NS-Zwangsarbeit in Wetzlar
Gräberstätte in Niedergirmes

Auf dem Niedergirmeser Friedhof wurden Zwangsarbeiter*innen begraben
Dazu gehören die Gräber von Kindern

Ein leider kaum bekanntes Kapitel des Themas NS-Zwangsarbeit in Wetzlar ist die Gräberstätte auf dem Friedhof des Wetzlarer Stadtteils Niedergirmes. Unser viel zu früh verstorbenes Vereinsmitglied Marianne Peter hatte über drei Jahrzehnte über die Schicksale der dort begrabenen Menschen geforscht und war beteiligt an einer Begegnung mit 15 überlebenden ukrainischen Schicksalsgenossen, die auf Einladung der Wetzlarer Geschichtswerkstatt und einer Evangelischen Kirchengemeinde die Zivilarbeitergräber auf dem Niedergirmeser Friedhof aufsuchten.

Schon schwer erkrankt, hatte Marianne Peter Klaus Petri gebeten, ihre Kenntnisse und gesammelten Dokumente für die Verfassung eines größeren Artikels zu verwenden, der am 4. November 2015 in der Wetzlarer Neuen Zeitung veröffentlicht wurde. Wir haben diesen Artikel zur besseren Lesbarkeit in dem nachfolgenden Aufklappmenü in Abschnitte gegliedert

Artikel von Klaus Petri

»In gebührender Entfernung« beerdigt
ZWANGSARBEITER Nicht-deutsche Gräber auf dem Friedhof in Niedergirmes

Von Klaus Petri
WETZLAR Nach Schätzung von Historikern lebten und schufteten während des Zweiten Weltkrieges im Deutschen Reich und den von der Hitler-Wehrmacht eroberten Gebieten rund 26 Millionen Männer, Frauen und Jugendliche als Zwangsarbeiter.

Für den heutigen Lahn-Dill-Kreis betrug deren Zahl etwa 17.000. Es gab magere oder gar keine Löhne und eine elende Verpflegung für diese Menschen. Die Ersten wurden sogar regulär-freiwillig als Arbeitskräfte angeworben. Diejenigen, die das im Altkreis Wetzlar nicht überlebten, wurden auf einer eigens dafür hergerichteten Begräbnisstätte auf dem Friedhof in Niedergirmes beigesetzt.

Mit fortschreitendem Krieg deportierten die deutschen Besatzungsbehörden schließlich ganze Schulabschlussjahrgänge aus Polen, Weißrussland oder der Ukraine ins Deutsche Reich.

Für die Unterbringung wurden geschlossene Barackenlager errichtet, gegenüber den einheimischen Arbeitskräften gab es ein Kontaktverbot. Ältere Wetzlarer wie die in 2002 verstorbene Edith Z. geb. Marquart erinnern sich noch an »die schöne Musik«, die aus den Unterkünften der Zwangsarbeiter nach außen drang.

Die Wetzlarer Historikerin Marianne Peter hat Forschungen darüber angestellt, was im Todesfall mit diesen Menschen geschah, die fernab der eigenen Heimat in der Rüstungsindustrie, bei Aufräumarbeiten, in der Landwirtschaft oder in Privathaushalten eingesetzt waren.

Ein Verwaltungsbericht aus dem Jahr 1956 nimmt Bezug auf den Friedhof des stark industriell geprägten Wetzlarer Stadtteils Niedergirmes:

»Im Juli 1942 wurde auf dem Gelände des Friedhofes Wetzlar-Niedergirmes eine Begräbnisstätte für Ausländer angelegt; hier wurden 276 nach Deutschland dienstverpflichtete, ausländische Arbeiter beigesetzt, von denen in den letzten Jahren 19 Franzosen, Belgier und Holländer ausgegraben und in ihre Heimat überführt wurden. Die Gräber der Ausländer erhielten im Frühjahr 1951 Eichenholzkreuze.«

Neubelegungen auf dem Soldatenfriedhof im Stadtteil Büblingshausen aus dem Ersten Weltkrieg
Die Adresse auf Google-Maps Hauptsächlich sind laut Wikipedia auf diesem Friedhof die Leichname von rund 15.000 Russen, Ukrainern und wahrscheinlich auch Gefangenen anderer Nationalitäten vergraben worden. Im Jahre 1925 waren zahlreiche Gräber des Kriegsgefangenen-Friedhofes Wetzlar-Büblingshausen durch Überführungen ehemaliger französischer Kriegsgefangener in ihre Heimat freigeworden.

Diese Gräber wurden im Laufe des Zweiten Weltkrieges mit 45 Kriegsgefangenen neu belegt. Bei Röchling-Buderus wurden auch Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter eingesetzt. 1943, 1944 und 1945 wurden bei Luftangriffen auf Wetzlar umgekommene bzw. schwer verwundete Kriegsgefangene dort in dem Bereichen beigesetzt, die durch die Umbettung der oben genannten Franzosen frei geworden waren.

—› Siehe auch Gedenkorte | Soldatenfriedhof Büblingshausen

Namenstafeln seit 1965
Laut international gültigen Kriegsgräbergesetzen und entsprechenden bilateralen Abkommen verpflichten sich frühere Kriegsgegner zum Erhalt und zur Pflege von Grabstellen. Die heute in Niedergirmes sichtbaren Namenstafeln wurden einheitlich vermutlich erst mit dem 1. Kriegsgräbergesetz aus 1965 hergestellt.

