwehrkampf« um die Erringung der Macht gedacht[3].

[1] Reichle, Hermann: Reichsbauernführer Darré, der Kämpfer um Blut und Boden. Eine Lebensbeschreibung, Berlin 1933., S. 48 habe Hitler die Weisung erteilt: »Organisieren Sie mir die Bauern, ich gebe Ihnen freie Hand!« Vgl. auch Schober, Gerhard: Die nationalsozialistische Bauerngesetzgebung. Schwerpunkt: Das Reichserbhofgesetz von 1933, Magisterarbeit 2007, https://www.grin.com/document/167745, eingesehen am 24.11.2018, S. 7.
[2] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 344 f. Bracher/Schulz/Sauer: Die nationalsozialistische Machtergreifung, I. Teil: Bracher, Karl Dietrich: Stufen der Machtergreifung, Köln und Opladen 1974, S. 534, Anm. 84.
[3] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 343 ff.

Ulrich Mayer
Aktuell ging es um drei Zielbereiche: Es sollten

  1. neue NS-Wähler auf dem Land gewonnen,
  2. politische Gegner massiv bekämpft und möglichst ausgeschaltet,
  3. Druck und Einfluss auf öffentlich-rechtliche Institutionen und berufsständische Organisationen ausgeübt werden, um
  4. die Agrarpolitik ganz unter NS-Herrschaft zu bringen.

Da die Partei keine berufsständischen Forderungen stellte, die sich von denen anderer rechter Parteien und konkurrierender Bauernorganisationen unterschieden, hob man sich durch Propaganda und gegebenenfalls Aggression bis zur Gewaltanwendung als probate Mittel der Auseinandersetzung ab. Die Fachberater übten gar keine Beratung im eigentlichen Sinn aus, sondern heizten mittels hemmungsloser Agitation die wirtschaftlich bedingte Unzufriedenheit der Landbevölkerung weiter an. Auf unzähligen Bauernversammlungen wurde die Schuld an der Misere dem »System«, den »Berliner« Regierungen zugeschoben. Die Existenznot sei letztlich gar kein wirtschaftliches, sondern ein weltanschauliches Grundproblem. Nur die Politik der NSDAP biete mit ihrem Streben nach Ernährungsautarkie und der Anerkennung des Bauernstandes als Kern des Volkes einen Ausweg.

Diese Art von Heilsversprechen weckte Hoffnungen und Erwartungen[1]. Sie trugen dazu bei, die Partei zum Sammelbecken der enttäuschten Landbewohner zu machen. Das zeigte sich auch in den Wahlergebnissen der nächsten Reichstagswahl vom Juli 1932 im Kreis Wetzlar[2].

Erstes Ziel von Darrés »Eroberungsfeldzug auf dem Lande« war die Zerschlagung der Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei. Mittels einer »beispiellosen Agitationskampagne« vom Herbst 1931 bis November 1932 gelang es Darrés Apparat, diese einzige rein bäuerlich orientierte Interessenvertretung unter den Parteien der Weimarer Zeit aufzureiben und zu vernichten. In dem Kesseltreiben gegen die Landvolkpartei[3] setzten Darré und seine Gefolgsleute die übelsten Mittel ein. Nazitypisch und erfolgversprechend war es, den Gegner frei erfunden als »jüdisch-liberalistisch« und »Knecht der roten Volksverderber« zu diffamieren.

Dazu kamen persönliche Angriffe, Verunglimpfungen, Diskriminierungen, Nötigungen bis zu offenen Drohungen. Darré selbst schrieb im November 1931 an die Landvolkpartei: »Für alle Fälle sind Ihre Funktionäre darauf aufmerksam zu machen, dass ihr bisheriges Verhalten Ihnen bei einem immerhin vorauszusehenden Regierungswechsel wenig Aussicht auf Fortkommen im Dritten Reich gewährleistet«[4].

[1] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 351 f. Schober, Gerhard: Die nationalsozialistische Bauerngesetzgebung. Schwerpunkt: Das Reichserbhofgesetz von 1933, Magisterarbeit 2007, https://www.grin.com/document/167745, eingesehen am 24.11.2018., S. 7.

[2] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24, S. 105.

[3] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24, S. 105.

[4] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 355.

Ulrich Mayer
Diese Drohung zeigte auch im Kreis Wetzlar Wirkung. Die direkte Übergabe des Anspruchs der lokalen Landvolkpartei auf bäuerliche Interessenvertretung an die extreme Rechte wurde augenscheinlich. Vor der Reichspräsidentenwahl vom 13. März 1932 legten der Kreisvorsitzende der Landvolkpartei, Lehrer Gaß aus Dutenhofen[1] und die Mitglieder des Kreisvorstandes, die Landwirte Wilhelm Langsdorf aus Großrechtenbach und Georg Welsch aus Hohensolms, ihre Ämter nieder und verließen die Partei[2].

Gaß wurde der erste für die NSDAP aktive Lehrer des Kreises. Auch Langsdorf trat der Nazipartei bei. Das zahlte sich für beide aus. Gaß wurde zum Kreisleiter des NS- Lehrerbundes ernannt, Langsdorf zum landwirtschaftlichen Kreisfachberater und im Frühjahr 1933 zum Bürgermeister seiner Heimatgemeinde[3]. Vor der Reichstagswahl vom Juli 1932 gab der bisherige stellvertretende Kreisvorsitzende, Brunnenbesitzer Karl Broll aus Biskirchen, die Auflösung der Landvolkpartei im Kreis Wetzlar bekannt, erklärte diesen Schritt aus Einsicht in die politische Bedeutungslosigkeit kleinerer Parteien und gab als Deutschnationaler eine Wahlempfehlung ab, die noch einmal klar die gängigen agrarromantischen, antirepublikanischen und antidemokratischen Vorstellungen zusammenfasste:

»Bei der Schicksals und Entscheidungswahl am 31. Juli 1932 muss der Marxismus und mit ihm das gesamte System, welches seit 1918 unser Vaterland in den Abgrund regiert hat, vernichtend geschlagen werden, sonst ist Deutschland verloren. Unser Wetzlarer Landvolk steht bei dieser Entscheidung, wie gewöhnlich, in vorderster Front und unterstützt dieses Mal die große Armee der beiden Parteien der nationalen Rechten, die NSDAP und die DNVP. […] Hoffen wir, dass in dem Deutschland nach dem 31. Juli 1932 der Bauer wieder zum ersten Sohn des Volkes wird«[4].

Das war ein Denken, das der NS-Diktatur Tür und Tor öffnete.

[1] Vgl. Busch, Heinz: Wetzlar, Aßlar und Ehringshausen – drei Kommunen an der unteren Dill zwischen 1918 und 1934, Wetzlar 1991, MWGV Sonderband.

[2] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 60.

[3] Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 60 f.

[4] WA vom 1.07.1932, zit. bei Mayer, Ulrich: Das Eindringen des Nationalsozialismus in die Stadt Wetzlar, Wetzlar 1970, Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV), Heft 24., S. 60.

Ulrich Mayer
Die Vernichtung der Landvolkpartei war nur eine Etappe auf dem Weg, Einfluss auf alle Bereiche der organisierten Landwirtschaft zu gewinnen. Es ging nun darum, »in die für den a. A. viel wichtigere Bastion des Reichslandbundes einzudringen«[1]. Dabei verfolgte Darré eine doppelte Taktik. Aufgrund der Wahlerfolge im bäuerlichen Milieu behauptete er, dass der a. A. der NSDAP Deutschlands größte Bauernbewegung sei, um dann eine entsprechende Beteiligung an der Führung der öffentlich- rechtlichen landwirtschaftlichen Berufsvertretungen zu fordern.

Gleichzeitig ließ er den RLB planmäßig ideologisch infiltrieren und personell unterwandern, um diese größte traditionelle berufsständische Organisation der Landwirtschaft zum Werkzeug der nationalsozialistischen Politik zu machen[2]. Dies konnte im Lauf des Jahres 1932 umso leichter gelingen, als a. A. und Landbund ideologisch weitgehend übereinstimmten, die Landbundführung aber dem zielstrebigen Willen der Nazis nur verbandsinterne Zerstrittenheit, trügerische Selbstsucht, politische Naivität und illusionären Opportunismus entgegenzusetzen hatten[3] und der a. A. wieder nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel war: Intrigen, Unterstellungen, haltlose Beschuldigungen, Rufmord waren an der Tagesordnung[4]. Der ehedem einflussreiche und mächtige Bauernverband wurde in den Dienst der NS-Politik gestellt.

[1] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 353.

[2] Gies, Horst: R. Walther Darré und die nationalsozialistische Bauernpolitik in den Jahren 1930-1933, Diss.. Frankfurt a. M. 1966, S. 131.

[3] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 376.

[4] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S.345, 354. Münkel, Daniela: Bäuerliche Interessen versus NS -Ideologie. Das Reichserbhofgesetz in der Praxis, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), H. 4,   S. 500.

Ulrich Mayer
Schadenfroh und genüsslich ließ Darré in einer schon 1933 publizierten Biografie den Unterwerfungsprozess resümieren:

»Mit dieser Fachberater-Organisation, die allmählich stützpunktartig das ganze flache Land umspannte, trat Darré zunächst zum Kampf um die berufsständischen Machtpositionen seiner Gegner, der Landvolkpartei, des Zentrums, der Bayerischen Volkspartei und der Deutschnationalen, an. Er drang erst mit wenigen, dann mit immer mehr seiner Gefolgsleute in die Landwirtschaftskammern ein, sicherte sich in raschem Zugriff bereits im Frühjahr 1932 eine Machtposition im Präsidium des Reichslandbundes als der führenden freien Standesorganisation des Landvolks und nistete sich gleichzeitig von unten her durch den agrarpolitischen Apparat in die Untergliederungen der landwirtschaftlichen Selbstverwaltungsorganisationen ein. Auf diese Weise neutralisierte er sie zunächst einmal im politischen Kampf, um sie dann, wenn er sie voll in der Hand hatte, nüchtern und rücksichtslos als Stützpunkte in seinem weiteren Kampf einzusetzen«[1].

Direkt nach seiner Ernennung am 30. Januar 1933 erkannte der neue Reichskanzler die Bedeutung Darrés zur Gewinnung der Bauern als »nicht nur die ziffernmäßig stärksten, sondern auch die politisch sichersten Bataillone« ausdrücklich. Auf einem Gruppenfoto im Hotel »Kaiserhof«, bis dahin Hitlers Residenz in Berlin, durfte der Newcomer sich neben »alten Kämpfern« in die zehnköpfige NS-Spitze um den Führer einreihen.

Reichsernährungsminister Richard Walter Darré auf dem Gruppenbild mit Hitler Anfang Februar 1933, Anfang Februar 1933 im »Adler-Hof« Berlin, der 2. v.R. zwischen Hermann Göring und Heinrich Himmler

Personen auf dem Foto vom Januar 1933 im Hotel Kaiserhof in Berlin:
Von links: sitzend Wilhelm Frick (Reichsinnenminister); stehend (nicht sichtbar) Otto Wagener; Wilhelm Kube, Hanns Kerrl, Joseph Goebbels, Adolf Hitler, Ernst Röhm, Hermann Göring, Richard Walther Darré, Heinrich Himmler, Rudolf Heß

[1] Reichle, Hermann: Reichsbauernführer Darré, der Kämpfer um Blut und Boden. Eine Lebensbeschreibung, Berlin 1933. Haushofer, Heinz: Darré, Walter (!), in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 517.

