1944: Die Produktion von Kanonenfutter
geht in Wetzlar weiter
geht in Wetzlar weiter
VON DR. BERGIS SCHMIDT-EHRY
Während bereits viele junge Männer an der Ostfront gefallen sind, geht in der Spilburg die »Produktion von Kanonenfutter« weiter. Junge Männer aus Wetzlar und dem Lahn-Dill-Kreis, die es an die Ostfront verschlagen hatte, starben zu Hunderten für »Führer, Volk und Vaterland«. Am Ende hatte der Zweite Weltkrieg fünfzig Millionen Menschen das Leben gekostet, allein 25 Mio. in der Sowjetunion.
Unser Zeitzeuge Fritz Donsbach schrieb dazu im Januar 1942:
»Ihr werdet wohl schon allerhand gehört haben, was hier an der mittleren Ostfront vorgekommen ist. Die volle Wahrheit wisst ihr ja doch nicht. Ich selber kann euch jetzt auch nicht viel davon schreiben. Wir sind wieder soweit in Sicherheit. Wir waren über Weihnachten eingekesselt. Was wir in den letzten drei Wochen erlebt haben, übertrifft alles Vorherige. Auf diesem Rückzug haben wir ein Elend gesehen, wie es viel schlimmer Napoleon nicht ergangen sein kann. In den nächsten Tagen gehen wir wohl wieder zurück. Wie weit noch?«
Resignation und Hoffnung wechselten sich an der Front ab. So schrieb er wenig später:
»Die Lage ist ziemlich günstig. Die Verpflegung kommt ganz gut nach.« Und der starke Frühjahrsregen und Schlamm führten zu einer relativen Ruhe an der Front, da sämtliche motorisierten Kräfte stillstanden. Die schwierige Versorgung und die allgegenwärtigen Partisanen machten den deutschen Soldaten aber selbst 120 Kilometer hinter der Front schwer zu schaffen. Fritz schrieb:
»Es scheint so, als wenn wir für längere Zeit liegen bleiben sollten […]. Wir sind über 5 Wochen fast nur mit Flugzeugen verpflegt worden. Hafer, Heu, Brot und alles was man so braucht wurde von Flugzeugen abgeworfen. Nach 3 Marschtagen von 120 km sind wir weiter rückwärts gegen die Partisanen eingesetzt. In Russland ist ja überall Front.«
Die deutschen Besatzer hatten innerhalb weniger Monate in Russland rund zwei Millionen der bis Ende 1941 gefangen gesetzten 3,35 Mio sowjetischen Soldaten an Auszehrung infolge ungenügender Essensrationen, mangelnder medizinischer Betreuung und fehlenden Schutzes vor Hitze und Kälte sterben lassen. Später wurden Kriegsgefangene ins Reich deportiert, um dort als Zwangsarbeiter Schwerstarbeit in der Rüstungsindustrie zu leisten. Die schlechte Behandlung sollte weiteren 1,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen das Leben kosten. Aber auch deutsche Soldaten fielen massenweise an der Ostfront oder kamen auf Todesmärchen in Russland und in den dortigen Gefangenenlagern um. Auch viele aus Wetzlar oder solche, die in Wetzlar ausgebildet worden waren.
Die Garnisonsstadt Wetzlar
Mit der 2. Rheinischen Schützenabteilung und späterem 8. Rheinischen Jägerbataillon wurde Wetzlar 1818 erstmals preußische Garnisonsstadt. Im Jahr 1913 begannen dann die Baumaßnahmen für die Spilburg-Kaserne, in die am 14. April 1914 die Unteroffiziersschule Biebrich einzog. Der weitere Ausbau der Kaserne wurde durch den ersten Weltkrieg und dessen Ende gestoppt.
Die Präsenz der Wehrmacht in Wetzlar ab 1935 (Foto © Archiv Ralf Schnitzler)
Erst als die Nationalsozialisten mit der Wiederaufrüstung begannen, wurde Wetzlar 1934 zum dritten Male Garnisonsstadt und die Spilburg-Kaserne weiter ausgebaut. Zunächst zog die Landespolizei-Abteilung Potsdam hier ein, später Teile der 9. Infanterie-Division, die vorwiegend aus Soldaten des Wehrkreises IX bestand, der unter anderem die Wehrbezirke Marburg, Gießen und Wetzlar umfasste. Bereits am 1.Oktober 1934 hatten die Nationalsozialisten in Gießen den Stab dieser Division als »Infanterieführer V« – eine Tarnbezeichnung bei der rechtswidrigen Erweiterung der Reichswehr – gebildet. Im November 1938 bezog das Dritte Bataillon des Infanterie-Regiments 116 dieser Division die Kaserne in der Spilburg und zog von hier 1939 in den zweiten Weltkrieg. Zunächst ging es an die Westfront und nach Frankreich, wo die Division bis 1940 im Wesentlichen als Besatzungsmacht verblieb.
