»Wieder Mensch sein«
lautet die deutsche Übersetzung der Autobiografie von Abram (Abe) Korn. Korn wurde 1923 in Lipno, einer Kleinstadt in der Nähe Warschaus, geboren. Vom Beginn des Krieges an bis zu seiner Befreiung am 11. April 1945 aus dem KZ Buchenwald durchlitt er alle Phasen und Stationen des teuflischen Plans der Nazis, die Juden in Europa auszurotten. Er überlebte mit viel Glück, Mut und der Hilfe guter Menschen; seine Familie, Vater, Mutter und die beiden Schwestern, allerdings nicht. Als einen Überlebensfaktor nennt er die Hilfe einzelner Deutscher, die menschlich und mitfühlend waren. Ihnen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. In seinen nächtlichen Albträumen haben das Leiden und die Demütigungen nie aufgehört.
»Es gibt kein Ende des Erinnerns«, hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 75. Jahrestag der Befreiung von dem menschenverachtenden NS-System festgestellt. Eine Binsenweisheit für Historiker. Angesichts jüngster Umfragen muss der Akzent auf der richtigen Erinnerung liegen. Nur 44 Prozent der Deutschen erachten Ehrungen zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft für wichtig (Ipsos Umfrage). 53 Prozent der Deutschen stimmen folgendem Satz zu: »Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben.« Ein Volk weiterhin auf der Flucht vor der eigenen Vergangenheit?
Nur noch wenige Zeitzeugen können von persönlich Erlebtem berichten. Umso wichtiger werden schriftliche Aufzeichnungen wie die des polnischen Juden Abram Korn, die bisher nur in Englisch vorlagen (Abram Korn and Joseph Korn, Abe‘s Story, 1995) und von Thomas Welling aus Wetzlar nun dankenswerterweise ins Deutsche übersetzt sind.
Abram Korn kam eher zufällig nach Wetzlar. Wetzlars Kasernen waren in Lager für Displaced Persons umgewandelt worden, aber er lebte nicht dort, sondern im Bootshaus an der Lahn und später in der Nauborner Straße. Bei Buderus konnte er eine Elektrikerlehre absolvieren, danach ein Studium an der Ingenieurschule Gießen. In Wetzlar lernte er seine spätere Frau kennen, Ellie Müller. Sie heirateten am 6. August 1949, und bald darauf konnte er mit Hilfe eines amerikanischen Ehepaars, die ein Jahr für ihn bürgten, in die USA ausreisen. Seine Frau holte er 1950 nach. Ab 1969 hat Abe Korn seine Erinnerungen aufgeschrieben.
Am 7. August 1972, kurz nach Beendigung des letzten Kapitels, verstarb er. Von den drei Kindern war es vor allem der älteste Sohn, Joseph, der sich besonders der Memoiren seines Vaters annahm. Er reiste nach Warschau, Auschwitz und Buchenwald, sprach mit noch lebenden Freunden seines Vaters und bereitete die Aufzeichnungen für den Druck vor. Das Buch erschien 1995 in den USA. Thomas Welling übersetzte das Buch, nachzulesen im 52. Jahrband des Wetzlarer Geschichtsvereins, ins Deutsche.
Wir bieten gemeinsam mit Thomas das Buch in Form einer PDF-Edition an. Die PDF-Ausgabe kann hier downgeloadet werden. Zum »Einlesen« haben wir nachfolgend ausgewählte Passagen dieser Schrift auf dieser Seite eingestellt. Hierzu klappen Sie im nachfolgenden Kapitel die Zwischenüberschriften auf.
Am 26. Januar 24 fand eine erste, von Wetzlar erinnert organisierte und von Chris Sima, Irmgard Mende und Ina Steger gestaltete und durchgeführte Lesung in der Stadtbibliothek Wetzlar statt.
—› Die öffentliche Lesung von Chris Sima und Irmgard Mende Link zum Beitrag
Wir bieten Lesungen in Schulen an:
Nach der Presseberichterstattung über die Veranstaltung am 26.01.24 erreichte uns eine Anfrage zur einer ebensolchen Lesung aus Germersheim, und zwar für eine 8. Klasse des dortigen Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasium. Die Klasse hatte sich im Vorfeld mit der Thematik beschäftigt und zeigte sich an einem Zeitzeugenbericht interessiert. So entwickelten Thomas Welling und Jochen Graf ein Veranstaltungsformat, welches geeignet ist, die Erlebnisse des Holocaust-Überlebenden Abram Korn in schulischen Veranstaltungen zu vermitteln.