Ulrich Mayer
Nach dem 30. Januar 1933 war es ein Leichtes, überall Nationalsozialisten einzusetzen. Mittels einer Verleumdungskampagne wurde der bisherige Präsident des RLB aus seiner Schlüsselposition gedrängt und durch den westfälischen Gaufachleiter Wilhelm Meinberg ersetzt[1]. In Wiesbaden wurde Karl Hepp, ehemals führender Funktionär der CNBLP, am 23. März 1933 von einem Rollkommando nationalsozialistischer Landwirte aus seinem Amt als Vorsitzender der Landwirtschaftskammer gejagt und auf Anordnung Görings in »Schutzhaft« genommen[2]. Zugleich verlor er seine Stelle als Vorsitzender des Nassauischen Landbundes und wurde in beiden Funktionen durch den 30-jährigen Gutspächter Willi Metz, landwirtschaftlicher Gaufachberater für den Gau Hessen- Nassau-Süd, d.h. das Gebiet des Regierungsbezirks Wiesbaden, ersetzt. Im Kreis Wetzlar wurde Georg Allmenröder vorerst noch neben dem Kreisfachberater Langsdorf auf dem Posten des Kreisbauernführers belassen.

[1] Gies, Horst: R. Walther Darré und die nationalsozialistische Bauernpolitik in den Jahren 1930-1933, Diss.. Frankfurt a. M. 1966, S. 136 ff.
[2] Kropat, Wolf- Arno: Die nationalsozialistische Machtergreifung in Wiesbaden und Nassau, in Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 274.

Ulrich Mayer
Darré gelang es in knapp vier Monaten, sämtliche landwirtschaftliche Organisationen: die anderen Interessenverbände, die Landwirtschaftskammern, das Genossenschaftswesen und den Landhandel, unter seine Kontrolle zu bringen[1].

Ähnlich dem für Ehrungen und materielle Zuwendungen empfänglichen, in diesen Dingen aber erfolgreicheren Hermann Göring, sammelte Darré Posten und Titel samt den damit wohl verbundenen Vergütungen. Im Frühjahr wurde er in rascher Folge Leiter des Parteiamts für Agrarpolitik, Vorsitzender der Reichsführerschaft des Deutschen Bauernstandes, Präsident des Deutschen Landwirtschaftsrats, des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften, des Deutschen Landhandelsbundes, Reichsbauernführer und nach einer Intrige gegen Hugenberg[2] am 29. Juni auch dessen Nachfolger als Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft sowie Preußischer Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten. Damit leitete er die gesamte deutsche Agrarpolitik. Er war binnen drei Jahren zu einem der erfolgreichsten NS-Funktionäre geworden.

Mit dieser Machtfülle ausgestattet, dekretierte Darré am 15. Juli 1933 in einem Geleitwort im WA, dass es unter der neuen Regierung

»heute ja gar keinen Unterschied zwischen amtlicher Agrarpolitik und dem Wollen des Bauernstandes mehr gibt«.

Wegen der angeblich erreichten Einheit von Staat und Gesellschaft könne und dürfe

»der Bauerntag in Wetzlar nicht mehr wie in früheren Zeiten […] ein Protestaufmarsch sein, sondern ein Bekenntnis zur Mitarbeit an dem Wiederaufbau der deutschen Landwirtschaft«. Es galt jetzt das neue Motto: »Der Bauerntag […] soll zu einem erneuten Bekenntnis der Hessen- Nassauischen Bauern für den nationalsozialistischen Staat werden«[3].

[1] Gies, Horst: R. Walther Darré und die nationalsozialistische Bauernpolitik in den Jahren 1930-1933, Diss.. Frankfurt a. M. 1966, S. 131.
[2] WA vom 8.7.1933.
[3] WA vom 15.07.1933.

Ulrich Mayer
Damit war klar ausgedrückt: Es ging nicht mehr um ein lokales Volksfest, auch nicht um ein überregionales bedeutendes Verbandstreffen, sondern um eine ideologisch überhöhte, geradezu religiös verbrämte Bekenntnisfeier. Das Ochsenfest 1933 war eindeutig politisch und gewollt politisch eindeutig. Das Volksfest wurde zur Bühne für die Aufführung eines Stückes aus dem Nazi -Repertoire. Und die örtlichen Organisatoren machten mit, vorneweg. War es Opportunismus, war es Freude, jetzt endlich seine wahre Gesinnung zeigen zu dürfen, war es gar Entfesselung einer lang gehegten, aber unterdrückten Gläubigkeit? Enthusiastisch und wie befreit schrieb Geschäftsführer Dornberger 1933 in seinem traditionellen Geleitwort zum Fest:

»Welche Welten liegen zwischen unserem letzten lieben Ochsenfest 1930 und dem Heute, und doch Altvertrautes leitet uns über zu dem Neuen, z.T. noch nicht Erfassten des augenblicklichen und letzten Geschehens. […] 13. Nassauischer Bauerntag in Wetzlar, geboren in Deutschlands größter Zeit, Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft, erhalte uns das Gute unserer seitherigen im Geiste der wahren Volksgemeinschaft und Heimatliebe geleisteten Arbeit und verbinde sie mit dem Werden im neuen Deutschland!«

Es gehe darum, »ein neues Deutschland zu gestalten, würdig seiner Vergangenheit und besser, als uns die letzten 14 Jahre vorgaukelten«[1]. In ideologischer Hinsicht führte der Weg vom Lokalpatriotismus 1924 über völkisch-nationale Gemeinschaft 1927/30 zur Unterwerfung unter den autoritären NS-Totalitarismus 1933. Das Fest sollte als grandioses Theaterstück zum glücklichen Erfolg des nationalsozialistischen Kampfes um die Macht und für eine neue Ordnung unter dem Motto »Ende gut – alles gut« inszeniert werden. Und so wurde das Doppelfest auch ein lokales Musterbeispiel für die Rolle, die gerade Feste im Prozess der Machtergreifung des NS- Regimes spielten[2]

[1] Festschrift »Ochsenfest« 1933, S. 15.

[2] Vgl. Speitkamp, Winfried: Eschwege: Eine Stadt und der Nationalsozialismus, Marburg 2015, Veröffentlichungen der Historischen Kommission Hessen, Bd. 81, S. 155 ff. Ders.: Der »Geist der Volksgemeinschaft im Kleinen«. Eschwege, das Johannisfest und der Nationalsozialismus, in: Gerber, Stefan u.a. (Hrsg.): Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland. FS für Hans-Werner Hahn, Teil 2, Göttingen 2014, S. 669-681.

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Kapitel 14:
Durchsetzung der NS-Ideologie

Ulrich Mayer
»Machtergreifung« ist ein in der Geschichtswissenschaft umstrittener Begriff, dessen Verwendung immer wieder gegen Synonyme wie

  • Machtauslieferung,
  • Machtdurchsetzung,
  • Machteroberung,
  • Machterschleichung,
  • Machtübergabe,
  • Machtübertragung

erläutert und abgewogen wird[1]. Unter Machtergreifung wird hier nicht ein punktuelles Ereignis wie die Übergabe der Regierungsmacht durch Hindenburg an den neuen Reichskanzler Hitler am 30. Januar 1933 verstanden, sondern im Einklang mit dem Gebrauch des Begriffs in der neueren historischen Forschung als längerer Prozess der Konsolidierung des neuen Regimes, in welchem die Regierung in Verbindung mit Partei, Reichswehr und nahezu vorbehaltlos zustimmender Gesellschaft nach der »Machtübergabe« bzw. »-übernahme« bis Sommer 1934 die vollständige Eroberung und Stabilisierung der Macht vorantrieb.

Zur Analyse der vielen Facetten des Festes in dieser Hinsicht bietet es sich an, drei Erscheinungsformen, Ebenen oder Bereiche totalitärer Herrschaft zu unterscheiden: die physisch-gewaltförmige, die formalrechtlich-institutionelle und die emotional-mentale Seite.

[1] Frei, Norbert: »Machtergreifung«. Anmerkungen zu einem historischen Begriff, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 136-145. Mayer, Ulrich: »Machtergreifung«. Errichtung eines Führerstaates, in: Heuer, Christian u.a. (Hrsg.): Der Nationalsozialismus. Unterrichtseinheiten, Bd. 1. Aufstieg und Gleichschaltung, Berlin 2010, S. 36-77, hier 37-41. Peters, Christian: Nationalsozialistische Machtdurchsetzung in Kleinstädten. Eine vergleichende Studie zu Quakenbrück und Heide/Holstein, Bielefeld 2015, S. 27-29.

 

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Kapitel 15:
Machtdemonstration: physische totalitäre Herrschaft

Ulrich Mayer
Wichtiges Instrument der NSDAP in der sogenannten Kampfzeit bis Januar 1933 war ihre uniformierte Propaganda- und Schlägertruppe SA, die den rechtmäßigen Staat attackierte und die politischen Gegner terrorisierte. In Wetzlar führte die NSDAP bis Ende der 1920er Jahre ein »Dasein als marginale Größe«, die von kommunalen Behörden und den anderen politischen Parteien nicht ernst genommen wurde.

Die örtliche SA war so schwach, dass sie nicht einmal den Saalschutz bei Parteiveranstaltungen allein stellen konnte, sondern auf Hilfe von SA-Leuten von auswärts angewiesen war, aus NS-Zentren wie Leun, Ehringshausen, Braunfels, aus Gießen oder Frankfurt[1]. Das änderte sich erst, nachdem seit April 1933 der stramm nationalsozialistische Polizei-Oberleutnant Stephan aus Berlin, laut Wetzlarer Anzeiger Spezialist zur »Bekämpfung der kommunistischen Propaganda und Zersetzungstätigkeit«, für einige Monate als Staatskommissar zur Leitung der Wetzlarer Polizei eingesetzt war. Unter ihm wurde die SA ein wirksames Instrument zur Zerschlagung politischer Gegner[2].

Man muss es immer wieder sagen: Nach dem 30. Januar 1933 (Hitler Reichskanzler, Frick Reichsjustizminister, Göring Minister ohne Geschäftsbereich und kommissarischer Preußischer Innenminister) galt die zynische Parole: »Alles ist möglich!« (Victor Orbán 2018). Von oben her erhielt die SA durch Erlass Görings vom 22. Februar 1933 zur Einsetzung von SA und SS als Hilfspolizei die Lizenz für wilde Verhaftungen, Misshandlungen Gewalt und Terror, freie Hand einzuschüchtern und zu drohen, zu verdächtigen, zu verhaften und zu morden. Im Kreis half sie, Landrat und Bürgermeister von der SPD aus ihren Ämtern zu jagen, die Gewerkschaftshäuser zu besetzen und zu enteignen, von Februar bis Juli fast 300 politisch Andersdenkende in »Schutzhaft« zu nehmen, in Wahrheit eine willkürliche Vorbeugehaft[3].

SA auf der alten Lahnbrücke 1932

SA-Trupp auf der alten Lahnbrücke 1932

[1] Gündisch 1982, Gündisch, Dieter: Damit die nicht machen, was sie wollen. Dokumente aus der Geschichte der Arbeiterbewegung in Wetzlar von 1899 bis 1945, Wetzlar 1982., S. 448 f., 468.

[2] Gündisch 1981, Gündisch, Dieter: Die Wetzlarer Polizei zwischen den beiden Weltkriegen, in: MWGV 28 (1981),, S. 144-146.

[3] Peter, Marianne: Nicht mit dem Rüstzeug der Barbaren …, Lebenserinnerungen ehemaliger SAJ’ ler aus dem Raum Gießen – Wetzlar von den zwanziger Jahren bis nach dem Zweiten Weltkrieg, Gießen 1992. Dies.: Links, wo das Herz ist. Erzählte Lebensgeschichte aus der ArbeiterInnenbewegung an Lahn und Dill über die Weimarer Republik, Faschismus, Widerstand, Verfolgung, Krieg und Wiederaufbau, Gießen 1996. Richter, Ernst und Schmidt-Ehry, Bergis: Nazis und SA besetzten Gewerkschaftshäuser, Teil 1, in: Damals 929 (2018), S. 4.Teil 2, in: Damals 930 (2018), S. 4. Schmidt-Ehry 2018. 20. Benz, Hannelore: Verprügelt und an einem Ast aufgehängt, in: Damals 939 (2018), S. 4.

