Zeitzeugen vom Ende des Krieges erzählen!
Frauen und Männer, die als Kinder die Nazizeit erlebten,
versammelten sich
am 21.09.2020 im Nachbarschaftszentrum Niedergirmes

Ziel der Veranstaltung war es, die angesprochenen Zeitzeugen*innen mit den Akteuren dieses Projektes bekannt zu machen. Gleichzeitig konnten die Akteure von hessencam und WETZLAR ERINNERT e.V. erfahren, über welche Ereignisse die  Zeitzeugen*innen in den geplanten Interviews berichten könnten.

Ein Bericht von Klaus Petri
Ein Treffen zum Kennenlernen bildete den Auftakt zum Zeitzeugen/-innen-Projekt des Vereins Wetzlar erinnert e.V. und der Video-Gruppe hessencam mit älteren Menschen aus Wetzlar und Umgebung, die in den Jahren 1933 bis 1945 Kinder oder Jugendliche waren. Der Hessische Rundfunk war durch HR-Redakteurin Christine Rütten vertreten. Die Wetzlarer Zeitzeugnisse und Erinnerungen sollen Eingang in eine geplante Film-Dokumentation »75 Jahre Freiheit in Hessen« finden. Rund ein Dutzend ältere Mitbürger hatten im Vorfeld ihre Mitwirkung als Auskunftspersonen angeboten.

Die Interviews sollen alsbald stattfinden, etwa an Originalschauplätzen wie dem Domplatz oder der Langgasse. Die 95-jährige Erna Schulz wurde von Maltesern aus der Pariser Gasse zum Auftakttreffen gefahren, Wilhelmine Müller (geb. Walbruch, Jg. 1915) aus Naunheim gehört auch zum Kreis der Interviewten, konnte aber nicht ins Nachbarschaftszentrum nach Niedergirmes kommen. Sie hatte als junge Aktivistin der SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend) badenden Nazis die Kleidung stibitzt. Zu Beginn der Veranstaltung wurden die Anwesenden mit historischem Filmmaterial konfrontiert.

Als die US-Armee Ende März 1945 Wetzlar erreichte, wurden einige Szenen auf Zelluloid festgehalten: amerikanische Infanteristen mit Gewehr im Anschlag, patrouillierende Jeeps und Panzerkolonnen und verstörte Kindergesichter von Fahnenjunkern und Hitlerjungen, die Befehl hatten, sich dem vorrückenden US-Militär entgegenzustellen. Auf der Brücke von Wetzlar nach Hermannstein war eine Gruppe Zivilisten mit einer improvisierten weißen Fahne zu Fuß unterwegs. Damals „live“ dabei war Arno Rumpf (Jg. 1930), der sich dem »Volkssturm«-Appell zum »Widerstand bis zum letzten Blutstropfen« dadurch entzog, dass er zu Verwandten in Weilburg ausbüxte. Auf der Höhe von Kloster Altenberg ließ er sich von den vorrückenden Amerikanern überholen: »Das war am 26. März. Weil die Amis einer Konfrontation mit ›Hitlers letztem Aufgebot‹ zunächst aus dem Weg gingen, zogen sie an Wetzlar vorbei Richtung Gießen. Wetzlar wurde dann am 29 März eingenommen.«

Auf den Filmaufnahmen erkannte Rumpf die ehemalige Gastwirtschaft Heger und ein gegenüber liegendes russisches Gefangenenlager. Einer der befreiten Zwangsarbeiter zerschlägt vor der Kamera des US-Chronisten ein übergroßes Hitlerbild. »In meiner Klasse gab es Mitschüler, die als Halb- und Vierteljuden galten und die wir als ›Arier‹ zu meiden hatten. Man hat sich damals nicht getraut, was dagegen zu sagen«, erinnert sich Rumpf an seine Schulzeit. Und: »Fliegeralarm gehörte damals zum Alltag. Rein in den Bunker, raus aus dem Bunker. Das war schlimm.«

Ulla Schneider (Jg. 1938) war gegen Kriegsende mit Mutter und Bruder im Bollerwagen unterwegs. In Leun-Lahnbahnhof sollten sie ein Ausweichquartier beziehen. Dort angekommen, erklärte ihnen der Hauswirt mit tränenerstickter Stimme: »Wir können euch nicht aufnehmen. Wir brauchen den Platz für Familienmitglieder aus der Wetzlarer Bahnhofstraße. Das Haus steht nicht mehr. Die meisten sind umgekommen«.

Erfreut zeigte sich Wetzlar erinnert-Vorsitzender Ernst Richter darüber, dass man durch Kooperation mit Gerhild Kirschner (Bonbaden) an aufschlussreiche Dokumente gelangt sei, die die Allmacht der Nazi-Partei in alltäglichen Verrichtungen veranschaulichen: »Kreditanfragen, Einstellungen und Sanktionen am Arbeitsplatz, geplante Reisen, bei alldem hatte die NSDAP-Kreisleitung das letzte Wort. Der Fürst von Braunfels fragte bei den braunen Oberen an, ob er seine Dienstwohnung weiter vermieten könne. Das war der totale Überwachungsstaat,« erläutert Richter. Bis Jahresende werden durch »hessencam« lebendige Zeitzeugenaufnahmen entstehen, die teilweise an den Orten der damaligen Ereignisse gedreht werden, »weil wir in Wetzlar das Glück haben«, so Richter, »mit vorhandenen historischen Bildern und den US-Filmen einen hohen Wiedererkennungswert zur heutigen Stadtansicht erzielen zu können«.