Ernst Richter
(Vorsitzender des Vereins Wetzlar erinnert e.V.)
Dear Lilian Rosenthal,
daer Ted Rosenthal!
Liebe Lotte, Lily, Charlotte, Emma und Tara.
Lieber Adrian und lieber Till
Sehr geehrte Damen und Herrn aus der Stadtgesellschaft und der Politik,
Liebe Schülerinnen und Schüler, werte Eltern und Vertreter:innen des Ehemaligen- und Fördervereins
Liebe Freundinnen und Freunde von Wetzlar erinnert e.V.,
insbesondere liebe Gisela Jäckel – unser Ehrenmitglied.
Heute wird eine neue Gedenktafel zu Ereignissen der NS-Zeit in Wetzlar« enthüllt. Es wird dann seit Mai 20218 die 21. Tafel ihres Typs auf Wetzlars Stadtgebiet sein.
Zu jeder dieser Tafeln gab es eine feierliche Enthüllungsveranstaltung, alle in ihrer Art einzigartig und würdevoll, dabei sehr unterschiedlich von den Formaten, mit unterschiedlichsten Kreisen von Tafelstiftern und Akteuren, die die Tafeln sowie die dazugehörigen Websites gemeinsam gestaltet haben.
Aber ich darf Ihnen jetzt schon versichern: Diese Enthüllungsveranstaltung wird sich durch Ihre Art von den bisherigen in einer besonderen Form hervorheben.
Lieber Ted,
wir sind Dir sehr dankbar, dass Dein Trio hier und heute in Rahmen einer Gedenkveranstaltung ein Jazz-Konzert der Spitzenklasse einlegen wird.
Tausend Dank dafür!
Und – meine Damen und Herrn – die musikalische Einlage ist nicht dazu gedacht, die eineinhalb Stunden Zeit, die wir zur Verfügung haben, kurzweilig zu überbrücken. Es geht in diesem Fall um einen engen emotionalen Bezug zu dem Ereignis, dem wir heute gedenken.
Erich Rosenthal haben seit 1939 große, selbst gemachte Vorwürfe geplagt, weil es ihm nicht gelungen war, die engsten Verwandten – wie z.B. seine Eltern oder den jüngere Cousin Ernst – aus den Klauen der Nazis zu befreien, ihr Leben zu retten.
Vergeblich, wie wir wissen. Das sind Wunden, die nicht heilen wollen.
Es sind eben nicht nur diejenigen, die in der Shoah ihr Leben lassen mussten, denen wir zu Gedenken haben. Es geht auch um die Überlebenden, durch das traumatisch erlebte Geschehen gebrandmarkt.
Und: Dieses Stigma übertragen die Überlebenden auch auf ihre Nachkommen. Erichs Sohn, der Jazzpianist und Komponist Ted hat sich schon seit langer Zeit mit der Geschichte seines Vaters und dessen Familie beschäftigt.
Ted hat im Auftrag der Metropolitan Opera (NewYork) eine Jazz-Oper komponiert, die das Schicksal seines Vater und dessen Familie im Speziellen; das Leid durch Krieg, Flucht und Vertreibung im Allgemeinen aufgreift. Sie hießt »Dear Erich!«.
Eine großartige Form einer aktiven Erinnerungs- und Gedenkkultur. Deshalb möchte ich der Stadtgesellschaft von Wetzlar einen Gedanken auf den Weg geben, der mir gestern beim Forulieren dieser Zeilen in den Kopf stieg: Wie wäre es, die Jazz-Oper »Dear Erich« anlässlich der Wetzlarer Festspielen zu zeigten?
Anrede,
im vergangen Jahr begannen Schüler*innen aus dem Geschichtsleistungskurs der Klassen 13 damit, die Schicksale der drei jüdischen Schüler Hans Stern, Erich und Ernst Rosenthal in den Fokus zu nehmen. Die beeindruckenden Ergebnisse von Lotte Heintz, Charlotte Hellhund, Lily Jestram, Adrian Keller, Emma Küthe, Till Schäfer und Tara Schmidt sind als Gemeinschaftsaufgabe auf dieser Seite dokumentiert, mit dem QR-Code auf der Tafel abrufbar.