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Uniformierte Parteiverbände waren noch nie bei Ochsenfestzügen mitmarschiert. Dass nun die Terrortruppe den Zug anführte, während noch hunderte ihrer Gegner in der Jäcksburg in SA-Haft unrechtmäßig weggesperrt waren und von SA-Hilfspolizisten drangsaliert wurden, kennzeichnet die politische Ausrichtung des Zugs, ausdrücklich gefeiert vom WA[1]. Gleich am Anfang sollte das militärisch ausstaffierte Abbild deutscher Schlafmützigkeit symbolisieren, dass der NS -Ruf

»Deutschland erwache!«

inzwischen seine Erfüllung gefunden habe:

»Vor dem SS-Reiter Erich Fuchs, als deutschem Michel, der aber den Stahlhelm statt der Zipfelmütze trug, wurde ein Transparent mit der Aufschrift geführt:

Der deutsche Michel ist erwacht,
Die Schlafmütz‘ liegt im tiefsten Schacht«[2].

In Marschkolonnen reihten sich außer dem Spielmannszug des Wetzlarer Kriegervereins, der Cuxhavener Matrosenkapelle, dem Marineverein mit seiner Jugendgruppe mehrere Abteilungen des damals von den Nazis noch geduldeten paramilitärischen deutschnationalen »Stahlhelm« an. Der Stahlhelm war lange Zeit der bedeutendste Wehrverband der nationalen Rechten in der Weimarer Republik gewesen und mit den Nazis marschiert. Aber im Sommer 1933 wurde er von Ihnen geschluckt. Seit Juli wurden die Mitglieder schrittweise in die SA eingegliedert[3].

Präsenz der Nazis und Hakenkreuzfahnen im Festzug des Ochsenfestes 1933. Hier ein SA-Abordnung

Abordnung der SA, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Prof. Dr. Ulrich Mayer

Der Stahlhelm - reaktionäre antidemokratische Organisation der DNVP auf dem Ochsenfest 1933

Abordnung des Stahlhelms, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Prof. Dr. Ulrich Mayer

[1] WA vom 17.07.1933.

[2] WA vom 17.07.1933.

[3] Ullrich, Volker: Adolf Hitler. Biografie, Bd. I: Die Jahre des Aufstiegs 1889-1939, Frankfurt am Main 2013, S. 498.

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Was aber hatte ein Wagen des SA -Nachrichtensturms, eine Art Kriminalpolizei innerhalb der »Hilfspolizei« SA, im Ochsenfestzug zu suchen? Es ging doch wohl um die einschüchternde Botschaft: Die Restlichen, die gegen uns sind, kriegen wir auch noch! Der Wetzlarer Polizeichef machte Böcke zu Gärtnern, indem er entsprechend Görings Verfügung vom 22. Februar auch hier SA und SS als Hilfspolizei einsetzte. In einem umfangreichen Zeitungsartikel schürte Polizei -Oberleutnant Stephan Ängste und begründete die Maßnahme mit angeblichen »Brandstiftungen und den Beobachtungen über die Wühlarbeit staatsfeindlicher Elemente im gesamten Kreis Wetzlar«.

Deshalb sei es nicht möglich, in gewohnter Weise Landpolizisten aus dem Kreis zur Unterstützung der städtischen Polizei heranzuziehen. Vielmehr sei zu befürchten, dass die Abwesenheit der ländlichen Festbesucher in den Dörfern »von staatsfeindlichen Elementen auf irgendeine Weise ausgenutzt« werde. Zur »Sicherheit der Massen und Einzelner« sei die Hilfspolizei zur Verstärkung der Verkehrspolizei »wie auch als Überfallkommando für etwaige Vorkommnisse im Kreis auf besonderen Schnellastwagen«, im Streifendienst, als Verkehrsposten und Parkplatzwachen auf dem Festplatz und in der Stadt bereitgestellt. Angesichts der bisherigen Erfahrungen der Bevölkerung mit den SA-Rabauken beschwichtigte er, die Anordnungen dieser Hilfspolizei hätten »selbstverständlich in höflichster Form zu erfolgen«[1].

Besucher in Parteiuniform waren allgegenwärtig, ob SA-Mann oder neben dem zivilen Wetzlarer Bürgermeister Dr. Bangert der NS-Kreisleiter und Landrat Wilhelm Grillo.

Wagen der SA auf dem Ochsenfest 1933 mit antisemitischer Hetze

Wagen der SA, Foto: H. K. Lamm

Wetzlarer Polizist mit Hakenkreuzbinde auf dem Ochsenfest 1933

SA unter den Besuchern, Foto: H. K. Lamm

NSDAP Kreisleiter Grillo (feister Uniformierter in der Mitte) beim Rundgang auf dem Festplatz. Grillo wurde von der NSDAP nach der Machtübertragung als Landrat eingesetzt

Bürgermeister Dr. Bangert und Landrat Grillo in NS-Uniform, Foto: H. K. Lamm

[1] WA vom 12.07.1933.

Ulrich Mayer
Auf keinem Ochsenfest hat es mehr prominente Ehrengäste gegeben als 1933: Reichsminister R. Walther Darré, Reichsstatthalter Jakob Sprenger als faktischer Regierungschef des Volksstaats Hessen und Gauleiter des NS- Gaus Hessen- Nassau, Prinz Philipp von Hessen als Oberpräsident der preußischen Provinz Hessen -Nassau , Regierungspräsident Werner Zschintzsch und Vizeregierungspräsident Dr. Gerhard Mischke vom Regierungsbezirk Wiesbaden, Präsident des Reichslandbundes Wilhelm Meinberg, Vorsitzender des Hessischen Landbundes und Landesbauernführer Dr. Richard Wagner, Vorsitzender des Nassauischen Landbundes Willi Metz.

Sie alle waren nicht wegen des Ochsenfestes gekommen, sondern wegen der Anwesenheit und der zu erwartenden programmatischen Rede des neuen Reichsernährungsministers. Auch wollten sich die neuen Herren hier der Öffentlichkeit präsentieren. Die meisten traten in Parteiuniform auf und dokumentierten, wie staatliche Stellen und Berufsverbände auf allen Ebenen zur Beute der Partei geworden waren. Sie praktizierten bereits die später, am 1. Dezember 1933 gesetzlich fixierte NS-Ideologie der Einheit von Staat und Partei.

Die vermeintliche Einheit galt als Strukturprinzip der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie entpuppte sich letztlich als institutionalisierter Dualismus von Staat und Partei, als problematische Vermischung von Staatsaufgaben und Parteiwillkür. In dieser Hinsicht war das gesamte Herrschaftssystem ein Konglomerat vieler konkurrierender Instanzen. Die Kompetenzen von herkömmlichen Ämtern und von Parteieinrichtungen waren nicht gegeneinander abgegrenzt. Parteiapparate standen nicht nur neben, sondern auch gegen klassische öffentliche Verwaltungen. Das führte notwendigerweise zu funktionalen oder auch von Hitler durchaus beabsichtigten Rivalitäten zwischen einzelnen Institutionen und Funktionsträgern. Diese Art von Herrschaft wird Polykratie genannt[1].

Spitzentreffen der Nazis zum Ochsenfest 1933. Warten auf die Ankunft von Reichsernährungsminister Darré. Die Aufnahme entstand vor der Landratsvilla in der Bahnhofstraße. Hinten rechts im Schatten der Fürst von Solms und Braunfels, der sein Schloss den Ehrengästen als Herberge zur Verfügung stellte

Ehrengäste vor der Villa des Landrats am 16. Juli 1933 in Wetzlar, Bahnhofstraße
Personen auf dem Foto, vor der Treppe rechts in Zivil: Regierungspräsident Werner Zschintzsch, daneben 2. von rechts: Wilhelm Meinberg (Präsident des Reichslandbundes), 3. von rechts: Prinz Philipp von Hessen (Oberpräsident der preußischen Provinz Hessen-Nassau); hinter Meinberg: Landrat Wilhelm Grillo (Kreises Wetzlar);
ganz hinten rechts (im Schatten kaum zu sehen): Fürst Georg von Solms-Braunfels; davor in Uniform Dr. Gerhard Mischke (Vize-Regierungspräsident);
Foto © Stadtarchiv Wetzlar

[1] Mommsen, Hans: Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche, Stuttgart 1999, S. 225 f., 255. Haffner, Sebastian: Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 58 f.

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Merkmale des polykratischen Herrschaftsapparats dokumentierten sich sehr früh gerade anlässlich des Wetzlarer Bauerntags im Verhältnis zwischen Reichsstatthalter Sprenger und Oberpräsident Prinz Philipp von Hessen. Zankapfel war der Regierungsbezirk Wiesbaden. Hier überlappten sich die Zuständigkeiten der beiden Protagonisten. Staatsrechtlich gehörte das gerade gefeierte »Nassau« zur preußischen Provinz Hessen-Nassau, parteiorganisatorisch unterstand es gemeinsam mit dem Gebiet des Volksstaates Hessen dem hessen-nassauischen Gauleiter Sprenger.

Während seiner gesamten Regierungszeit bis 1945 bemühte sich Sprenger, den Regierungsbezirk Wiesbaden auch staatsrechtlich in seinen Zuständigkeitsbereich einzugliedern, was aber am Oberpräsidenten in Kassel scheiterte. Erst nachdem Philipp von Hessen bei Hitler in Ungnade gefallen war und sein Amt verlor, wurde aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden 1944 für wenige Monate eine neue Provinz Nassau unter dem Oberpräsidenten Sprenger gebildet[1].

[1] Zibell, Stephanie: Jakob Sprenger (1884-194). NS- Gauleiter und Reichsstatthalter in Hessen, Darmstadt 1999. Rebentisch, Dieter: Nationalsozialistische Revolution, Parteiherrschaft und totaler Krieg in Hessen (1933-1945), in: Schulz, Uwe (Hrsg.): Die Geschichte Hessens, Stuttgart 1983, S. 238f.,244f.

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Zwei Ehrengäste fehlen auf dem Gruppenfoto der prominenten Zuschauer vor der landrätlichen Villa in der damaligen Bahnhofstraße (heute Karl- Kellner- Ring), weil sie am Vormittag am Vorbeimarsch des Ochsenfestzugs nicht teilnahmen. Sprenger erschien erst nachmittags zusammen mit Darré in Wetzlar und machte damit deutlich, auf welche Ebene der politischen Hierarchie er sich selbst einordnete. Der Reichsstatthalter, obwohl Schirmherr des gesamten Festes, hatte am Morgen wichtigere Aufgaben, als bei einem lokalen Festzug zuzuschauen. Das überließ er den anderen Herren einschließlich Oberpräsident Philipp von Hessen. Man kann hierin wohl durchaus einen Affront des ehemaligen Postbeamten gegen den Prinzen aus dem Hochadel sehen.

Darré verzichtete auf das Defilee zugunsten eines ihm wichtigeren Termins auf der Platte, einer Taunushöhe nahe Wiesbaden. Damit dokumentierte der »junge eitle Ideologe«, wes Geistes Kind er war[1]. Darré hatte im dortigen Haus seiner Eltern 1928 sein erstes Buch geschrieben[2] . Am 14. Juli 1933 beging er seinen 38. Geburtstag. Aus diesem Anlass ließ er sich einen Gedenkstein setzen mit der Inschrift

»R. Walther Darré. Seines nassauischen Heimatgaues dankbarer Bauernstand«.