—› Zum Angebot der Lesung an Schulen Link zum Beitrag
Zum Einlesen:
Ausgewählte Kapitel aus dem Buch
Die nachfolgenden Textpassagen stammen aus der Übersetzung des englischen Buches »Abe’s Story«, welches 1995 erschien. Die deutsche Übersetzung wurde 2020 vom Wetzlarer Geschichtsverein in seinem Jahrband veröffentlicht und von Thomas Welling erstellt. Sie bilden die Grundlage für eine mögliche Lesung in Schulen.
Legende zur nachfolgenden Texterläuterung
Zur besseren Lesbarkeit haben wir die Übergänge und die Zitaten aus dem Buch farblich hervorgehoben:
- Schwarzer Text:
Ausgewählte Textpassagen aus dem Buch - Blauer Text kursiv
Einleitungen und Übergänge zwischen einzelnen Textpassagen
Meine Geschichte beginnt 1939, als ich 16 Jahre alt war. […] Meine Familie lebte in Lipno in Polen, einer Stadt mit ungefähr 30.000 Einwohnern nahe Warschau. […] Mein Vater Joseph führte unser kleines Geschäft für Bauholz am Rande der Stadt, das uns von den Eltern meiner Mutter vererbt worden war. […] Er war ein tief religiöser Mensch und stolz auf seine jüdische Herkunft. […] Meine Mutter, Hannah, war eine starke Frau, die sich ganz in den Dienst unserer Familie stellte. Mit 16 Jahren wurde ich in die Geschäfte einbezogen und half meinen Eltern, unsere Familie zu ernähren.
Meine Schwestern waren jünger als ich. Gitel war 13 und Mirjam war 10. […] Wir hatten ein glückliches Leben in unserer netten Gemeinde und dachten, dass sich das niemals ändern würde – bis zum Angriff der Luftwaffe.
Die Ereignisse jener Nacht bestürzten uns alle. Der Überraschungsangriff hinterließ unsere Mitbürger fassungslos; sie hofften auf Neuigkeiten und bereiteten sich auf das Schlimmste vor. Nach drei Tagen gaben die Stadtoberen bekannt, dass sich alle männlichen Bürger im Alter von 16 bis 55 Jahren in Wloclawek, einer Stadt ungefähr dreißig Kilometer entfernt, einfinden sollten. Die polnischen Verteidigungskräfte wollten Lipno aufgeben und eine Verteidigungsstellung gegen die eindringenden Deutschen in Wloclawek errichten. Sie hatten keine Pläne für die Frauen, Kinder und unseren Besitz gemacht, in der naiven Annahme, dass die Deutschen ihnen nichts anhaben würden. Sie gingen davon aus, dass im Krieg ausschließlich die Soldaten in die Kampfhandlungen verwickelt werden und die Zivilbevölkerung verschont bliebe. […]
Eines Tages schenkte unser Cousin, der ein kleines Geschäft für Stoffe und Kurzwaren besaß, mir einen kleinen Teppich. Ich war überrascht und froh, aber er war weder großzügig noch rücksichtsvoll. Er wusste, dass die deutschen Besatzungskräfte bald alles enteignen würden. Da eine strikte Ausgangssperre angeordnet war, wartete ich, bis es zulässig war, auf die Straße zu gehen und den Teppich nach Hause zu tragen. Ich hatte kein Glück. Janke, ein ehemaliger Angestellter und Freund von uns, entdeckte mich und den Teppich. Er war jetzt in voller polnisch-deutscher Militäruniform. Da dieser Mann seinen Lebensunterhalt seit Jahren auf unserem Bauholz-Hof verdient hatte, nahm ich an, dass er zulassen würde, dass ich meinen Weg fortsetzte. Ich hatte falsch gedacht. Er ergriff mich, wie er es mit einem gewöhnlichen Kriminellen getan hätte, und führte mich zu meinem Haus.Als meine erschütterte Mutter die Tür öffnete und mich sah, den Teppich und Janke mit der Hand auf seiner Pistole, verstand sie die Situation unmittelbar. Sie kniete weinend vor ihm und flehte: »Bitte, nimm den Teppich und lass meinen Sohn in Frieden.« Janke nahm den Teppich und ließ mich und meine Mutter in Ruhe. Er hätte mich beschuldigen können, deutsches Eigentum zu stehlen, oder irgendein anderes Verbrechen erfinden können.
