Lesung aus Tomasz Kiryllows Buch:
»Und ihr werdet doch verlieren!«

Zur LESUNG zum ANTIKRIEGSTAG kamen in die Wetzlarer Kulturstation rund 80 Besucherinnen und Besucher. Irmgard Mende und Chris Sima lasen aus dem Buch von Tomasz Kiryllow »UND IHR WERDET DOCH VERLIEREN!« Begleitet wurde die Lesung musikalisch von Samira Rafei und Regina Steger.

Die Veranstaltung fand am Sa., 1. September 2017 in der Wetzlarer Kulturstation statt.

Zum Bild oben: Das Ensemble zur musikalisch begleiteten Lesung: Irmgard Mende (links) und Chris Sima (rechts) mit musikalischer Begleitung von Regina Steger (links vorne) und Samira Rafei (rechts vorne) @ Bild: Arne Beppler

In dem Aufklappmenü finden Sie dazu einen Bericht von Klaus Petri und eine Fotostrecke © Arne Beppler

Zur LESUNG zum ANTIKRIEGSTAG kamen in die Wetzlarer Kulturstation rund 80 Besucherinnen und Besucher. Irmgard Mende und Chris Sima lasen aus dem Buch von Tomasz Kiryllow »UND IHR WERDET DOCH VERLIEREN!« Begleitet wurde die Lesung musikalisch von Samira Rafei und Regina Steger.

Bericht von Klaus Petri:
Am Antikriegstag (1. September) – zwei Tage vor dem spektakulären Entschärfen einer britischen Fliegerbombe in Frankfurt/Main – wurde in der Wetzlarer Kulturstation die Geschichte des polnischen Zwangsarbeiters Tomasz Kiryllow erzählt, der wegen des Verdachts auf  »Sabotagetätigkeit« bei der Herstellung von Kriegsgeräten (Flugzeugmotoren) in Wetzlar im Mai 1943 zunächst ins »Arbeitserziehungslager Heddernheim« und dann ins KZ Buchenwald überstellt wurde. Der damals 18-Jährige wollte durch »Bummelei und Ausschuss-Produktion« bei der Firma Pfeiffer Apparatebau in der Brühlsbachstraße (heute: Hessenkolleg-Gebäude) die Dauer des Krieges verkürzen helfen und den »faschistischen Banditen« Sand in deren scheinbar gut geöltes Räderwerk werfen.

»Und ihr werdet doch verlieren!« heißt der Titel seiner 1985 im Ostberliner Dietz-Verlag auf Deutsch erschienenen Lebenserinnerungen. Als Jugendlicher wird er zusammen mit Schulfreunden 1942 aus dem Ort Soriki im weißrussisch-polnischen Grenzgebiet nach Deutschland verschleppt und auf einer Art Sklavenmarkt in Kelsterbach zusammen mit 60 anderen für die Rüstungsfabrikation in Wetzlar »eingekauft«.

Die jungen Leute sollten als Dreher für den Endsieg der deutschen Wehrmacht schuften und dabei die heimischen Facharbeiter ersetzen, die als »Feldgraue« ihren Dienst im »Kriegshandwerk« ableisteten. Irmgard Mende und Chris Sima hatten Kindheitserinnerungen vom Elternhaus und vom Baden in naturbelassenen Seen an den Anfang ihrer szenischen Lesung gestellt.

Als der junge Pole die am Bahnsteig hängende, in gotischen Buchstaben gesetzte Aufschrift »Wetzlar an der Lahn« liest, begegnet ihm eine andere, fremde Welt:

»Die hohen, mehrstöckigen Häuser gefielen mir. Keiner von uns hatte bisher aus der Nähe eine so schöne Stadt gesehen. Über die breiten Asphaltstraßen eilten Autos, Motorräder und Fahrräder. Auf den Gehwegen drängten sich gut gekleidete Passanten. Die Geschäfte hatten große Schaufenster«.

Im mit Stacheldraht ›gesicherten‹, zwischen Kernstadt und Garbenheim gelegenen Lager »Taubenstein« angekommen, merken die jungen »Ostarbeiter«, dass diese Schönheiten für sie unerreichbar bleiben werden. Ihre Arbeitsuniformen sind mit einer Nummer versehen und der rassistische Hochmut der meisten Deutschen sieht in ihnen »Untermenschen«, die an sechs Tagen in der Woche jeweils zwölf Stunden lang ohne Murren ihre Arbeitsnorm zu erfüllen haben.