Es war ein gewaltiger, 6 t schwerer Westerwälder Basaltblock aus der Gegend von Marienberg. Außergewöhnlich war die Art des Transports durch den halben Westerwald, über die Lahn und quer durch den Taunus. Der Block wurde durch die NS- Ortsgruppen von Ort zu Ort gerollt. Der WA nannte das euphorisch ein Zeichen »zähen, beharrlichen Bauernwillens«. Darré könne »stolz sein auf solche Gefolgschaft«. Der Jubilar hielt selbst die Einweihungsrede,

»erfasst von der tiefen Verpflichtung dieser Vertrauenskundgebung des ihm anvertrauten Standes«

und wünschte sich selbst

»den Artgetreuen eine helfende Stelle, den Artfremden ein Fluch in unserem Vaterlande«

zu sein, bevor er nach Wetzlar aufbrach[3].

[1] Bracher, Karl Dietrich: Stufen der Machtergreifung, Köln und Opladen 1974, S. 534.

[2] »Blut und Boden« hieß auch eine Artamanen-Zeitschrift. Schon vor Darré tauchte das Begriffspaar erstmals auf bei: Spengler, Oswald: der Untergang des Abendlandes 1922.

[3] WA vom 14.07. und vom 18.07.1933.

Ulrich Mayer
Wenn hessischer Hochadel schon zu den neuen Herren gehörte, wollte offensichtlich ein einheimischer Adliger aus ehedem herrschendem Hause auch nicht beiseite stehen.

Fürst Georg von Solms-Braunfels zählte zu den prominenten Gästen auf der Treppe der Landratsvilla und nahm an hervorragender Stelle an der Hauptveranstaltung am Sonntagnachmittag teil. Er machte sich die neuen Herren durchaus gewogen, durften die Ehrengäste doch im Braunfelser Schloss logieren[1].

Spitzentreffen der Nazis zum Ochsenfest 1933. Warten auf die Ankunft von Reichsernährungsminister Darré. Die Aufnahme entstand vor der Landratsvilla in der Bahnhofstraße. Hinten rechts im Schatten der Fürst von Solms und Braunfels, der sein Schloss den Ehrengästen als Herberge zur Verfügung stellte

Zu den Ehrengästen zum Ochsenfest 1933 gehörte auch Fürst Georg von Solms-Braunfels. Hier auf dem Bild vor der Villa des Landrats ganz hinten rechts, fast im Dunkeln, Foto: Stadtarchiv Wetzlar

[1] WA vom 17.07.1933.

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Die neuen Herren zelebrierten ihre Macht. Ungeachtet der internen Konflikte spielten sie am 17. Juli 1933 großes Parteitheater nach dem Vorbild des 1. Mai auf dem Flugfeld Tempelhof in Berlin. Sie inszenierten eine Choreografie von Solisten und Massen. Der WA schrieb anschaulich und begeistert:

»An der Peripherie des Festplatzes war nach dem Modell vom Tempelhofer Feld[1] eine Tribüne erbaut und mit zwei großen Mikrophonen des Südwestfunks[2] ausgestattet.

Die Sturmfahnen hatten vor der Tribüne und auf derselben Aufstellung genommen. Der ganze Gau hatte Stürme nach Wetzlar entsandt, die das Podium in weitem Halbkreis umschlossen. SA und SS hielt den Gästen einen Zugang offen. Gegen 14 Uhr traf Landgraf Grillo in Begleitung von Prinz Philipp von Hessen, Reichslandbundpräsident Meinberg, Bürgermeister Dr. Bangert und Fürst Georg von Solms-Braunfels auf dem Festplatz ein«.

Und es blieb auch noch Gelegenheit für kleine Machtspiele wie etwa die Demonstration der hierarchischen Abstufung innerhalb der neuen Führungsriege:

»Wenig später wurde die Ankunft der Kraftwagen von Minister Darré und Reichsstatthalter Sprenger gemeldet. Sie schritten durch einen Wall hocherhobener Arme zum Podium, von dem Führer des Nassauischen Bauernstandes, Willi Metz mit Sieg-Heil begrüßt, ein Gruß, der zehntausendfach zurückhallte. Unter herzlichen Ovationen bestiegen die Gäste das Podium, wo ihnen Blumen überreicht wurden. Minister Darré […] begrüßte Landrat Grillo und Sturmführer Süß -Leun, der dem Minister die Sturmfahnen meldete. Dann richtete Landesbauernführer Metz herzliche Willkommensworte an den Minister und an Reichsstatthalter Sprenger, dem er für die Übernahme der Schirmherrschaft des Bauerntages dankte«[3].

[1] Die langgestreckte Tempelhofer Tribüne, in der Mitte mit einem Podest auf vorgeschobener Rednertribüne, wurde auch das Muster für den entsprechenden Bau am Zeppelinfeld auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.

[2] Darrés Rede wurde vom Sender Frankfurt des Südwestdeutschen Rundfunks übertragen.

[3] WA vom 17.07.1933.

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Kapitel 16:
Gleichschaltung: institutionelle totalitäre Herrschaft

Ulrich Mayer
In der darauffolgenden Rede ging es Darré darum, seine Vorstellungen von einer einheitlichen Ordnung und inhaltlichen Ausrichtung der Landwirtschaft im neuen Staat der Öffentlichkeit darzulegen. Wenn auch noch nicht als Minister, hatte er doch als einflussreicher Agrarexperte der Partei direkt nach dem Regierungsantritt Hitlers und der Besetzung preußischer Ministerien mit Nationalsozialisten auf diesem Gebiet schon die ersten Schritte eingeleitet. Über seine Verbindungen zu dem nationalsozialistischen preußischen Justizminister Hanns Kerrl, einem Mitglied der zehnköpfigen NS-Führungsspitze, konnte er den Entwurf zu einem neuen Erbrecht lancieren, der bereits am 15. Mai 1933 als Gesetz für das Land Preußen erlassen wurde.

Darin setzte Darré seine rassenideologisch-romantisierende Vorstellung vom Bauernturm als Kern des Volkes um, aus dem seinem zweiten Buch gemäß ein »Neuadel aus Blut und Boden« heranzüchten sei. Das Gesetz begann mit einer programmatischen Kernthese seiner Weltanschauung:

»Die unlösbare Verbundenheit von Blut und Boden ist die unerlässliche Voraussetzung für das ganze Leben eines Volkes«. Da diese in Deutschland durch »artfremdes Recht« zerstört worden sei, müsse »die Sicherung der nationalen Erhebung durch gesetzliche Festlegung der in deutscher Sitte bewahrten unauflöslichen Verbundenheit von Blut und Boden durch das Bäuerliche Erbrecht« gewährleistet werden.

Daraus folgten Bestimmungen, nach denen alle zu Erbhöfen deklarierten Bauernhöfe für immer unteilbar und unveräußerlich bei der Familie zu verbleiben hätten, auch gegen deren Willen.[1]. Das preußische Erbhofgesetz war unter Fachleuten im Gespräch. So sollte im Südwestdeutschen Rundfunk in der Sendung »Stunde des Landes« am Sonntag, 16. Juli 1933 ein Gespräch zwischen einem Kasseler Landwirtschaftsrat und einem Landwirt über die Auswirkungen des Erbhofgesetzes in Kurhessen, Nassau und im Rheinland stattfinden[2]. Diese Sendung entfiel zugunsten der Übertragung der Rede Darrés.

[1] Bracher, Bracher/Schulz/Sauer: Die nationalsozialistische Machtergreifung, I. Teil: Bracher, Karl Dietrich: Stufen der Machtergreifung, Köln und Opladen 1974, S. 534, Anm. 84.

[2] SRZ Südwestdeutsche Rundfunkzeitung, 9.Jahrgang, Nr. 29 vom 16. Juli 1933, Programmübersicht für So, 16. Juli. Die SRZ war die Hauszeitschrift des Frankfurter Senders.

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Nach seiner Ernennung zum Minister am 29. Juni 1933 ging Darré sofort daran, als Grundlage für weitere Gesetze und Verordnungen prinzipielle Vorgaben zur zentralen Steuerung der gesamten Landwirtschaft auszuarbeiten. Das Kabinett beschloss am 14. Juli das »Gesetz über die Neubildung deutschen Bauerntums« und am 15. Juli das »Gesetz über die Zuständigkeit des Reiches für die Regelung des ständischen Aufbaus der Landwirtschaft«. In diesen Tagen kam Darré der Termin des Nassauischen Bauerntags gerade recht. Er wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, erstmals als Minister einem Bauerntag seine Sicht darzustellen, zugleich seinen Mitkonkurrenten um die Gunst Hitlers aufzuzeigen, wie weit er in seinem Bereich bereits binnen kurzer Zeit den nationalsozialistischen Führungsanspruch verwirklicht hatte, und schließlich sich selbst in Szene zu setzen

Schon im Voraus wurde eine Rede »von programmatischem Wert für die ganze deutsche Landvolk« als das »größte Ereignis des Bauerntags« angekündigt und anschließend natürlich auch als »Höhepunkt« bestätigt[1]. Für günstige Bedingungen war gesorgt. Lautsprecher übertrugen die Rede für 20.000 Zuhörer auf dem Freigelände des Festplatzes. Zudem hatte der Südwestfunk die Sendezeit von zwei regelmäßigen Landfunksendungen des Senders Frankfurt für die Übertragung der Rede des Ministers bereitgestellt[2].

Darré hatte seine Teilnahme an der großen Kundgebung erst am 10. Juli verbindlich zugesagt. Deshalb wurde auch die Zeiteinteilung des Festtages kurzfristig geändert. Um die Terminvorgaben des Südwestfunks einhalten zu können, wurde der für 11 Uhr geplante Festzug um eine Stunde vorverlegt[3]. Von der Rede gibt es keine Tonaufzeichnung; dass sie in der Rundfunkzeitschrift nicht erwähnt wird, dürfte an der relativ kurzfristigen Programmänderung liegen, die bei Drucklegung des Programms noch nicht bekannt war[4].

Reichsernährungsminister Richard Walter Darré bei seiner Rede auf dem Festtagsgelände mit eigens gebauter Rednerbühne

Darré bei der Rede in Wetzlar, Foto: Stadtarchiv Wetzlar

[1] WA vom 11. und vom 17.07.1933.

[2] SRZ Südwestdeutsche Rundfunkzeitung, 9.Jahrgang, Nr. 29 vom 16. Juli 1933: 14,15 -14,25 Uhr: 10 Minutendienst der Landwirtschaftskammer Wiesbaden. 14,25 -15,15 Uhr: Stunde des Landes.

[3] WA vom 13. und vom 14.07.1933.

[4] E-Mail von Herrn Jörg Wyrschowy, Abteilung Information, Dokumentation & Bestände der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt, 20.02.2018.

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Von Beginn an suchte Darré die Bauern für sich einnehmen. Er freue sich, »gerade hier in diesem Gau zum ersten Mal als Minister vor deutschen Bauern öffentlich sprechen zu können«. Er stilisierte sich als »Minister Nassaus« (WA). Obwohl er nach der Kindheit in Argentinien weder Schule noch Studium oder Berufstätigkeit in Nassau absolviert, sondern lediglich im Elternhaus nahe Wiesbaden sein erstes Buch geschrieben hatte, stellte er sich publikumsgerecht als Sohn Nassaus dar:

»Aus diesem Gau bin ich 1914 ins Feld gezogen. Mit Kameraden aus diesem Gau habe ich Jahre an der Front draußen gekämpft und gelebt. In diesem Gau habe ich den Entschluss gefasst, ein Bauernkämpfer zu werden. In diesem Gau bin ich Nationalsozialist geworden«[1].