Bald befahlen die Nazis den jüdischen Männern, alles, was Gold enthielt, zu einem angegebenen Sammelplatz zu bringen. Dort erklärte der Kommandant oder höchste Nazi-Offizier, was wir tun mussten, um als Bürger der Gemeinschaft weiter leben zu können. Wir wussten, dass nicht zu gehorchen den Tod bedeuten konnte, aber manche versuchten dennoch, ihren Besitz zu retten.
Nachdem wir unseren Goldschmuck abgeliefert hatten, ließ uns der Kommandant offen wissen, dass die Juden die Schuldigen waren. »Ihr Juden seid verantwortlich für den Krieg«, sagte er uns, »und ihr müsst die Kriegskosten tragen. Wir werden euer ganzes Gold dazu benutzen, den Krieg zu gewinnen. Falls ihr immer noch irgendwelches Gold versteckt, tut ihr das bei Todesgefahr für euch selbst und eure Familien. Geht dieses Risiko nicht ein.« Er schwieg einen Augenblick, um zu sehen, ob noch jemand mit mehr Wertsachen vortrat. Doch niemand rührte sich. »Jetzt, wenn ich bis drei gezählt habe«, schnauzte er, »verschwindet ihr besser schnell.« Vielleicht liefen ein paar Leichtfüßige schnell genug, um der Prügelei, die folgte, zu entkommen. Polnisch-deutsche Uniformierte, Hilfspolizei genannt, umstellten den Marktplatz. Diese ehemaligen Nachbarn von uns hatten ihren Spaß daran, mit ihren Knüppeln und Peitschen auf unsere jüdischen Körper einzuschlagen.
Der Sprecher der jüdischen Gemeinde mit seinem gelben Armband sagte uns am nächsten Tag, dass wir zu den ersten von vielen Juden gehörten, die unter erzwungener Obdachlosigkeit zu leiden hätten. Die Nazis zwangen die ganze jüdische Gemeinde von Kutno, mehr als 300 Familien, dazu, auf eigenen Füßen in dieses Lager zu marschieren. Langsam, ohne Unterbrechung, füllte sich unser »Zimmer« mit anderen Juden aus Kutno. Die Menge war unbeschreiblich und Versorgungseinrichtungen waren praktisch nicht vorhanden. Mehr als 2.000 Menschen teilten sich nur eine Toilette, eigentlich eine offene Grube, und es gab nur eine Handpumpe zum Wasserholen. Wir mussten stundenlang in der Schlange warten.
[…]Jeden Tag hofften wir, dass dieser Alptraum durch ein Wunder beendet würde, dass wir wieder in unseren eigenen Häusern wären. Bis dieser Tag kam, wussten wir, dass wir improvisieren mussten, um überhaupt existieren zu können. Wir fanden Holzreste für den Herd und kauften Tee auf dem Schwarzmarkt. Wir kochten ein improvisiertes Sabbatmahl, nur mit Suppe und Tee. Das Leben ging trotz seiner Unmöglichkeiten weiter.
[…]Im März 1940, als sich der Griff des Winters gelockert hatte, brachten sie uns schließlich von der temporären Anlage in das Ghetto Kutno.
[…]Wir hatten unseren Holzvorrat fast vollständig erschöpft. Jedes Stückchen, jeder Zweig, jedes Holzteilchen wurde verbrannt, um uns warm zu halten. Die menschlichen Ausscheidungen und der Müll sammelten sich und quollen über. Gestank und Läuse kamen. Unsere unterernährten Körper hatten einen Kampf zu führen – gegen den Ausbruch von Typhus.