Früh in den Tod »für Führer, Volk und Vaterland«
Im März 1941 wurden die Soldaten in das Generalgouvernement in Polen verlegt, von wo sie ab Juni 1941 am Russlandfeldzug teil-nahmen und sich an Kämpfen um Rostow, Kuban, Nikopol und am Bug beteiligten. Im Sommer 1944 wurde die Division schließlich in der Schlacht an der Beresina gänzlich zerschla-gen, nachdem die Sowjet-Armee mit der »Ope-ration Bagration« die Offensive zur endgültigen Niederlage der Wehrmacht eingeleitet hatte.
Wie viele Männer aus unserer Region bei den Kämpfen an der Ostfront das Leben gelassen haben wissen wir nicht, aber es waren Tausende. Viele gingen den leidvollen Weg in russische Gefangenschaft, andere gelten bis heute als vermisst. Vers links: Sehnsucht und Tod, 1941 © Sammlung Ralf Schnitzler
Junge Männer aus Wetzlar und dem Lahn-Dill-Kreis, die es an die Ostfront verschlagen hatte, starben zu Hunderten für »Führer, Volk und Vaterland«. Der »Führer« beging später Selbstmord.
Das Volk ging beinahe unter. Das Vaterland wurde zerschlagen. Aber den größten Preis zahlten vorher noch diese jungen Männer, die starben auf dem Vormarsch:
Heinz Wilhelm Martin
(Bild rechts und links)
aus Steindorf
Student,
Schütze im
Infantrie-Regiment 15,
∗ 03.09.1922 in Steindorf,
† 21.07.1941 in Smolensk,
zum Zeitpunkt seines Todes gerade mal 18 Jahre alt.
Karl Theodor Klapsch
aus Hohensolms, Obergefreiter und Melder im Infantrie-Regiment, Nachrichtenstaffel,
∗ 16.04.1919 in Hohensolms,
† 07.08.1941 in Dobryi-Dub, gestorben mit 21 Jahren.
Otto Bernhard
aus Werdorf, ∗ 13.02.1918 in Selters, † 01.01.1944 in Malaria-Lepaticha (Ukraine), zum Zeitpunkt seines Todes 25 Jahre alt.
Heinrich Wilhelm Schmid
aus Ehringshausen, Schüler, Ortskommando I/V 264,
∗ 25.05.1924 in Hohensolms,
† 05.09.1943 in Unetscha. Gestorben mit 19 Jahren.
Willi Lukas
aus Ehringshausen, Hilfsarbei-ter, Matrosenobergefreiter der Kriegsmarine, ∗ 22.07.1923 in Ehringshausen, † 11.09.1943 im Polarmeer, gestorben mit 20 Jahren.
Hans Six
aus Braunfels, Feinmechaniker, Schütze im Kradschützen-regiment, ∗ 12.01.1921 in Schönbach, † 08.07.1941 auf dem Transport zum Sanko. Gestorben mit 19 Jahren.
Karl Ludwig Mohr
aus Garbenheim, unbekannt, in welcher Einheit er diente,
∗ 08.11.1918 in Schönbach,
† 09.01.1944 im Feldlazarett 20 Chmijelnik (Ukraine), wurde 22.
Und doch werden die schweren Verluste von den betroffenen Familien immer noch als heldenhafter Beitrag für das große Ziel des Großdeutschen Reiches angesehen. So die Familie Uhl aus Laufdorf am 21. 2. 1943 an den Vorgesetzten ihres Sohnes, der ihnen dessen Tod mitgeteilt hatte:
»Sehr geehrter Herr Leutnant Dr. Bossel,
für Ihre warme Anteilnahme zum Heldentode unseres lieben Sohnes Richard danken wir Ihnen herzlichst. Es war uns besonders wertvoll diese anerkennenden Worte aus dem Munde seines Vorgesetzten zu hören. Der Heldentod unseres lieben Richard hat eine große Lücke in unsere Familie gerissen. Wir wollen versuchen Trost darin zu finden, daß wir durch den Tod unseres lieben Richard mit unserem eigenen Blute an dem Aufbau unseres großen Deutschlands beigetragen haben.