Selbstbewusst und selbstgerecht stellte er sich selbst in den Mittelpunkt der aktuellen agrarpolitischen Veränderungen:

»Ich breche grundsätzlich mit der Auffassung […]«
»Ich werde damit brechen […]«
»wird es meine Aufgabe sein […]«
»habe ich am letzten Freitag die Ermächtigung erhalten, […]«
»Ich habe die Ermächtigung bekommen, […]«
»Ich habe eingesetzt, […]«

lauteten die Floskeln. Inhaltlich brachte die Rede nichts unbedingt Neues, sondern populär formulierte Erläuterungen für drei in Arbeit befindliche Gesetzesvorhaben, alle auf Basis der vor 1933 formulierten NS-Zielvorstellungen [2]. Die Botschaft hieß: Wichtig ist weder der betriebswirtschaftliche noch der nationalökonomische Aspekt, sondern allein die weltanschauliche Ausrichtung […] .

[1] WA vom 17.07.1933.

[2] Schönekäs, Klaus: Hinweise auf die soziopolitische Verfassung Hessens in der Weimarer Republik, in: Hennig, Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983,

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Die bereits in Gang gesetzte organisatorische Erfassung und Gleichschaltung aller in der Landwirtschaft tätigen Betriebe und Menschen machte Darré den Zuhörern schmackhaft, indem er an ihren empfindlichsten Teil rührte: den Geldbeutel. Dies zielte auf die Errichtung des Zwangsverbandes »Reichsnährstand« am 13. September 1933.

Die bäuerliche Seele streichelte Darré mit dem Hinweis auf Einsetzung eines Sonderbeauftragten

»für bäuerliche Kultur, Sitte und Gesittung. […] Wir wissen, dass wir als Stand unsere Aufgaben nur erfüllen können, wenn wir einmal ein Bewusstsein unseres Standes haben und unsere Kinder und Kindeskinder mit Stolz dazu erziehen, einst ein königlicher Bauer zu werden«.

Der WA übertitelte denn auch den Bericht über die Rede:

»Höhepunkt des Nassauischen Bauerntages – Königlicher Bauer auf freier Scholle«[1].

Wem sollte da nicht das angenehme Gefühl aufkommen, mit der Erhebung in einen solchen Stand endlich einmal ein bisschen wichtiger genommen zu werden und sich nicht abgehängt zu fühlen.

In den alten landwirtschaftlichen Organisationen wurde traditionell die antisemitische Vorstellung vertreten, dass Landbesitz als exklusives Recht nur Deutschen bzw. »Ariern« zugestanden werden dürfe. Das bestätigte Darré mit biologistisch-rassenideologischem Nachdruck:

»[…] Ich habe nicht drei Jahre in der Reichsleitung der NSDAP um die Seele des Bauern gerungen, um mir heute als Reichsernährungsminister die deutschen Bauern durch jüdische Händler von Haus und Hof jagen zu lassen. Ich mache für alle Fälle darauf aufmerksam, dass ich mit dem unerbittlichen Willen, mit dem ich bisher bis heute meine Ziele zu verfolgen gewusst habe, auch zu verhindern wissen werde, dass diese Schädlinge am deutschen Volkskörper weiterhin an unserem grundlegenden Stande nagen«[2].

Bauern wissen, was man gegen Schädlinge unternimmt. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Wechselwirkung von Redner, Publikum und Berichterstattung, wenn der WA gerade an dieser Stelle »stürmischen Beifall« meldete.

[1] Schönekäs, Klaus: Hinweise auf die soziopolitische Verfassung Hessens in der Weimarer Republik, in: Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 58.

[2] Schönekäs, Klaus: Hinweise auf die soziopolitische Verfassung Hessens in der Weimarer Republik, in: Hennig, Eike u.a. (Hrsg.): Hessen unterm Hakenkreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt a. M. 1983, S. 58.

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Die heimischen Bauernorganisationen nahmen Erfassung und Gleichschaltung entgegenkommend und bereitwillig hin. Georg Allmenröder, Vorsitzender beider Wetzlarer Agrarverbände und Organisator des Doppelfestes, eröffnete am 15. Juli nachmittags, noch als »Führer der Kreisbauernschaft« bezeichnet, mit dem damals üblichen Heil-Gruß den Bauerntag und sprach an diesem Tag auch ein Grußwort zum »Deutschen Abend«.

Das offizielle Bauerntreffen, die Vertreterversammlung des Nassauischen Landbundes am 16. Juni eröffnete und leitete jedoch der landwirtschaftliche Kreisfachberater der NSDAP, Wilhelm Langsdorf[1]. Nach dem Bauerntag sind noch im Sommer 1933 die beiden örtlichen Bauernorganisationen im Zuge der allgemeinen Gleichschaltung, wie es heißt, »ohne nennenswertes Aufsehen im Reichsnährstand aufgegangen«[2]. Langsdorf, inzwischen auch NS- Bürgermeister von Großrechtenbach, übernahm die Führung der Bezirksbauernschaft Hessen-Nassau Nord-Ost mit Sitz in Wetzlar. Sie umfasste die Kreisbauernschaften der Kreise Wetzlar, Biedenkopf, Dillkreis (Dillenburg) und Oberlahn (Weilburg).

Allmenröder beteiligte sich noch einmal beim Ochsenfest 1937 als Mitglied des Ausschusses für Platzaufbau und Platzanordnung. In einem Nachruf anlässlich seines Todes am 16.07.1942 wurde an frühere »maßgebliche Stellungen im heimischen Bauerntum« und seine Aktivitäten bei manchem Ochsenfest erinnert[3]. Dornberger verzog am 01.09.1935 nach Gießen, von dort am 10.03.1936 nach Butzbach. Hier betrieb er bis zu seinem Tode am 17.11.1975 einen Geflügelhof[4].

[1] Gies, Horst: NSDAP und landwirtschaftliche Organisationen in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), H. 4, S. 341.

[2] Schütz, Hermann: Der Landwirtschaftliche Verein nach der Wiedergründung im Jahre 1949, in: in: Flender, Herbert: Die Geschichte des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet 1832-1982. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Landwirtschaftlichen Vereins Lahn-Dill von 1832 e. V. Wetzlar, Wetzlar 1982, S. 230.

[3] WA vom 17.07.1942.

[4] Personenstands-Register der Meldeämter Gießen, Wetzlar und Butzbach laut Auskunft der jeweiligen Stadtarchive.

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Kapitel 17:
Volksgemeinschaft: mentale totalitäre Herrschaft

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In der Sprache der Zeit kommentierte der WA als Ergebnis des Doppelfestes: »Äußerer Verlauf wie innerer Gehalt« vermittelten »eine Kundgebung der schicksalsverbundenen Volksgemeinschaft«[1].In den Reden auf dem Fest und in den Kommentaren dazu waren die unscharfen Vokabeln Volk, Gemeinschaft, Einheit, Schicksal und daraus zusammengesetzte Wörter die am häufigsten gebrauchten Begriffe. Das verweist auf eine lange Zeit wenig beachtete Eigenart der nationalsozialistischen Herrschaft. Begriff und Idee waren keine Erfindung der Nazis.

Schon in der Weimarer Republik wurden Volk und Gemeinschaft und erst recht das Kompositum von den konservativen Deutschnationalen bis zur politischen Linken als Begriff einer erstrebten idealen Sozialordnung verwendet, freilich sehr unterschiedlich interpretiert je nach politisch-ideologischer Grundrichtung. Auch im Nationalsozialismus beinhaltete Volksgemeinschaft kein ausgearbeitetes »Konzept«[2] im Sinne eines verbindlichen Orientierungsmodells, sondern ein »höchst problematisches Konglomerat sozialer und kultureller Erwartungen und Praktiken«[3].

[1] WA vom 17.07.1933.

[2] Ullrich, Volker: Adolf Hitler. Biografie, Bd. I: Die Jahre des Aufstiegs 1889-1939, Frankfurt am Main 2013, S. 14.

[3] Speitkamp, Winfried: Eschwege: Eine Stadt und der Nationalsozialismus, Marburg 2015, Veröffentlichungen der Historischen Kommission Hessen, Bd. 81. , S. 156.

 

Ulrich Mayer
Im Verlauf des Wetzlarer Doppelfestes lassen sich drei Arten des Umgangs mit dem Begriff ausmachen: 1. Idee als Benennung und Beschwörung, 2. Soziale Praxis im Erlebnis von Volksgemeinschaft als Gefühlszustand, 3. Demonstration eines Modells der gedachten Idealvorstellung in einem thematischen Festzug.

Während des Deutschen Abends am 15. Juli und der beiden Hauptveranstaltungen am 16. Juli 1933[1] gab es neben Darrés großer Ansprache weitere zehn Redebeiträge unterschiedlicher Länge[2]. Fast alle gingen auf die Volksgemeinschaft ein. Der suggestive Begriff war durchgängiges Motiv der ganzen Veranstaltung. Natürlich konnte niemand eine Definition oder nur zusammenfassende Beschreibung liefern, aber jeder versuchte sich daran, seine Vorstellung von Ziel und Wesen des Idealbildes der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung zu skizzieren. In der immerwährenden Beschwörung des Schicksalswortes erhoffte man sich offensichtlich auch schon ein Stück Erfüllung des Versprochenen.

Die allgemeine Verpflichtung zur Schaffung und Gewährleistung der Volksgemeinschaft also war Konsens und lag wie ein Grundakkord über dem gesamten Bauerntag. Ebenso deutlich erwies sich das Fest insgesamt als die von Darré geforderte Bekenntnis- und Gelöbnisveranstaltung gegenüber der neuen Staatsführung. Bangert, der kein Nationalsozialist war[3], machte den Auftakt, tanzte aber – wie schon in seinem Grußwort vom 15. Juli – als einziger aus der Reihe. Er zitierte zwar pflichtschuldig das vorgegebene Motto von dem

»erneuten Treuegelöbnis unserer nassauischen Bauern zum nationalsozialistischen Deutschland und seinen Führern«

beendete seine Rede mit dem obligatorischen Sieg-Heil aber nicht auf Adolf Hitler, sondern auf Deutschland, im Plural auf »seine Führer und unser Nassauer Land«. Andere Redner überschlugen sich in ihren Jubelhymnen.

[1] Vgl. oben »Nassauischer Bauerntag in Wetzlar«.

[2] Kreisbauernführer Georg Allmenröder, Bürgermeister Dr. Hugo Bangert, Landrat Wilhelm Grillo, Landwirtschaftlicher Kreisfachberater Wilhelm Langsdorf, Reichslandbundpräsident Wilhelm Meinberg, Vorsitzender des Nassauischen Landbundes Willi Metz, Bezirks- Frauenbauernschafts- Führerin Maria Overbeck, Oberpräsident Prinz Philipp von Hessen, Reichsstatthalter Jakob Sprenger, Landesbauernführer Dr. Richard Wagner.

[3] Dr. Bangert wurde am 13.03.1934 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den Ruhestand versetzt.

Ulrich Mayer
Meinberg:

»Wenn heute wieder man mit Stolz von seiner bäuerlichen Abstammung sprechen kann, verdanken wir das in erster Linie Adolf Hitler, unserem Führer, der uns selbst das Ideale an dem Bauerntum vorlebt, nämlich eine Arbeit um ihrer selbst willen zu tun«.[1]

Für die agrarischen Nazi-Propagandisten stand fest, dass allein durch den Machtantritt Hitlers die bäuerlichen Grundprobleme schon gelöst seien. Deshalb ging es ihnen nicht mehr um agrarpolitische Einzelfragen, sondern vor allem darum, den Bauerntag – nicht zuletzt zum eigenen Nutzen innerhalb des neuen Systems – zu einem Fest der Bestätigung für den Reichskanzler zu gestalten.