Das Leben im Ghetto drehte sich jetzt um eine nie endende Routine in den Warteschlangen. Wir hatten immer noch nur eine Toilette und eine Wasserpumpe, um die Bedürfnisse von rund 2.000 inhaftierten Juden zufriedenzustellen. Ich erinnere mich, wie ich in der langen, langen Schlange gewartet habe, bis ich an der Reihe war, um Wasser für meine Familie zu holen. Als ich den Pumpengriff erreichte, schaute ich in die Gesichter der Wartenden. Ihre zitternden Hände und abgemagerten Beine stützten schwache Körper, die nur noch halbwegs lebendig waren. Mit diesem Anblick in meinem Kopf konnte ich nicht anders, als für sie dazubleiben und Wasser für diejenigen zu pumpen, die nicht mehr selbst pumpen konnten.
[…]Typhus ist eine besonders hässliche, schmerzhafte und beängstigende Krankheit, aber ein schneller Weg, um zu sterben, wenn er nicht behandelt wird. Durch Läuse verbreitet, verursacht er hohes Fieber und starken Husten, und er schwächt den Körper vollständig. Am Dienstag hatte ich noch mit Schloma und Faibel gesprochen; am Mittwoch waren sie beide tot. Angst und Hilflosigkeit breiteten sich zusammen mit dem dunklen, düsteren Tod aus. Jung und Alt starben wahllos. Sie starben an der Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen.
[…]Das Verhängnis starrte uns ins Gesicht. Unsere einzige Hoffnung auf Überleben bestand in der Flucht – so lange unsere Füße uns noch tragen konnten.
Der zwei Meter große Gendarm packte mich schnell und warf mich auf eine lange Bank. Er setzte sich auf die Bank, nahm meinen Kopf zwischen die Knie und hielt meine Hände. Der andere fing an, mich mit einer Peitsche zu schlagen. »Sag uns die volle Wahrheit oder wir werden dich zu Tode peitschen!«, wiederholten sie. Ich hielt schweigend durch und wurde von der Tortur ohnmächtig. In einem halb bewusstlosen Zustand hörte ich einen der Gendarmen sagen: »Wenn dieser kleine Jude stirbt, wirf ihn einfach auf den Müllhaufen und ruf die Yeddishe Gemeinde an,um ihn abzuholen und zu begraben.« Die Auspeitschung wurde kräftig durchgeführt. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, befand ich mich in einer Gefängniszelle und lag in meinem eigenen Blut. […] Der Wachmann kontaktierte meinen Onkel und erlaubte ihm, mich mitzunehmen. […]
Nachrichten über meinen Zustand und meine Bedürfnisse verbreiteten sich im ganzen Ghetto. Mein guter Freund Abram Danziger organisierte meine Jugendfreunde in Schichten, um sich zu mir zu setzen. Sie haben mich nie ohne Gesellschaft gelassen. In den nächsten Tagen normalisierte sich meine Temperatur, und ich konnte jetzt hoffen, dass ich leben würde. […]
Eines Tages kam Herr Chaim Arnavi zu meiner Rettung. Obwohl er mich kaum kannte, war er davon überzeugt, anderen helfen zu wollen, egal was es ihn kostete. Herr Arnavi wusste, dass die Rettung eines Lebens die letzten Ersparnisse wert ist. Herr Arnavi nutzte sein Geld verschwenderisch und aufopferungsvoll und schaffte es fast immer, Milch und Orangen für mich auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen. Mit dieser Nahrung und Pflege kehrte meine Kraft langsam zurück. Mein Rücken war immer noch schwarz von Blutergüssen und mein Körper war immer noch schwach. Ich dankte Gott, dass ich am Leben war und langsam heilte.
Probleme bringen Menschen zusammen, manchmal sogar mehr als Glück. Mit den täglichen Besuchen von Herrn Arnavi bei mir wuchs unsere Freundschaft. Er sagte mir immer wieder, dass er weiter versuchen würde, mir zu helfen. Ich wiederum war erfüllt von tief empfundener Wertschätzung für seine Großzügigkeit. »Lieber Gott«, betete ich, »hilf mir und gib mir Kraft, damit ich die Güte und die Opfer dieses feinen Mannes für mich zurückzahlen kann.« Es dauerte einige Zeit, bis dieses Gebet erhört wurde.
Das deutsche Militär arbeitete wie eine Maschine. Ohne Zeit zu verlieren, versammelten sie uns an diesem Abend und gaben uns ein Stück Seife und ein sauberes Handtuch. Wir erhielten folgende Anweisungen: (1) Das uns anvertraute Gut – Decken, Handtücher usw. – sollte sorgfältig gepflegt werden. (2) Wenn wir etwas davon verlieren oder beschädigen würden, würden wir streng bestraft. (3) Unsere Mission bestand darin, für die deutschen Streitkräfte zu arbeiten.
