»Historie des Ochsenfestes 1933 als NS-Propagandaschau«
Von Klaus Petri
Im Zeitraum 1852 bis 1877 fand das traditionsreiche Wetzlarer Ochsenfest jährlich im Finsterloh statt, seit 1880 in der Regel dort nur noch alle drei Jahre. Im Jahr der Machtübertragung an die Nazis legte man es mit dem Nassauischen Bauerntag zusammen. Es fand einmalig auf der Bachweide, am Zufluss der Dill in die Lahn, statt und wechselte dabei seinen Charakter als buntes Volksfest mit Tierschau in Richtung einer pompösen Propagandaschau für den gerade etablierten NS-Staat. Für den Verein WETZLAR ERINNERT e.V. ist es die 16. Station von insgesamt über 20 geplanten Tafeln im Stadtgebiet. Die Informationen zum 40. Ochsenfest im Sommer 1933 sind zugleich auf 3 Tafeln dargelegt: am Lahn-Steg und am Dill-Steg am Rand des Bachweide-Geländes und im Finsterloh-Festgelände bei Büblingshausen.
Der Vereinsvorsitzende Ernst Richter bedankte sich einleitend bei der Handwerkskammer Wiesbaden und deren Hauptgeschäftsführer Dr. Martin Pott für das Angebot, die Räume des Bildungs- und Technologiezentrums der Handwerkskammer im Arnold-Spruck-Haus für die Feierstunde nutzen zu können. Ebenso richtete er Dankesworte an die Tafelstifter für die gedeihliche Zusammenarbeit im Vorfeld der Tafelenthüllung. Als einer der Tafelstifter erinnerte Dr. Pott daran, dass alle Kammern als Wirtschaftsverbände »ihren Anteil am Zustandekommen und der Festigung des Systems ›Drittes Reich‹« hatten. Die Erinnerung daran sei »das Fundament, wie man Gegenwart lebt und Zukunft gestaltet«. Er lobte die solide und beharrliche Erinnerungsarbeit in Wetzlar und zeigte sich optimistisch, dass die mit QR-Codes versehenen Tafeln von den angehenden Handwerkern und Technikern registriert werden und Einfluss auf deren Welt- und Geschichtsbilder nehmen. Er ergänzte sein Statement für Respekt, Toleranz und Vielfalt mit dem Hinweis, dass rund 25 Prozent der gegenwärtigen Handwerker in Deutschland einen Migrationshintergrund haben.
Wetzlars Oberbürgermeister Manfred Wagner (SPD) zitierte den ehemaligen hessischen Staatsanwalt Fritz Bauer:
»Die Frage nach den Ursachen des 3. Reiches beinhaltet im Kern die Frage nach der Bereitschaft breiter Bevölkerungsschichten, dem Ungeist zu folgen, also deren Bereitschaft zur Komplizenschaft.«
Jeder und jede sei nicht nur für das eigene Tun verantwortlich, sondern auch fürs Unterlassen und Wegschauen. Ein Grund zur Besorgnis sei deshalb der aktuelle Zulauf für die populistisch agierende rechtsextreme AfD, deren führende Köpfe die 12 Jahre brauner Terrorherrschaft verharmlosen oder als »Vogelschiss« verniedlichen würden. Bürgermeister Dr. Andreas Viertelhausen (FW) sprach in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Vereins, der schon früh im 19. Jahrhundert gegründet wurde und heute immer noch Ausrichter des beliebten Volksfestes ist. »Wir waren im Sommer 1933 Staffage und Kulisse einer NS-Propaganda-Schau. Der traditionelle Festzug wurde angeführt von der SA – was für ein furchtbares Schauspiel!«.
Die Verlagsgruppe Rhein-Main (vrm), zu der die hiesige Regionalzeitung WNZ gehört, ist mit ihrem Verlagsgebäude dem Festgelände Finsterloh benachbart und gehört ebenfalls zu den Tafelstiftern. Für deren Verlag und Redaktion zollte Christian Keller den in Wetzlar um eine lebendige Erinnerungskultur bemühten Menschen Lob und Anerkennung. Vor 90 Jahren hätten sich viele Menschen von den schlichten Parolen der NS-Propagandisten einnehmen lassen. »Auch heute haben vermeintlich einfache Erklärungen angesichts komplexer Problemlagen wieder Konjunktur. Wir müssen und wir werden gemeinsam für Differenzierung, Aufklärung und ein hinreichendes Geschichtsbewusstsein wirken. Wir als Regionalzeitung stehen da an Ihrer Seite«, versicherte der WNZ-Vertreter.