In diesen Kontext gehört auch die fast ausschließliche Verwendung der Bezeichnung »Volkskanzler« während des gesamten Festes. Ein halbes Jahr nach der Machtübertragung gab es noch immer ein Legitimationsproblem für Hitlers Kanzlerschaft. Bis zur letzten weitgehend rechtmäßig durchgeführten Reichstagswahl vom 12. März 1933 war es den Nationalsozialisten nie gelungen, eine parlamentarische Mehrheit zu gewinnen. Mit der Berufung auf Volkes Stimme im Sinne der Einheit von völkischer Gemeinschaft und Kanzler konnte dieses Manko getilgt werden. Zugleich gab es Anklänge einer bis ins Religiöse gehenden Legitimation. Allmenröder postulierte in Hinsicht auf die Volksgemeinschaft:

»Darum ein Volk, ein Gott, ein Vaterland!«

Der Oberpräsident Prinz Philipp von Hessen krönte seine Rede als Vertreter der Reichsbehörden durch eine dreifache Legitimation: völkisch, verfassungsrechtlich und religiös. Er verstieg sich auf ein »Treuegelöbnis zu dem Volkskanzler Adolf Hitler, dem Reichskanzler von Gottes Gnaden!«[2]

[1] WA vom 17.07.1933.

[2] WA vom 17.07.1933.

Ulrich Mayer
Auch in Wetzlar sollte Volksgemeinschaft nicht nur in Reden gefeiert, sondern als kollektives Gefühl sozialer Gleichheit und Zusammengehörigkeit praktiziert werden. Die Bedingungen der Schaustätte stimmten: Mehrere tausend Zuschauer in überfüllten Festzelten gewährleisteten die Faszination der Masse. Die Kulisse war perfekt mit Fahnen, SA-Kapelle und Matrosenkapelle, Funktionsträgern in SA- und SS Uniformen ausgestattet: »Zahlreich vertreten war das braune und das schwarze Ehrenkleid der Armee des neuen Deutschland«[1].

Zur propagandistischen Inszenierung gehörten Rituale. Ständig wurden die Arme emporgereckt zum »Hitlergruß«. Heil-Rufe brandeten auf zur Begrüßung der Redner und am Ende jeder Rede:

»[…] sprach, stürmisch begrüßt, […] Stürmisches Heil umjubelte […] Der Redner ließ seine Worte ausklingen in einem begeistert aufgenommenen dreifachen Sieg-Heil […] Die Ovationen wiederholten sich, als …«.

Zum Ritus gehörte auch das gemeinsame Singen der Nationalhymne und der NS-Parteihymne:

»Stehend sang die Riesenversammlung das Deutschlandlied. […] Das Horst-Wessel-Lied durchbrauste darauf das Zelt. … Das Horst-Wessel-Lied, von der SA-Kapelle begleitet, bekräftigte die Worte […]

Unser Ziel, so schloß Landbundpräsident Meinberg unter überwältigenden Beifall, sei nicht: Bauer: du allein – Arbeiter, du allein – Handwerker – du allein. Unser Ziel heißt nicht Bauerntum, Handwerkertum, Mittelstand. Unser Ziel heißt Deutschland, Deutschland, und immer wieder Deutschland! Heil!

Mit Suggestivkraft wurden diese herrlichen Worte in die Massen geschleudert, die sich spontan erhoben und das Horst-Wessel-Lied, alle vier Strophen, sangen. Es war ein faszinierender Anblick, diese Tausende hochgereckter Arme. Ein Treuschwur, so groß und gewaltig und ergreifend, wie kein Ereignis zuvor!«[2]

Das war praktizierte Volksgemeinschaft, großes Theater wie im Berliner Sportpalast. Auch hier in der Provinz manifestierte sich eine Melange aus totalitärem Machtanspruch und Einordnungsbereitschaft einer gleichgeschalteten Volksgemeinschaft.

[1] WA vom 17.07.1933

[2] WA vom 17.07.1933

Ulrich Mayer
Diese sollte nicht nur erläutert und während des Festgeschehens im Gemeinschaftserlebnis praktiziert, sondern für das große allgemeine Publikum demonstriert werden. Mittel dazu war der Ochsenfestzug. Als Vorsitzender der Festzugskommission war der Wetzlarer Juwelier Willi Leister für technische Planung, Organisation und Realisierung des Zuges verantwortlich. Es ist aber davon auszugehen[1], dass der spiritus rector hinter dem »mit ganz besonderer Sorgfalt« nahezu pädagogisch-didaktisch vorbereiteten Konzept das Kommissionsmitglied Wolfgang Dornberger war. Der Festzug sollte

»Ausdruck deutschen Schaffens, deutscher Leistung, deutscher Lebensäußerungen«

werden und damit dem

»Grundgedanken der Volksgemeinschaft […] bildhafte Ausprägung«

verleihen. Die Einzelteile des »Schaustücks« des Bauerntags waren in drei Hauptstücken »aufeinander abgestimmt«.

Sie vermittelten des das Bild eines berufsständisch organisierten Gemeinwesens: Landwirtschaft – Industrie, Handel und Gewerbe – Gesang und Sport

»in feiner, vornehmer Art, […] unermüdlich ihre bewährten Kräfte«

für Erholung und Gemeinschaftsbildung bereitstellend[2].

Im Anschluss an den Zugteil mit den uniformierten Wehrverbänden und ergänzt durch die genannten aktuell-territorialen, historischen, humoristischen und folkloristischen Einsprengsel[3] widmete sich der erste Hauptabschnitt des Zuges der Landwirtschaft als »eigentlicher Trägerin des Festes«, wobei nicht romantisch-nostalgischer Rückblick beabsichtigt wurde. Vielmehr sollten

»der Landmann (!) bei der Arbeit mit seinem Gerät und Handwerkszeug und die Mühe aufgezeigt werden, wie »der Scholle ihre Erträgnisse abzuringen«

sind, aber auch

»das Erstarken des deutschen Bauersmannes unter tatkräftigem Schutz«,

natürlich des neuen Staates.

[1] WA vom 15.07.1933

[2] Die Zusammenfassung folgt den entsprechenden Artikeln des WA vom 10., 13. und 17.07.1933.

[3] Vgl. die entsprechenden Abschnitte weiter unten.

Ulrich Mayer
Den Auftakt bildete das Festgespann der Niedergirmeser Bauern. Es »ehrte das wichtigste Gerät des Landwirtes«.

Biskirchen stellte in mehreren Gruppen den Erntevorgang dar und fand insbesondere mit dem Schaudreschen von drei Dreschern Anklang. Die Gutsverwaltung Altenberg zeigte Szenen aus dem landwirtschaftlichen Arbeitsfeld.

Vergoldeter Pflug (mit schwarz-weiß-roter Fahne), Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Eine Abordnung von Schnitterinnen- und Schnitter auf dem Festzug des Ochsenfestes 1933,

Schnitterinnen und Schnitter, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Ulrich Mayer
Die Ausstattung der Wagen des Gartenbauvereins und des Kreis-Obst- Mustergartens sowie der Stadtgärtnerei Wetzlar wandten sich auch an die Zuschauer als Verbraucher. »Die Kleinrechtenbacher hatten tatsächlich einen Kirschenbaum mitgebracht und ernteten ihn während der Fahrt ab. Die Atzbacher Bauernschaft warb mit allen Arten von Gemüse für die heimischen Erzeugnisse«.

Die Steindorfer brachten die Kleintierzucht in Erinnerung, mit Ziegen, Schafen und Schweinen. Der Geflügelzuchtverein des Kreises präsentierte unter einem übergroßen Ei im Becher Hühner der besten Legerassen. »Die Werbung für deutsches Ei, deutsches Obst, deutsche Wolle und die vielen anderen Erzeugnisse der deutschen Landwirtschaft sollen den deutschen Bürger an den vorzugsweisen Kauf deutscher Waren mahnen. Trinkt deutschen Wein! Trinkt deutsches Bier!« Deutschlastiger, will heißen chauvinistischer konnte Werbung für Ernährungsautarkie kaum formuliert werden.

Atzbacher Wagen mit Werbetransparent »Esst Deutsches Gemüse!«

Atzbacher Wagen mit Werbetransparent (Hinter den Akkordeonspielern)

Esst Deutsches Gemüse!
Das merkt Euch, Anna, Mina, Tine,
Gemüs‘ enthält viel Vitamine.

Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Kuh-bespannter Wagen mit praemierten Kleinvieh

Kuh-bespannter Wagen mit prämierten Kleinvieh

Ulrich Mayer
Auch die Nahrungsmittelproduktion war in den agrarischen Sektor des Zuges einbezogen.

»Ein mächtiger Pokal, das Sinnbild des Rheinweines, krönte die Anpreisungen der Rheingauer Winzergesellschaft«.

Die verwandten Gewerbe der Müller und Bäcker zeigten auf ihren Wagen den Gang des Getreides bis zum riesengroßen Topfkuchen.

Die Brauereivereinigung des Kreises Wetzlar folgte mit einem dickbäuchigen Fass und einem tüchtigen Zecher.

Motivwagen auf dem Ochsenfest 1933 der Müller-Innung

Müller vor der Mühle, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Motivwagen auf dem Ochsenfest 1933 der Bäcker-Innung mit riesigen Topfkuchen

Riesiger Topfkuchen, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Fass mit Zecher, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Ulrich Mayer
Die Hochelheimer präsentierten ihr »Spezialerzeugnis«, das ihren Namen schon berühmt gemacht hat. Ein ganzer Arbeitsgang vom Quark bis zum fertigen Handkäse war auf dem Wagen aufgebaut. Außerdem zogen Gruppen und Wagen der Metzgerinnung, des Bienenzuchtvereins und des Brieftaubenclubs im Zug mit.

Zum landwirtschaftlichen Bereich gehörten auch entsprechende Unterstützungs- und Bildungseinrichtungen.

»Das Haus der Kreisbauernschaft im Bild […] erinnerte daran, wo der Landwirt sich beraten lassen kann; die Bauernschaft Hermannstein führte den modernen Landwirt mit dem Mikroskop und die Erfahrung des alten Bauern im Kittel an einem Tisch zusammen. Theorie und Praxis müssen sich vereinigen, um der Landwirtschaft zu helfen«.

Dazu wartete die »Wanderhaushaltsschule« des Kreises, eine mobile Berufsschule, mit Geräten und Andeutungen ihrer Arbeitsgebiete auf.

Ulrich Mayer
Industrie, Gewerbe und Handel bestimmten den zweiten Hauptabschnitt des Zuges. Auch die Wagen dieser Abteilung hatten neben Information die Aufgabe, im Sinne autarker Wirtschaft für Erzeugnisse des Wirtschaftssektors zu werben.

Der Wagen der Leitz Werke präsentierte wichtige und verbreitete Spezialerzeugnisse. Die Buderus‘schen Eisenwerke ließen einen mächtigen Walzblock von einem Bergknappen und Vertretern der übrigen Facharbeiter begleiten.

Die Hensoldt-Werke ließen von einem Hochsitz im Waldesgrün einen Jäger mit dem Dialyt nach den Zuschauern spähen. Unterschiedliche Verwendungszwecke der Ferngläser dieses Werkes demonstrierten Figuren verschiedener Berufsgruppen. An einem modernen Zimmerofen der Wetzlarer Carolinenhütte wärmte sich eine frierende Person.

Ein Werbewagen des Handelsvereins mit einer großen Waage,

»die den Austausch der Waren zwischen Stadt und Land versinnbildlichte«,

repräsentierte den Kaufmannsstand. Zwei Mineralwasserquellen des Kreises, Selterssprudel Augusta-Victoria und Heilquelle Karlssprudel aus Biskirchen waren mit Motivwagen vertreten.

Leitz-Wagen auf dem Ochsenfest 1933 mit Mikroskop-Episkop

Leitz-Wagen mit Mikroskop, Episkop und zwei Leica-Modellen. Im Hintergrund ein Wagen der Buderus’schen Eisenwerke, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Prof. Dr. Ulrich Mayer

Motiv- und Werbewagen der Buderus'schen Eisenwerke auf dem Ochsenfest 1933 mit Gussofen.