Ein schlichter Grabstein ist einer 23-jährig verstorbenen Ukrainerin namens Maria Gulowata gewidmet, die mit vielen Gleichaltrigen aus dem ukrainischen Dorf Mervin bei Winiza ins Deutsche Reich verschleppt worden war. Ihr Schicksal findet Erwähnung in den Lebenserinnerungen der Fabrikanten-Tochter und Wetzlarer Ehrenbürgerin Elsie Kühn-Leitz »Mut zur Menschlichkeit«, 1994:

»In der Frühe des 10.9.1943 um halb 7 Uhr wurde ich von einem Wächter des Ostarbeiterlagers angeklingelt, ich möchte sofort herunterkommen, die Ostarbeiterführerin Maria Gulowata läge im Sterben. (…) Sie lag in ihrer kleinen Stube auf dem Bett und war schon tot als ich herunterkam. (…) Als Todesursache wurde Gehirnschlag festgestellt, was bei einer so jungen Frau kaum glaubhaft erscheint. (…) Lange Zeit später erfuhr ich von unserem Lagerleiter, dass Maria Gulowata wohl als Spitzelin ihrer eigenen Volksgenossen für die deutsche Gestapo gearbeitet haben soll. (…) Jedenfalls lag und liegt noch heute ein Rätsel über diesem frühen Tod.«

Besuch von Schicksalsgenossen 1995
1995 besuchte eine 15-köpfige Gruppe überlebender ukrainischer Schicksalsgenossen auf Einladung der Wetzlarer Geschichtswerkstatt und einer Evangelischen Kirchengemeinde die Zivilarbeitergräber auf dem Niedergirmeser Friedhof. Darunter auch Filip Gulowatij, ein Cousin von Maria G.

Ein Wachmann über des todkranke Baby:
»Pack es und schmeiß es in die Toilette«

Als seine Cousine 23-jährig starb, hatte die etwa gleich alte Lidia Jatschinowna ein todkrankes zwei Monate altes Söhnchen. „Pack es und schmeiß es in die Toilette!“, lautete die barsche Order des Wachmannes, als der Säugling an Entkräftung verstorben war. Nach Angaben der Ukrainerin, die sie während ihres Besuches in Wetzlar vor 20 Jahren machte, hat sich Elsie Kühn-Leitz dann darum gekümmert, dass der kleine Leichnam mit ins Grab von Maria Gulowata kam.

NS-Richtline für Beisetzungen:
Mit den verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern wurde im braunen Reich nicht viel Federlesens gemacht. Bei deren Beerdigung galt die Richtlinie, auf einen Sarg zu verzichten und die Leiche »mit starkem Papier (möglichst Öl-, Teer- oder Asphaltpapier) oder sonst geeignetem Material vollständig einzuhüllen […]. Bei gleichzeitigem Anfall mehrerer Leichen ist die Bestattung in einem Gemeinschaftsgrab vorzunehmen«. In einem Rundschreiben der Gestapo vom 18. Dezember 1942 zur Beerdigung von ›Ostarbeitern‹ heißt es:

  1. »Die Beerdigung eines Ostarbeiters stellt lediglich eine gesundheitspolitische Maßnahme dar, so dass alle Vorbereitungen für die Beerdigung und diese selbst möglichst einfach und unter Vermeidung jeglichen Aufsehens in der Öffentlichkeit vorzunehmen ist.
  2. Als Begräbnisplatz ist ein Ort an einer entlegenen Stelle des Friedhofs in gebührender Entfernung von deutschen Gräbern auszusuchen.
  3. Eine Mitwirkung von Geistlichen bei der Beerdigung hat nicht stattzufinden, da die Beerdigung lediglich eine gesundheitspolitische Maßnahme ist. Dementsprechend hat auch das Glockenläuten zu unterbleiben.
  4. Es ist nicht erwünscht, daß außer etwa vorhandenen Verwandten und Arbeitskameraden andere Personen an der Bestattung teilnehmen.«

Pflege-Patenschaften gesucht
Die heute gängige Kennzeichnung »unbekannte(r) Ostarbeiter/-in« auf den kleinen Grabplatten ist so gesehen noch ein später Nachklang des damaligen »arischen« Herrenmenschendünkels und der rassistischen Perspektive auf »slawische Untermenschen«.

Der Wetzlarer Magistrat sucht derzeit Pflege-Patenschaften für verwaiste, aber erhaltenswerte Gräber auf den Wetzlarer Friedhöfen. Der abgelegene Flecken mit den Zivilarbeiter-Gräbern sollte dabei nicht außen vor bleiben.

Die vor 75 Jahren verschleppten jungen Europäerinnen und Europäer waren niemandes Feind, als sie für die Wahnidee eines Großgermanischen Reiches um ihre besten Jahre betrogen wurden.

Auf einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion am Gräberfeld für die Zwangsarbeiter*innen hatten Schüler*innen der Aufgust-Bebel-Gesamtschule vom Schicksal einzelner ZwangsarbeiterInnen berichtet. hessencam hat diese Schilderungen gefilmt:

Schüler*innen der August-Bebel-Schule Wetzlar berichten exemplarisch über das Leben und Sterben der Zwangsarbeiter*innen in Wetzlar.

Mit Erlaubnis von © hessencam eingebettet