Retrospektive zur Podiumsdiskussion am 23.06.2023

LAG Hessen
Am 22. Juni 2023, folgten Vertreterinnen und Vertreter der Landtagsfraktionen der Grünen, SPD, FDP, Linke und CDU der Einladung der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Hessen (LAG Hessen) in das Gallus Theater Frankfurt am Main. Mit Dr. Ludger Fittkau, Deutschlandfunk, kamen sie ins Gespräch zu Fragen der Zukunft der Erinnerungskultur in Hessen. Dr. Ann Katrin Düben (Leiterin der Gedenkstätte Breitenau) und Dr. Thomas Lutz (Leiter des Gedenkstättenreferats bei Topographie des Terrors in Berlin bis Juni 2023) gaben Einblicke in ihre Arbeit stellvertretend für die Mitglieder der LAG Hessen.

In seinem Impulsvortrag umriss Dr. Thomas Lutz vorab das Feld. Er stellte nicht nur die Entwicklung des Gedenkens und der Erinnerungskultur in der BRD im Allgemeinen, sondern auch die sich verändernde Situation in Hessen seit der 1980er Jahren dar.

Bilder: LAG-Hessen © Judith Sucher

Dr. Thomas Lutz betonte vor allem die Herausforderungen, die sich für rein ehrenamtliche Initiativen durch den Generationenwechsel ergeben. Dabei verwies er auf die Bedeutung der LAGs als Netzwerke. So sei zum Beispiel in Baden-Württemberg ein Modell entstanden, das Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen in einer Region clustert und mithilfe einer Verbundstelle dort unterstützt, wo Bedarfe bestehen.

Pluralistische Erinnerungskultur in Hessen erhalten

Nach dem Impulsvortrag waren die Mitglieder der Landtagsfraktionen eingeladen, ihre Erfahrungen und Perspektiven zur Gedenkarbeit auf dem Podium mit dem Publikum zu teilen. Als Vertreterin der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen war Martina Feldmayer zu Gast. Die SPD vertrat Christoph Degen, der ebenfalls als Vorsitzender des Kuratoriums der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung in der Staatskanzlei fungierte. Außerdem nahmen Jan Schalauske für die Fraktion DIE LINKE, Tobias Utter für die CDU und Dr. Stefan Naas, FDP, an der Diskussion teil. Als Vertreterin der LAG Hessen berichtete Dr. Ann Katrin Düben aus der Praxis von den steigenden Anforderungen, die knappen Ressourcen gegenüberstehen.

Bereits nach den ersten Statements wurde klar, dass sich insbesondere die FDP für eine Zentralisierung der Gedenklandschaft in Hessen ausspricht: So verwies Dr. Stefan Naas wiederholt auf die Wichtigkeit der Arbeit der Gedenkstätte Hadamar als größte und vom Land finanziell geförderte Gedenkstätte. Dr. Naas forderte, dass Hadamar eine zentrale Rolle in Hessen einnehmen solle, da an diesem Ort die NS-Zeit und ihre Verbrechen umfänglich und professionell erklärt und vermittelt würden*. Ohne die Bedeutung Hadamars in Frage zu stellen stellte Martina Feldmayer dieser Forderung die Wichtigkeit der Arbeit kleiner Akteure vor Ort am Beispiel der Erinnerungsinitiative Kalmenhof entgegen.

Jan Schalauske brachte die unter anderem durch den Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung vertretene Einschätzung ins Gespräch ein, dass Hessen mehr durch Links- als durch Rechtsextremismus gefährdet sei. Schalauske widersprach dieser Einschätzung und wies auf die Bedeutung der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen für ein breit verankertes, freiheitlich-demokratisches Geschichtsbewusstsein hin.

Christoph Degen, Tobias Utter, Martina Feldmayer und Jan Schalauske waren sich einig, dass die bereits durch das Land Hessen geförderten Gedenkstätten Hadamar, und Breitenau, ebenso wie das DIZ Stadtallendorf und der an diesem Abend gastgebende Geschichtsort Adlerwerke überaus wichtige Arbeit leisten. Moderator Ludger Fittkau fragte das Podium diesen Punkt aufgreifend, wie es denn dazu kommen konnte, dass trotz der immer wieder beschworenen Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in Gedenkstätten und Erinnerungsorten ein Ungleichgewicht in der Finanzierung durch das Land festzustellen sei. Während die Gedenkstätten zur Geschichte der DDR zunehmende Posten im Haushalt erhielten, würden die steigenden Anforderungen an die Gedenkstätten zur NS-Zeit bei der Finanzierung und Einstellung Haushaltsmitteln kaum berücksichtigt.