Dame wärmt ihre Füße am Zimmerofen der Carolinenhütte, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Prof. Dr. Ulrich Mayer

Ulrich Mayer
Zahlreiche andere Handwerke beteiligten sich. Tapezierer, Polsterer und Sattler saßen auf Sitzgelegenheiten ihrer Kunst, Schreiner und Glaser führten einen riesigen Hobel mit. Hans Sachs repräsentierte die Schuhmacherzunft, Wagner und Schmiede mit dem Lederschurz trugen Handwerkszeug ihrer Arbeit mit sich. Ein Bügeleisen von ungeheuren Abmessungen rückte für Stadtwerke, Stromanbieter und Installateure die »Elektrizität als Kraftquelle« in den Vordergrund. Historische Figuren begleiteten die »Zunft der Friseure«.

Abordnung der Friseurinnung auf dem Ochsenfest 1933

Friseurinnung, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Ulrich Mayer
In der dritten Abteilung sollte die »Daseinskraft … deutschen Gesangs und deutschen Sports zu Wasser und zu Lande«, die Leistung von Gesang- und Sportvereinen als stabilisierende Kräfte hervorgehoben werden. Deren Repräsentanten im Zug waren vier Gesangsvereine, der Handharmonikaklub, die aktuelle 50er Vereinigung, zwei Radfahrervereine, drei Sportvereine, Ruderverein, Kanuklub, Schützenverein, Turnverein von 1847 und Ski-Klub.

Turnerinnen des Turnvereins Wetzlar auf dem Ochsenfest 1933

Turnerinnen des TV Wetzlar von 1847 mit Jahn-Fahnen, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Motivwagen des Ski-Klubs Wetzlar auf dem Ochsenfest 1933

Ski-Klub Wetzlar: Der Skifahrer schwenkt die Fahne der Republik Österreich. Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Ulrich Mayer
Den Zug begleiteten elf Kapellen bzw. Spielmannszüge, von denen über die Hälfte ausgesprochen militärischen Ursprung und Charakter hatten: SA-Kapelle, Stahlhelm-Kapelle, Kapelle des Stahlhelm-Lagers, Cuxhavener Matrosen, Spielkorps des Wetzlarer Kriegervereins, Spielmannszug des Kriegervereins Ehringshausen.

Ähnlich symbolisch wie die vorneweg marschierenden uniformierten Verbände als Spitze der Bewegung könnte man auch den Abschluss des Zuges durch die Ortsgruppen und Vereine der Bauernschaft[1] als Nachhut und letzten Rückhalt für Volk und Nation im Sinne Darrés interpretieren, alles unter dem unausweichlichen Symbol des neuen Regimes und mit all seinen Folgen für die Zukunft.

Abteilungen Radfahren, Fussball, Boxen aus Sportvereinen und selbstgenähten Hakenkreuzfahnen.
Radfahrverein, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

Abteilungen Radfahren, Fußball, Boxen aus Sportvereinen, Foto: H. K. Lamm © Bildersammlung Ulrich Mayer

[1] WA vom 10.07.1933.

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Kapitel 18:
Epilog

Ulrich Mayer

Die Zukunft schien zuerst einmal gut auszusehen. Das nächste Ochsenfest fand wohl wegen der Olympischen Spiele im Sommer 1936 nach einer vierjährigen Pause 1937 wieder nach alter Weise von Donnerstag bis Sonntag am altgewohnten Ort im Finsterloh statt. Dem WA zufolge war man darüber allgemein glücklich:

»Und wieder machte der Festplatz seinen ganzen Zauber geltend, den er auf Generationen ausgeübt hat: er bleibt trotz aller Massen ein Idyll [ … ]«.

Bezirksbauernführer Langsdorf zog positive Bilanz:

»Früherer trennte eine unheilvolle Kluft Stadt und Land. Heute blickt das ganze Volk voller Vertrauen auf das Bauerntum. Es achtet die harte Bauernarbeit, die der Gesamtheit des Volkes dient«, und er beschwor wieder den »Geist echter Volksgemeinschaft, der auch über die Festdauer hinaus sich in der Arbeit des Alltags bewährt«[1].

Aber welch ein Wandel, verglichen mit der Venezianischen Nacht von 1933, in den Assoziationen des Berichterstatters von 1937 zum abschließenden »Großen Schlachtenfeuerwerk mit Beleuchtung« im Finsterloh: »Dank der Szenerie, die der Wald lieferte, empfand man das Schlachtenfeuerwerk, das Heulen der Geschosse, Kanonendonner und Maschinengewehrhämmern als besonders eindrucksvoll und überzeugend«[2].

Es war die reinste psychologische Kriegsvorbereitung und das ist
keine ganz andere Geschichte.

[1] Festbuch und Festordnung mit Schauverzeichnis zum Kreistierschaufest (Ochsenfest) am 15., 16, und 18.Juli 1937 in Wetzlar auf dem Festplatz »Finsterloh«, Wetzlar 1937, S. 6.

[2] WA vom 19.07.1937.

 

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Kapitel 19:
Ergänzend: Wie das Ochsenfest entstanden ist

Von Herta Virnich
Seit 1815 gehörte der Kreis Wetzlar als Exklave zur preußischen Rheinprovinz. Im Westen grenzte er an das Herzogtum Nassau, im Osten an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt und im Norden an Kurhessen. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse waren alles andere als rosig, und Preußen hatte sich den Kreis wohl aus militärischen Gründen zugelegt, um einen Stützpunkt auf dem Weg in die neu erworbenen Landesteile, insbesondere zur Festung Ehrenbreitstein, zu haben.

Die Masse der Kreisbevölkerung lebte von der Landwirtschaft; selbst die meisten Bewohner der Kreisstadt Wetzlar trieben ein wenig Landwirtschaft, weil das schmale Einkommen aus Handel oder Handwerk eine Familie oft nicht ernähren konnte. Erschwerend kam unser heimisches Erbrecht hinzu, bei dem in Form der Realteilung bäuerliches Gut unter den Erben aufgeteilt wurde. So entstanden landwirtschaftliche Kleinbetriebe, die nicht ausreichten, eine Familie zu ernähren. Zudem lagen die einzelnen Parzellen über die ganze Dorfgemarkung verstreut und erschwerten eine rationelle Nutzung. Noch immer hingen die Bauern an der Dreifelderwirtschaft. Fruchtwechselwirtschaft, Verbesserung der Düngung und in der Viehzucht, obwohl von den Behörden immer wieder gefordert, ließen sich bei der konservativ eingestellten Bevölkerung kaum durchsetzen.

Auch das Gewerbe im Kreis Wetzlar war rückständig. Das zeigt sich gut bei der Leineweberei. 1828 wurden im Kreis 178 gewerbsweise betriebene Webstühle gezählt, dazu kamen 904 als Nebenerwerb betriebene. Damit stand das Textilgewerbe im Kreis an der Spitze, doch geriet es durch völlig veraltete Vertriebsformen in eine Krise, der es im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Opfer fiel. Andere Handwerker, wie Dachdecker, Schuhmacher oder Schneider hatten wenig Aussichten auf eine günstige Wirtschaftsentwicklung. Auch die beiden Eisenhütten in Aßlar und Oberndorf und das Hammerwerk in Braunfels hatten 1836 kaum mehr als 50 Beschäftigte.

So suchten Hunderte von Familien ihr Heil in der Auswanderung.

Erst die Kanalisierung der Lahn (1844-1851) und der Anschluss an das Eisenbahnnetz mit den Strecken Köln-Gießen (1862) und Koblenz –Gießen 81863) schufen die Voraussetzungen für die Entwicklung der Region zu einem Wirtschaftsgebiet von überregionaler Bedeutung.

Quelle: Flender, Herbert u.a.: »Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet«, Wetzlar 1982

Von Herta Virnich
Im Januar 1823 bekommt der Kreis Wetzlar einen neuen Landrat: Karl von Sparre. Dessen Interesse gilt der darnieder liegenden Landwirtschaft. Da er wirtschaftlich nicht helfen kann, will er doch das Wissen der heimischen Bauern verbessern, und so gründet er 1829 zunächst einen »Landwirtschaftlichen Leseverein«. Dessen Zweck war es, unter den Mitgliedern Kenntnisse und Erfahrungen aus der Landwirtschaft zu verbreiten.

Außer Ackerbau und Viehzucht werden Gartenbau, Obstzucht, Kultur der wilden Bäume sowie Haushaltungskunst als Themen vorgesehen. Für jedes Mitglied des Vereins sollte jedes Jahr ein Buch angeschafft und unter den Mirgliedern ausgeliehen werden, so dass im Laufe eines Jahres alle Bücher von sämtlichen Mitgliedern gelesen werden können. Der Jahresbeitrag beträgt pro Mitglied einen Taler und 15 Silbergroschen.

Bereits in den Gründungsstatuten ist festgelegt, dass der Leseverein nur drei Jahre bestehen soll und dann in einen »Landwirtschaftlichen Verein« überführt werden soll. Zugleich werden die Generalversammlungen für die beiden folgenden Jahre mit ihren Tagesordnungen veröffentlicht.

Die Lesegesellschaft entwickelte sich so gut, dass Landrat von Sparre schon bei ihrer Versammlung am 28. November 1831 folgenden Antrag stellte: »Die bisherige für den Kreis Wetzlar bestehende Lesegesellschaft möge sich zu einem landwirtschaftlichen Verein konstituieren.«

Der Antrag fand großen Anklang, so dass der Landwirtschaftliche Verein auf der Stelle beschlossen wurde. Landrat von Sparre wurde einstimmig zum Vorstand des Vereins gewählt und die Versammlung ging mit der Überzeugung auseinander, »durch Stiftung solchen Vereins ein nützliches Werk vollbracht zu haben.«

Bild 1 »Wie das Ochsenfest entstand«

Bericht der zweiten General-Versammlung des Landwirtschaftlichen Vereins in der damaligen Wetzlarer Zeitung, dem »Wetzlarischen Intelligenzblatt«. Quelle: Flender, Herbert u.a.: Die Landwirtschft im Lahn-Dill-Gebiet. Wetzlar 1982, Bild © Herta Virnich

Bild 2 »Wie das Ochsenfest entstand«

Hier im Rathaus am Buttermarkt hielt der Landwirtschaftliche Verein seine Versammlungen ab. Quelle: Flender, Herbert u.a.: Die Landwirtschft im Lahn-Dill-Gebiet. Wetzlar 1982, Bild © Herta Virnich

Von Herta Virnich
Die Mitglieder des Landwirtschaftlichen Vereins trafen sich alljährlich im Wetzlarer Rathaus am Buttermarkt. Es waren richtige Arbeitssitzungen, deren Ergebnisse in der Zeitung, dem „Wetzlarischen Intelligenzblatt“, abgedruckt wurden.

Schon zur ersten Versammlung wurden den Teilnehmern 16 Fragen auf den Weg gegeben und in der nächsten Zusammenkunft diskutiert und protokolliert. Immer waren es Probleme der heimischen Landwirtschaft, wie die Wechselwirtschaft, tiefes oder flaches Pflügen, geeignete Obstsorten oder die Vorzüge der Vogelsberger Rindviehrasse.

Es wurden Grassämereien in größerer Menge angekauft und in kleinen Portionen an die Mitglieder abgegeben. Auch wurde der „Schwerzsche Pflug“ angeschafft sowie eine gusseiserne Ringelwalze, die von den Mitgliedern ausgeliehen werden konnte. Ferner wurden auf Beschluss der Versammlung Acker- und Wiesenwerkzeuge sowie nützliche landwirtschaftliche Schriften erworben.