Sie bauten die Lager-Routine so auf, dass sie die größte Arbeitsleistung bei kleinster Investition erzwingen konnten: einfaches Wohnen und magere Nahrung. Im Wesentlichen waren wir Sklaven der deutschen Wehrmacht. Unsere tägliche Routine bestand darin, um 5:00 Uhr morgens aufzustehen, um 5:20 Uhr abzuspülen, um 5:30 Uhr zu frühstücken, um 5:40 Uhr aufzuräumen und um 6:00 Uhr zum Zählappell anzutreten.
Der Tag hatte einen langen Marschanteil. Wir marschierten einen Block zur Latrine, einen Block zur Küche und eine Stunde zur Baustelle. Wir marschierten bei Regen, Sonnenschein oder Sturm. Unsere Aufgabe bestand darin, einen Abschnitt von Hitlers Autobahn zu bauen, einen Abschnitt, der Berlin mit Warschau und Warschau mit Moskau verbinden sollte.[…]
Mir war jetzt klar, dass die Nazis mich in mehr als einer Hinsicht nur als Werkzeug benutzten und dass mein Leben nichts wert war. Ich verstand schließlich, dass der Wert nur darin bestand, welche Arbeitsleistung ich für die Nazis erbringen konnte. Mein Überleben hing von dieser neuen Erkenntnis ab.
Die Dinge sollten schlimmer werden und nicht besser. Im November 1941 kam es zu eisigem Regen und Schnee. Wir marschierten und arbeiteten wie gewohnt. Weder Schlamm, Regen, Schnee noch Eis oder heulender, beißender Wind hielten uns von unseren Aufgaben ab. Unsere Schuhe und Kleidung waren durchnässt und konnten über Nacht nicht mehr austrocknen. Am nächsten Morgen mussten wir wieder die gleichen nassen, kalten Fetzen anziehen. Wir zitterten in der eisigen Kälte, aber die Routine war die gleiche. Wir marschierten. Wir arbeiteten. Wir hungerten. Wir schliefen ein paar Stunden ein, bis der Morgen wieder dieselbe Strafe brachte.
Winter 1942: Deportation vom KZ Hardt ins KZ Groß-Rosen bei BreslauAls der Zug schließlich stoppte, marschierten wir etwa eine Stunde zu unserem neuen Ziel, dem Konzentrationslager Groß-Rosen in der Nähe von Breslau, Polen. Obwohl wir durch 30cm hohen Schnee marschierten, hielt ich meine guten Schuhe um den Hals gebunden. Ich wollte sie schonen, bis ich sie wirklich brauchte.
Zwei SS-Wachen näherten sich uns, als wir durch das Lagertor kamen. Sie teilten uns in zwei Reihen auf, so dass einer von ihnen mit jedem sprechen konnte. Als er uns überprüfte, sagte mir der Wärter, ich solle meinen Rucksack ablegen. Er bemerkte meine neuen Schuhe und sagte mit Besorgnis in seiner Stimme: »Nimm deine Schuhe besser mit. Du wirst keine deiner Sachen zurückbekommen.«
Ich nahm seinen Rat an und steckte die neuen Schuhe unter meinen Gürtel. Er war ein Mann mittleren Alters, dem etwas an meinem Zustand leid tat, als er bemerkte, dass ich abgenutzte Schuhe mit Holzsohlen trug. Seine kleine Geste sollte bald mein Leben retten.