Der in Wetzlar wohnhafte emiritierte Geschichtsprofessor Dr. Ulrich Mayer ist lokalgeschichtlich bewandert, hat Studien zur Geschichte des Stadtteils Büblingshausen veröffentlicht und beschäftigt sich seit 4 Jahren mit den Besonderheiten des vom 15. Bis 17. Juli 1933 unter NS-Ägide ausgerichteten 40. Ochsenfestes auf der Bachweide. Er gehört dem Beirat des Wetzlarer Geschichtsvereins an und ist Mitglied bei Wetzlar erinnert e.V. Von 1995 bis 2006 war Mayer Lehrstuhlinhaber für Geschichtsdidaktik an der Uni Kassel. Mayer konnte bei seinen Recherchen zum Ochsenfest auf ein umfangreiches Bild-Archiv von Manfred Jung (75) aus Waldgirmes zurückgreifen, dessen Großvater Hrch. Konrad Lamm die Aufnahmen vor 90 Jahren gemacht hat.
»Das Ochsenfest wurde von den braunen Machthabern im Sinne ihrer völkischen Blut- und Boden-Ideologie als grandioses Theaterstück – ›Ende gut, alles gut‹ – inszeniert«, stellte der Referent einleitend fest. Traditionelle Volksfest-Elemente wie Groß- und Kleintierschau, Musikpavillon, Tanzplätze, mechanische Schiffschaukel, Karussells, Musikkapellen und der Wettstreit beim Sack-Hüpfen und Kletterbaum-Erklimmen gehörten nach wie vor dazu und lockten die Menschen in Scharen an. Am Samstag zählte man 6 Tausend Besucher, am Sonntag waren es 50 Tausend (ca. das Dreifache der Wetzlarer Einwohnerschaft) und am Montag nochmals 30 Tausend. Die 3.000 Kinder hatten samstags ab 11 Uhr und den kompletten Montag Schulfrei bekommen.
Neben den schwarzroten Stadtfahnen Wetzlars sind auf den historischen Bildern die neuen alten Reichsfarben schwarz-weiß-rot, das nassauische Blau-Gelb (Wetzlar war administrativ dem Gau Hessen-Nassau angegliedert worden) und immer wieder Hakenkreuzfahnen zu sehen. Die Motivwagen waren »folkloristisch-agrarromantisch« gestaltet. Der völkische Germanen-Kult gehörte ebenso dazu wie ein »vergoldeter Pflug« von Landleuten aus Niedergirmes und das Banner mit der Aufschrift »Deutsche, esst deutsches Gemüse!«.
Musikkorps von SA und Feuerwehr machten ebenso mit wie eine Reiterabteilung in Vorkriegsuniformen aus Dillenburg. Den realen Ängsten der Landwirte vor sozialem Abstieg begegnete die NSDAP mit der Forderung nach einem »neuen Bauernrecht«. »Nicht alles hat sich nach dem Preis zu richten!«, wurde als Parole ausgegeben. Sprachlich wurden Landwirte als »Reichsnährstand« und als »Neuadel aus Blut und Boden« aufgewertet.
Das antisemitisch grundierte »Reichserbhofgesetz« vom 29. September 1933 untersagte die Realteilung und verbot »volksfremden Elementen« den Landerwerb. Der von Hitler im Frühsommer 1933 zum »Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft« ernannte SS-Obergruppenführer Walter Darré war Hauptredner der Großveranstaltung am 16. Juli in Wetzlar. Mit dem Appell »Adolf Hitler hat uns die Treue gehalten, jetzt ist es an uns, ihn bei seinem großartigen Aufbauwerk zu unterstützen«, gab er der vorgeblich auf »Blutsbanden« gegründeten »völkischen Empfindungsgemeinschaft« einen pathetischen Ausdruck. Die braune Propaganda-Schau erfuhr auch ein entsprechendes mediales Echo. Mit einer »Landfunk«-Sendung wurde vom Südwestdeutschen Rundfunk überregional berichtet und der »Wetzlarer Anzeiger« schwärmte von einem die Altstadt illuminierenden Feuerwerk und dem vieltausendfachen Bekenntnis zum Wiederaufbau der deutschen Landwirtschaft und dem einmütigen Bekenntnis zum NS-Staat. Auf einem Prominenten-Foto trägt die Hälfte Partei- und SA-Uniform, darunter der neue Landrat Grillo. Zu sehen ist darauf auch der damalige Fürst von Braunfels. Prinz Philipp von Hessen brachte als oberster Repräsentant des Staates Preußen eine Eloge auf »unseren Reichskanzler von Gottes Gnaden Adolf Hitler« aus.
Am Ende des historischen Gedenkens im Arnold Spruck-Haus bestand unter den rund 50 Teilnehmenden Einigkeit in dem Wunsch, dass Wetzlar noch viele gut besuchte, fröhliche und interessante Ochsenfeste erleben möge, dass aber nie wieder propagandistische, kriegerische oder rassistische Hetzparolen im Volk Mehrheiten gewinnen dürfen.