1844 hatte er Verein 52 Mitglieder. Aus einem Prämienfonds konnter er 20 Taler für „lang und treu gedientes Gesinde an Knechte und Dienstboten verteilen“. Davon gingen vier Taler an eine Frau, die 45 Jahre bei einer Familie gedient hatte, während zwei Baumpfleger „zur Aufmunterung mit je zwei Talern beschenkt“ wurden.

Quelle: Flender, Herbert u.a.: »Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet«, Wetzlar 1982

Bild 4 »Wie das Ochsenfest entstand«

Das Silhöfer Tor um das Jahr 1825. Das Stadttor, durch das man von der Altstadt kommend über die heutige Ernst-Leitz-Straße zur »Starken Weide« gelangte (siehe auch oben unter Kapitel 3 »Lageplan des Ochsenfestes 1933 – Bereich Starke Weide). Quelle: Flender, Herbert u.a.: »Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet«, Wetzlar 1982; Bild © Herta Virnich.

Von Herta Virnich
Im Sommer 1846 führte der Verein zum ersten Mal in der Starken Weide eine Tierschau mit Preisvereilung durch. In der Zeitung war zu lesen, dass am Mittwoch, 22 Juli 1846, – bei schlechtem Wetter eine Woche später – ab 9 Uhr auf der Starken Weide in Wetzlar Zuchtstiere, Kühe, Rinder, Fohlen und Zuchteber vorgeführt und prämiert werden. Dazu standen aus der Vereinskasse 50 Taler zur Verfügung. Die Besichtigungskommission bestand aus erfahrenen Tierzüchtern aus den Reihen des Vereins, die nur ausgezeichnete Tiere, aber keine »mittelmäßigen, unpreiswürdigen Exemplare« prämieren durften. Nach der Preiverleihung war eine Versammlung mit gemeinschaftlichem Mittagsmahl im „Herzoglichen Haus“ am Buttermarkt vorgesehen.

Ähnlich verlief im folgenden Jahr die Tierschau, allerdings war die Prämiensumme stark erhöht. Erstmalig waren bei der  dritten Schau alle Einwohner des Kreises zur Beteiligung aufgefordert, und viele kamen. Durch das weit geöffnete Silhöfer Tor zogen sie vor die Stadt hinaus durch die Gärten bis zur Starken Weide, zur großen Wetzlarer Tierschau..

Diese Tierschauen mit Prämierung aus den Jahren 1846, 1847 und 1849 können als Vorläufer der späteren Kreistierschauen im Finsterloh betrachtet werden. Damit wurde eine Tradition begründet, die bis heute lebendig geblieben und als »Ochsenfest« aus unserer heimischen Landschaft und Landwirtschaft nicht mehr wegzudenken ist.

Quelle: Flender, Herbert u.a.: »Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet«, Wetzlar 1982

Bild 3 »Wie das Ochsenfest entstand«

Die Starke Weide (Nach einem alten Stich). Eine Zeichnung, die die Weide mit der Stadt im Hintergrund zeigt. Im Hintergrund sit die Kulisse vom Dom zwischen den Bäumen erkennbar. (Standort der »Starken Weide, siehe auch oben unter Kapitel 3 die Grafik »Lageplan des Ochsenfestes 1933 – Bereich Starke Weide). Quelle: Flender, Herbert u.a.: »Die Landwirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet«, Wetzlar 1982; Bild © Herta Virnich.

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Kapitel 20:
Quellenhinweis • Danksagungen

Ulrich Mayer
Diese Fassung der hier abgebildeten Texte beruht auf meinem Aufsatz »Ochsenfest und Hakenkreuz. Ein Heimatfest als Instrument der nationalsozialistischen Machtergreifung«, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins (MWGV) 50 (2019), S. 206-310.

Der Text wurde für die vorliegende Darstellung zugespitzt, teils erweitert, teils gekürzt. Grafiken und Bilder neu zugeordnet.

Meine Quellenhinweise wurden neu zugeordnet, sie sind jeweils im Fuß des entsprechenden Aufklappfelds zu finden.

 

Wir danken Prof. Dr. Ulrich Mayer für seine Bereitschaft, uns nicht nur seinen Aufsatz über das Ochsenfest 1933 zur Verfügung zu stellen, sondern auch dafür, dass er für die lesbare Darstellung seiner vielfältigen Hintergrundinformationen zu den Gedenktafeln den ursprünglichen Aufsatz teilweise neu strukturiert und hierbei Passagen zugespitzt hat.

Ebenso danken wir für die intensive Zusammenarbeit und Diskussionen mit uns in den vergangenen vier Monaten, die es unserem Verein erlaubt, zu dieser Gedenktafelgruppe diesen sehr profunden und gleichzeitig dezidierten Rückblick auf das Ochsenfest 1933 als einen Teil der faschistischen Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft darstellen zu können.

Außerdem danken wir Frau Herta Virnich für die Gestattung, ihren Aufsatz für die Senioren-Post der Stadt Wetzlar (Ausgabe Sommer 2024) über die Entstehungsgeschichte des Ochsenfestes aufzunehmen. Denn das Ochsenfest war ja keine Erfindung der Nazis, sondern sie haben 1933 das beliebte Volksfest für ihre Propagandazwecke missbraucht. Deshalb stellt Herta Virnichs Beschreibung, wie das Ochsenfest ursprünglich entstanden ist. eine sinnvolle abschließende Abrundung unseres Informationspaketes dar.

Der Vorstand von Wetzlar Erinnert

Der Wetzlarer Geschichtsverein hat es  Prof. Dr. Ulrich Mayer schon 2019 ermöglicht, im Rahmen seiner Vortragsveranstaltungen über das Ochsenfest 1933 zu sprechen.

Der Aufsatz wurde in illustrierter Form in den »Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins« (MWGV) 50 (2019), auf den Seiten 206  bis 310 abgedruckt. Wir danken dem Geschichtsverein, auf Basis seines Fließtextes die hier veröffentlichten Hintergrundinformationen nutzen zu können. Das hat unserem Redaktionsteam für diese Website erheblich erleichtert, Mayers Recherchen für die dazu notwendige digitalisierte Erfassung nutzen zu können.

Auch hierfür recht herzlichen Dank!

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Kapitel 21:
Tafelvorschau • Tafelstandorte • Tafelenthüllung

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Kapitel 22:
Statements der Tafelstifter:

Handwerkskammer Wiesbaden

Warum wir die Gedenktafeln zu den Ereignissen der NS-Zeit in Wetzlar unterstützen. Statement vom Dr. Martin Pott Das Ochsenfest im Jahr 1933 war eine große Propagandaveranstaltung für den NS-Staat. Nie zuvor war das Wetzlarer Ochsenfest derart instrumentalisiert worden.  Auf dem Gelände zwischen Lahn-Dill, wo die braunen Aufmärsche stattfanden, wurde in den späten 1970er Jahren das mittelhessische Aus- und Fortbildungszentrum der Handwerkskammer Wiesbaden errichtet, das seitdem für viele zehntausende Handwerkslehrlinge und Meisterschülerinnen und Meisterschüler zum [...]

Von |08.07.2023|Kategorien: Gedenktafelstifter, HWK Wiesbaden, Sponsoren, Tafelstifter|Schlagwörter: , , , , |Kommentare deaktiviert für Handwerkskammer Wiesbaden

Wetzlarer Neue Zeitung

Warum wir die Gedenktafeln zu den Ereignissen der NS-Zeit in Wetzlar unterstützen. Statement vom Christian Keller Komplexe Fragen mit vermeintlich einfachen Botschaften oder Parolen zu beantworten, das hat leider immer wieder und gerade jetzt Konjunktur. Doch vieles lässt sich eben nicht immer einfach beantworten, auch wenn die Sehnsucht nach schnellen Lösungen in einer immer komplexer werdenden Welt oft groß und verständlich ist. Zu dieser Einsicht braucht es nicht nur Aufklärung und freie, geprüfte Informationen, [...]

Von |08.07.2023|Kategorien: Gedenktafelstifter, Landwirtschaftlicher Verein, Sponsoren, Tafelstifter, WNZ|Schlagwörter: , , , , |Kommentare deaktiviert für Wetzlarer Neue Zeitung

Landwirtschaftlicher Verein Lahn-Dill von 1832 e.V. Wetzlar

Warum wir die Gedenktafeln zu den Ereignissen der NS-Zeit in Wetzlar unterstützen. Statement vom Dr. Andreas Viertelhausen Der Landwirtschaftliche Verein wird regelmäßig mit dem Ochsenfest und den Veranstaltungen rund um das Museum in Finsterloh wahrgenommen. Besonders gerne erinnert man sich an die schönen Momente bei diesen Festen. Zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der fast 200jährigen Vereinsgeschichte gehört aber auch, die dunklen Momente nicht zu vergessen oder gar zu verdrängen. Deshalb war es für den [...]

Von |05.07.2023|Kategorien: Gedenktafelstifter, Landwirtschaftlicher Verein, Sponsoren, Tafelstifter|Schlagwörter: , , , |Kommentare deaktiviert für Landwirtschaftlicher Verein Lahn-Dill von 1832 e.V. Wetzlar

Magistrat der Stadt Wetzlar

Warum wir die Gedenktafel zu Ereignissen der NS-Zeit in Wetzlar unterstützen Ein Statement von Oberbürgermeister Manfred Wagner »Zukunft braucht Erinnerung« Dieses Wort will ich meinem Statement voranstellen und gerne beschreiben, warum es der Stadt Wetzlar wichtig ist, das vom dem Verein WETZLAR ERINNERT e.V. angestoßene Projekt »Gedenktafeln zu Ereignissen der NS-Zeit« zu unterstützen. In unseren Tagen erleben wir leider immer wieder, dass der Geist derer, die uns die dunkelsten Stunden in der Geschichte unseres [...]

Von |02.05.2018|Kategorien: Gedenktafelstifter, Sponsoren, Stadt Wetzlar|Schlagwörter: , , , |Kommentare deaktiviert für Magistrat der Stadt Wetzlar

WETZLAR ERINNERT e.V.

Gruppenbild oben v.l.n.r.: Natalija Köppl (stellv. Vorsitzende), Stefan Lerach (Beisitzer), Andrea Grimmer (Schatzmeisterin), Arne Beppler (Beisitzer), Irmtrude Richter (Schriftführerin) und Ernst Richter (Vorsitzender) Warum haben wir das Projekt Gedenktafeln zu Ereignissen der NS-Zeit initiiert? Ein gemeinsames Statement unseres Vorstandes In der Satzung von WETZLAR ERINNERT e.V. steht: »Damit sich deutscher Faschismus nicht wiederholt, ist es erforderlich, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Wege zu eröffnen, die auch denen Zugang ermöglichen, die diese Zeit nicht [...]

Von |02.05.2018|Kategorien: Gedenktafelstifter, Wetzlar erinnert|Schlagwörter: , , , |Kommentare deaktiviert für WETZLAR ERINNERT e.V.

Demokratie leben

Förderung unserer HomepagesFörderung von Projekten unseres Vereins Der Verein WETZLAR ERINNERT e.V. hat schon mehrere seiner Erinnerungs- und Gedenkprojekte zur NS-Zeit mit Hilfe der Programme »Demokratie leben!« und dem Vorläufer-Programm »Toleranz fördern – Kompetenz stärken« durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert bekommen. Die Entscheidung über die Förderung fällt innerhalb der lokalen Partnerschaft für Demokratie Wetzlar | Lahn-Dill-Kreis ein Begleitausschuss. Hierzu zählen unter anderem die Projekte: der Weg der Erinnerungunsere antifaschistische Stadtführung [...]

Von |01.09.2012|Kategorien: Demokratie leben, Gedenktafelstifter, Sponsoren|Schlagwörter: , , , |Kommentare deaktiviert für Demokratie leben
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