Mit den besten Grüßen und den besten Wünschen,
Ihre Familie Karl Uhl.«
Die Produktion von »Kanonenfutter« ging weiter
Ein ganzes Bataillon des Fahnenjunker-Grenadier-Regiments aus Wetzlar wird im letzten Aufbäumen gegen den sowjetischen Vormarsch verheizt.
Die Produktion von »Kanonenfutter« ging in Wetzlar auch während des Krieges weiter. So beherbergte die Spilburg-Kaserne zunächst ein Infanterie-Ersatz-Bataillon, vor allem aber diente sie der Ausbildung neuer Rekruten in Unteroffiziers-Vorschule, Unteroffiziersschule und zuletzt Infanterie-Fahnenjunker-Schule.
Schießübungen für Fahnenjunker auf der Spilburg 1944 © Sammlung Ralf Schnitzler (Wetzlar).
Hierher erhielt am 5. Februar 1945 auch der junge Hugo Reinhart seinen Marschbefehl, der im September 1944 noch eiligst einberufen worden war. Die Wehrmacht brauchte ja Soldaten! In seinem Buch »Einer von denen war ich« berichtet er später. »Ja, Hitler braucht Kanonenfutter!!!« sagte sein Vater. Hier auf der Kriegsschule wurde am 6. Februar ein Regiment aufgestellt. Es bestand aus zwei Bataillonen und 2 Kompanien und hieß Fahnenjunker-Grenadier-Regiment 1242.
Zusammengestellt war es aus Fahnenjunkern der Kriegsschule, jungen Soldaten der Wehrmacht und einer kleinen Gruppe vom Volkssturm. Nach Ausrüstung mit neuen Waffen wurde Hugo mit seinen Kameraden schon nach einigen Tagen in Waggons verladen und in einem langen Zug nach Osten verfrachtet. Das Regiment 1242 wurde der Panzergrenadier-Division Kurmark zugeschlagen, die in einem letzten Aufbäumen den Vormarsch der Sowjet-Armee aufhalten sollte.
Otto Kuchenbauer, einst begeisterter Hitlerjunge, berichtete, wie die 15- bis 16-jährigen Jungen und die alten Männer seiner Gruppe die Front im Bereich südlich von Küstrin (an der Oder, heute polnische Seite) halten sollte:
»Nach einem ersten Vorstoß kam die Kompanie unter Dauerfeuer. Allein auf unseren Abschnitt feuerten die Russen rund 10.000 Granaten aus allen Kalibern ab. Danach wurden die deutschen Linien mit Panzern angegriffen. Neben mir lagen blutjunge Soldaten im Schützengraben, die heulten und riefen pausenlos nach ihren Müttern.«
Und wie beklemmend es war, »wenn der Kompaniemelder zu mir kam und berichtete, dass schon wieder einer gefallen war«.
Das von Hans-Wolfgang Schöne kommandierte II. Bataillon des Fahnenjunker-Grenadier-Regiments verteidigte das Gut Klessin mit 400 Mann für 300 Stunden erbittert. Für diese verwegene Tat erhielt er per Funkspruch das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Welch ein Zynismus! In der Nacht vom 21. auf den 22. März 1945 befahl Schöne den Rückzug. Nur noch 70 seiner erschöpften, abgekämpften, ausgebluteten, aber niemals wankenden Jungen lebten. Zum NS-Gegner geworden sagt Otto Kuchenbauer: »Das waren Lumpen und Verbrecher, die uns erst verführt und dann erbarmungslos in den Tod gehetzt haben“ und »Meine Generation hat leidvoll erfahren müssen, dass es keinen Krieg gibt, der die Probleme dieser Welt jemals würde lösen können.«
Am 29. März 1945 befreiten amerikanische Truppen Wetzlar. Die Reste der Panzergrenadier-Division »Kurmark« schafften es, nach Jerichow an der Elbe auszubrechen, wo sie im Mai 1945 gegenüber den US-amerikanischen Truppen kapitulierten. Am Ende hatte der Zweite Weltkrieg fünfzig Millionen Menschen das Leben gekostet, alleine 25 Mio. in der Sowjetunion…