Als Nächstes gingen wir in den Waschraum des Lagers, wo wir uns für eine Entlausungsdusche auszogen und danach unsere alte Kleidung wieder anzogen. Sie teilten uns in die Unterkünfte ein. Wir wussten nicht, ob sie uns hierher geschickt hatten, um zu leben oder zu sterben. Wir hörten Pfiffe und »Schnell!« rufen, als die Nazis uns befahlen, uns aufzustellen. Meine Augen sahen einen unglaublichen Anblick. Männer liefen barfuß im Schnee herum, als wären sie nicht bei Sinnen. Mit abgemagerten Körpern sahen sie nicht mehr wie Menschen aus. Meine Gedanken schweiften weit ab. Was ist mit diesen Leuten passiert? Was wird mit mir passieren? Warum haben sie mich hierher geschickt und wie bin ich in diese Lage gekommen? […]
Abram gelingt es mit seinen Schuhen als Bestechung, in ein Arbeitslager zu kommen, wo die Bedingungen nicht so mörderisch wie in den Vernichtungslagern sind. Er arbeitet mit einem deutschen Vorarbeiter, Herrn Sträter, zusammen, der ihn respektiert. Er darf am Wochenende zusammen mit Herrn Sträter auf den Hof einer Bauernfamilie zum Helfen. Dort trifft er ein junges Mädchen, Hilda.
Eines Samstagnachmittags kam Frau Fenkel mit einem Glitzern in den Augen auf mich zu. Sie erzählte mir, dass ihre Nichte, die sie großgezogen hatte, nicht zur Schule gegangen war und bald wieder bei ihr wohnen würde. Am nächsten Samstagnachmittag hatte ich das Vergnügen, Hilda zu treffen.
Ein erstes, das ich tat, um Hilda vielleicht mit meiner Männlichkeit zu beeindrucken, war, Holz für das Feuer zu hacken. Hilda sah mit Respekt und Erstaunen zu. Je mehr sie schaute, desto besser habe ich gehackt.
Hilda genoss meine Gesellschaft und suchte jede Gelegenheit, in meiner Nähe zu sein. Ich hatte sicher nichts dagegen. Sie war wie ein Hauch frischer Luft für mich, da die Nazis mich über ein Jahr lang festgehalten hatten, ohne dass ich dem anderen Geschlecht nahe sein konnte.
Sie war Deutsche und ich war Jude. Es war eine großartige Gelegenheit für uns beide, aber es war eine Versuchung, zu der ich nur nein sagen konnte.
In diesem Sommer war ich so glücklich und sorglos wie möglich, wenn man die Umstände bedenkt, besonders an den Wochenenden. Ich hatte nie Hunger nach Essen – aber Hilda war ein Fest, das ich niemals genießen konnte.
Im Juni 1943 erfolgt die Deportation nach Auschwitz; alle werden mit einer Nummer tätowiert.
»Von jetzt an musst du dich an diese Nummer erinnern. Dein Name bedeutet nichts mehr.« In weniger als fünf Minuten verlor ich meine Identität als Gefangener mit einem Namen und wurde nur #124157. Als Jude erhielt ich die Bonusdekoration eines Dreiecks, das unter der Nummer auf der Rückseite meines linken Unterarms tätowiert war. Für Juden war das Tattoo eine zusätzliche Beleidigung, da Tätowierungen durch das jüdische Gesetz verboten sind.
[…]Methodisch beraubten die Deutschen ihre Opfer mit brutalen psychologischen und physischen Taktiken der Kraft und des Willens, Widerstand zu leisten. Zuerst nahmen sie den Juden alle Rechte weg. Dann konfiszierten sie ihre Häuser, ihre Geschäfte und ihren gesamten Besitz. Sie trieben die Juden in Viehwagen mit wenig Licht und Luft. Sanitäre Einrichtungen waren nicht vorhanden. Ein schrecklicher Gestank vergiftete die Lungen der müden Reisenden. Als die Gefangenen ihre Ziele erreichten, meist nach mehreren Tagen ohne Essen oder Wasser, waren diese gefolterten Menschen schon gebrochen, und die Vorstellung des Duschens war für sie himmlisch. Sie waren es dann auch, die bereitwillig, aber ohne es zu wissen, in den »Duschen« in den Tod gegangen sind.
Abram hat zwar Auschwitz überlebt, aber ab 18. Januar 1945 erfolgt der Todesmarsch nach Buchenwald: ca. 290 km zu Fuß im Winter.
Der Marsch wirkte sich schwer auf unsere Füße, Herzen und Körper aus. Viele Gefangene waren nicht mehr stark genug, um dieser langen Wanderung standzuhalten. Tag für Tag fielen die Männer tot um. Die Nazis befahlen uns, ihre Körper an den Straßenrand zu ziehen. Wir hinterließen nach jeder Rast einen kleinen Körperhaufen. Sie sagten uns, dass die Bestattungsmannschaften hinterhergingen, aber ich weiß, dass sie diesen toten Menschen keine anständige Beerdigung gegeben haben. […]
Wir marschierten den ganzen Tag. Auf dem Weg starben weiter viele müde Gefangene. Wenn sich die Zivilbevölkerung auf dem Lande der Grausamkeiten nicht bewusst war, die uns hinter den Lagermauern zugefügt worden waren, so wussten dies sicherlich diejenigen, die diesen Zug von lebenden Leichen sahen.