Die Schüler*innen des Geschichtsleistungskurses der 13. Klassen hatten im Rahmen ihrer Recherchetätigkeiten u.a. auch den Kontakt zu Ted, dem Sohn von Erich Rosenthal gesucht. Ihnen ist zu verdanken, dass der Jazzmusiker nach Wetzlar kam. Dabei war Ted während der »Woche der Begegnung« im Jahre 1989 mit seinem Vater schon einmal nach Wetzlar gekommen. Die Stadt Wetzlar hatte damals auf ihre Kosten die Überlebenden der Shoah zu dieser Begegnung eingeladen, die einst Wetzlar mal ihre Heimat nannten. Solche Treffen hatten vor allem Dank des Ehepaars Doris und Walter Ebertz stattgefunden.
Aber das ist wiederum heute schon ein Teil der Geschichte und in der Gefahr, vergessen zu werden. Denn die überlebenden Zeitzeugen sind so gut, wie alle verstorben.
Im Jüdischen gibt es die Überzeugung, dass ein Mensch erst dann vergessen ist, wenn sich niemand mehr an seinen Namen erinnert. In diesem Sinne haben die sieben Schüler*innen die Rollen von »Zweitzeug*innen« übernommen, indem sie die Schicksale von Hans, Erich und Ernst in Erinnerung gerufen haben.
Unser Verein ist Lotte, Charlotte, Lily, Adrian, Emma, Till sowie Tara zu großem Dank verpflichtet!
Aber unsere Gesellschaft auch.
Warum? Ich möchte zum Abschluss aus der Einleitung zitieren, die der Journalist Martin Heller zu dem Beitrag der sieben Schüler:innen über Hans, Erich und Ernst in der heimatgeschichtlichen »Damals«-Seite der WNZ geschrieben hat. Und dem möchte ich mich voll und ganz anschließen:
»Hans, Erich und Ernst waren Schüler wie wir. Ihr Schicksal darf nicht vergessen werden. Ihr Schicksal darf sich heute nicht wiederholen.« Diese Worte setzten die Primaner der Goetheschule unter ihren Text. Ihr Appell, der aus der Recherche über das Schicksal der jüdischen Schüler ihrer Schule im Dritten Reich erwachsen ist, ist heute wichtiger denn je.
Und doch ist es schade, dass sie appellieren müssen.
Hätten doch alle so wie sie und ihre Lehrer aus der Geschichte gelernt! Gerade heute erleben wir wieder Ausgrenzung und Gewalt, gespeist aus einem menschenfeindlichen Rassismus, aus Nationaltümelei, getrieben von Lügen und Hetze in den elektronischen Propagandaformaten der »Sozialen Medien«.
In nächster Nähe erleben wir, wie sich schon 14-Jährige verabreden, Terroranschläge zu begehen, nehmen wahr, dass rechte Gewalt allenthalben zunimmt, müssen zuschauen, wie fremdenfeindliche und faschistische Inhalte schleichend hoffähig gemacht werden. All das zeigt, wie wichtig das Erinnern ist, damit die Schüler von heute und Wähler von morgen nicht auf jene Politiker mit den einfachen, tumben Parolen hereinfallen.
Erinnerte, Gebildete, Kritische, Hinterfragende, sie alle sind Diktatoren, Autokraten und ihren Nacheiferern ein Gräuel. Seien wir erinnert, seien wir wachsam! Damit es nicht so kommt wie 1933 hier bei uns, damit es hier nicht so beginnen kann, wie es gerade an der US-Elite-Uni Harvard beginnt, damit politische Bevormundung, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit keine Chance haben.«
Soweit die Worte von Martin Heller. Ich danke danke ihm sehr dafür und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!