Die auf dem Podium für die NS-Gedenkstätten herausgestellten Aufgaben sollten sich doch durch eine angemessene finanzielle Unterstützung abbilden lassen. Tobias Utter stellte ein Konzeptpapier der CDU in Aussicht, in dem die Partei ihre Pläne vorstelle, wie sie in Zukunft eine starke Erinnerungskultur in Hessen fördern möchte. Christoph Degen verwies zum einen auf die Forderung der SPD nach einer Million zur Förderung kleinerer und mittelgroßer Gedenkstätten in den vergangenen Haushaltsverhandlungen, zum anderen auf die Förderung von Gedenkstättenfahrten für Schulklassen durch die HLZ. Ann Katrin Düben entgegnete, dass diese Förderung den Schulen und nicht den Gedenkstätten zugutekomme. Außerdem müsse die Vielzahl an Besucherinnen und Besuchern durch entsprechende Kräfte betreut werden. Bei steigenden Besuchszahlen verfügten die Gedenkstätten in Hessen wegen knapper Finanzmittel nicht über ausreichendes pädagogisches Personal, um diese Aufgabe wahrnehmen zu können.

Die Podiumsdiskussion stellte diese und viele andere Herausforderungen im Arbeitsfeld Erinnerungskultur sehr deutlich heraus. Aus dem Publikum wurden außerdem weitere Leerstellen im Gedenken in das Gespräch eingebracht.

Forschungslücken und Demokratiebildung
Abschließend versicherten alle Teilnehmenden dem Publikum noch einmal in aller Deutlichkeit, wie wichtig die Arbeit von kleinen, mittleren und großen Gedenkstätten sowie ehrenamtlichen Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit sei. Deshalb würde man im Austausch bleiben wollen. Dr. Thomas Lutz schlug konkret eine Anhörung der LAG Hessen nach den Landtagswahlen vor, denn Akteure und Landespolitik müssten für ein gelingendes Geschichtsbewusstsein zusammenarbeiten.

Wir als Landesarbeitsgemeinschaft möchten, die auf dem Podium diskutierten Punkte aufnehmen und fordern die Landespolitik auf:

  • Förderung einer dezentralen Erinnerungs- und Gedenkkultur
    Für ein pluralistisches, demokratisches Geschichtsbild bedarf es der Sichtbarmachung der Wirkung der NS-Ideologie in die sogenannte Volksgemeinschaft. Verbrechen wurden nicht nur in den Vernichtungslagern begangen, sondern vor Ort! Zugleich gilt es, die Verbrechen des Nationalsozialismus in ihrer Komplexität aufzuzeigen und nicht auf einzelne Verfolgungskontexte zu verengen.Um diese Aspekte sichtbar zu machen, ist die Arbeit der lokalen Initiativen ebenso wie der Gedenkstätten von Bedeutung. Gedenkstätten und Erinnerungsorte sind gleichwertige Partner in der Erinnerungskultur.
  • Finanzielle Unterstützung dauerhaft ausweiten,
    auch für kleine und mittlere Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen
    Um die an die Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit gestellten Aufgaben im Rahmen der Demokratiebildung zu erfüllen, bedarf es finanzieller Mittel, die über Projektförderung hinausgehen. Finanzierung muss prozesshaft und damit planbar sein, um unter anderem auch der Digitalisierung Rechnung zu tragen.
  • Anhörung der LAG Hessen im Landtag
    Für eine effektive erinnerungspolitische Strategie in Hessen bedarf es der Einbindung der erinnerungskulturellen Akteure.

*) Ergänzend zu oben stehender Erklärung vom 17. Juli 2023 im Folgenden eine Anmerkung von Herrn MdL Dr. Stefan Naas vom 28. Juli 2023 bzgl. seiner Äußerungen im Rahmen der Podiumsdiskussion:

»Ich habe mich nicht für eine Zentralisierung der Gedenkstätten in ganz Hessen ausgesprochen. Ich bezog mich auf die Standorte in Trägerschaft des LWV. Hier sollten die vorhandenen Ressourcen nach meiner Auffassung gebündelt werden, um eine hochwertige Gedenk- und Vermittlungsarbeit zu gewährleisten.

Selbstverständlich übernehmen die kleinen und mittelgroßen Gedenkstätten eine unverzichtbare Aufgabe in der hessischen Gedenkstättenlandschaft und sollten auskömmlich gefördert werden.

Insgesamt sollte die Gedenkstättenarbeit in Hessen in eine Gesamtstrategie eingebettet sein, die alle Gedenkstätten miteinbezieht und Wege aufzeigt, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.«

Kontakt:
Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Hessen
vertreten durch den Sprecher*innenrat:
Thomas Altmeyer, Renate Dreesen, Dr. Ann Katrin Düben, Dr. Katherine Lukat, Dr. Jörg Probst, Judith Sucher
—› E-Mail senden?