Noch im März 45 Deportation nach Buchenwald bei Weimar; Abe hat erfrorene Füße und kann nicht mehr laufen. Er landet im Krankenlager und ist sich bewusst, dass das einem Todesurteil gleichkommt.
In den ersten Tagen des April 1945 begann sich durch den Widerstand die Nachricht zu verbreiten, dass sich die amerikanische Armee näherte. Die meisten Untergrundmitglieder in Buchenwald waren Russen. Die Meldung hatte zum Inhalt, dass die Amerikaner in wenigen Tagen unser Lager erreichen würden. Diese Hoffnung richtete uns wieder auf.
[…]Am Nachmittag des 11. April 1945 ruhte ich in meiner Unterkunft. Mein Körper war extrem schwach, weil er meine Fußinfektion ohne Nahrung oder medizinische Behandlung abwehren musste. Ich hatte etwas gehört, von dem ich nicht glauben konnte, dass es wahr sei. Ich hob den Kopf, um zuzuhören. War es nur Einbildung? Hatte ich den Verstand verloren? Ich hörte Singen. Der Gesang wurde lauter und deutlicher.
Die Stalltür der riesigen Unterkunft öffnete sich jetzt. Endlich traute ich meinen Ohren, weil meine Augen etwas erblickten, das ich nie vergessen werde. Ich sah ein Wunder! Einige der deutschen SS-Offiziere, von denen wir noch vor wenigen Augenblicken Befehle erhalten hatten, marschierten jetzt in unsere Baracken – mit Stricken an Händen und Körpern gefesselt. Einige meiner Mitgefangenen stachen und stießen sie mit den eigenen Gewehren und Bajonetten. Sie riefen den Nazi-Offizieren zu: »Sind Sie nicht stolz auf Ihre Erfolge?« als sie auf die lebenden Leichen wiesen, die in unseren Baracken auf den hölzernen Regalen lagen.
[…]Hinter den singenden Häftlingen kamen die amerikanischen Soldaten. Es war unglaublich, aber es stimmte. Wir hatten alles in unserer Macht Stehende getan, um lange genug am Leben zu bleiben, um dieses Wunder entstehen zu sehen, trotz so vieler konstruierter Fallen, die uns vernichten sollten. Wir sahen endlich das Wunder vor unseren Augen.
Wir mussten uns hart und gefühllos machen wegen jahrelanger Verfolgung, Herumstoßen, Hunger und Benachteiligung, die unbeschreiblich waren, Auspeitschen und psychologischer Folter, weil wir schlimmer als Tiere behandelt wurden. Wir hatten gelernt, unsere Emotionen und unseren Schmerz zu unterdrücken, unsere Tränen abzustellen. Wir hatten aufgehört, menschlich zu empfinden. Wir fingen jetzt wieder an zu fühlen, zu reagieren, wieder Mensch zu sein. Wir waren auferstanden – aus einem schlimmeren Leben als dem Tod – und unsere amerikanischen Helden waren vor unseren Augen. Das Einzige, was ich tun konnte, war zu weinen und zu weinen und zu weinen, und ich war nicht alleine. Gefangene und Soldaten weinten zusammen.
Er vertraut dem Rat eines ihm völlig unbekannten Menschen, der zufällig in seinem Zug nach Frankfurt a.M. sitzt und den er zuvor noch nie gesehen hat. Der empfiehlt ihm jedenfalls, nach Wetzlar zu gehen, weil er in der Masse der Menschen in Frankfurt doch nicht die Aufmerksamkeit bekäme, die ihm zustehe. So werden Abram und seine Leidensgenossen zunächst im Bootshaus an der Lahn untergebracht, welches noch heute existiert. Verantwortlich dafür war ein amerikanischer Offizier deutscher Herkunft namens Neuberger, der ebenfalls jüdischen Glaubens war.