»Auf dem Bürgersteig vorübergehende Menschen sahen uns verächtlich, mit offener Feindseligkeit an. Ein vielleicht siebenjähriger Junge spuckte in unsere Richtung. Wir begriffen nicht, woher dieser Hass kam«,

erinnerte sich Kiryllow 1980 beim Abfassen des Buchtextes an seinen Wetzlar-Aufenthalt. Die gehaltvolle Erbsensuppe, deren leckerer Geruch aus der Betriebskantine zu vernehmen war, bleibt den deutschen Beschäftigten vorbehalten. Den »Ostarbeitern« wird täglich eine dünne, übel riechende Kohlrüben-Brühe verabreicht. »Gedanken ans Essen und quälender Hunger sind ein durchgehendes Motiv in Kiryllows Lebenserinnerungen«, fasste Chris Sima zusammen.

Ein ihm wohlgesinnter Vorarbeiter namens Hans Schmidt hinterlegt heimlich Brot und gelegentlich Obstkuchen in der Schublade am Arbeitsplatz des jungen Polen, ein Hundeführer von der Wachmannschaft im Zuchthaus Heddernheim lässt ihn am Hundefutter teilhaben.

Als er schließlich im Steinbruchkommando von Buchenwald angekommen ist, wiegt der 19-Jährige gerade noch 48 Kilogramm. Der erste Kuss und die Faszination der Jugendliebe gehören hier auch schon zum Erfahrungsschatz des jungen Mannes: Die jungen Burschen fühlten sich durch den natürlichen Charme und die schön gesungenen Volksweisen junger Russinnen und Ukrainerinnen angezogen, die in einem von der Firma Leitz betriebenen Lager untergebracht waren. Samira Rafei (Violine) und Regina Steger (Akkordeon) intonierten an dieser Stelle die bekannten Melodien von »Katjuscha« und »Kalinka«, was zugleich Wehmut, Ernst und Lebensfreude des vor über 70 Jahren Erlebten wiedergab.

Chopins Trauermarsch – als Klaviervortrag – illustrierte eine Szene im ausgebombten Köln, wo Kameraden von Kiryllow beim Bombenräumen zerfetzt wurden. Das Außenlager der 3. SS-Brigade Köln-Deutz ist eine Durchgangsstation für die Buchenwaldhäftlinge, die zu Schanzarbeiten am »Atlantikwall« nach Frankreich verlegt werden.

Dort gelingt dem Verfasser von »Und ihr werdet doch verlieren!« die Kontaktaufnahme zur französischen Resistance, die seine Flucht unterstützt und für ihn »Räuberzivil« in einer Scheune hinterlegt. Mit einer Waffe in der Hand nimmt er im August 1944 an der Befreiung von Paris teil. Im Nachkriegspolen arbeitet er als Direktor einer Konservenfabrik in Schlesien und bemüht sich zeitlebens um Kontaktaufnahme mit früheren Mithäftlingen und Weggefährten.

1987 besuchte er – vier Jahre vor seinem Tod – auf Einladung der IG Metall den 45 Jahre zuvor unfreiwillig eingenommenen früheren Arbeitsplatz in der Rüstungsproduktion des Deutschen Reiches und unternimmt mit zwei Dutzend Geschichtsinteressierten eine Stadtführung. In gleich mehreren Sprachen konnte er Partisanenlieder vortragen. Seit 2013 erinnert eine Gedenkplakette am Portal des Hessenkollegs an Kiryllow und die rund 8.000 anderen Menschen, die während des Krieges in Wetzlar Zwangsarbeit verrichteten.

Ernst Richter hatte als Vorsitzender des Vereins »Wetzlar erinnert« in das Thema eingeführt und das Ausstellungsprojekt »Zwangsarbeit in Wetzlar« erläutert. Die rund 70 Gäste der Veranstaltung dankten den Akteuren mit viel Applaus. Irmi Richter – Koordinatorin der antifaschistischen Stadtführung »Weg der Erinnerung« – überreichte rote Rosen als Anerkennung für eine eindrucksvolle Lesung und eine gelungene musikalische Illustration zu einem zugleich ernsten und wichtigen Thema.