im Kulturzentrum FRANZIS

Unser Verein wurde in diesem Jahr 10 Jahre alt. Das haben wir gefeiert am 16.09.2023 im Veranstaltungsraum des Kulturzentrums Franzis. Selbstverständlich mit den Vereinsmitgliedern, aber auch gerne mit Begleiter*innen, Partner*innen, Unterstützer*innen und Berater*innen von Wetzlar erinnert e.V. Der Saal war voll und hätte nicht gereicht, wenn alle gekommen wären, die wir eingeladen hatten. Dennoch hatten wir uns für diesen Ort entschieden, weil sich hier vor 10 Jahren am 08.08.2013 der Verein gründete und seitdem mehr als 3.000 Teilnehmer*innen den Weg der Erinnerung auch hier mit einer Einführung begannen.

Höhepunkt der Veranstaltung war die Lesung aus dem Buch des NS-Zwangsarbeiters Tomasz Kiryllow » … und Ihr werdet doch verlieren!« von Chris Sima und Irmgard Mende, musikalisch begleitet von Ina Steger mit der Gitarre und dem Schifferklavier.

Hier finden Sie die Fotostrecken, Filme und auszugsweise die Texte der Reden, die gehalten wurden. Außerdem einen geschichtlichen Abriss darüber, warum es uns gibt.

Klicken Sie in der nachfolgenden Übersicht auf die gewünschte Passage und sie öffnet sich:

Warum gibt es Wetzlar erinnert e.V.

Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass vor etwa 15 Jahren eine sehr militant agierende Gruppe junger Neonanzis in Wetzlar ihr Unwesen trieb. Diese waren von der völkischen Ideologie so beseelt, dass sie keine Skrupel davor hatten, das Leben derer zu bedrohen, die sie nicht für Deutsch hielten oder als politische Gegner einstuften. Höhepunkt dieser Gewalttaten war in der Nacht auf den 19. März 2010 der Brandanschlag auf ein Familienhaus, das den ermittelnden Staatsanwalt veranlasste, Anklagen wegen versuchten Mordes zu erheben.

Bei der Diskussion, wie man neben den ordnungspolitisch und juristisch gebotenen Maßnahmen gegen diese Gruppe auch zivilgesellschaftlich Flagge zeigen kann zugunsten einer sich weltoffen und tolerant gebenden Stadtgesellschaft, kam unter anderem die Idee auf, eine spezielle historische Stadtführung anzubieten, die an hierzu geeigneten Stationen die Ereignisse der Nazizeit in Wetzlar aufzeigt und klar macht, dass Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist. Aus dieser Idee entstand der »Weg der Erinnerung« – die Zeitreise durch das Wetzlar von 1933 bis 1945. An der Premierenführung am 1. Sept. 2012 nahmen 94 Menschen teil, die in Fünfzehnergruppen von Station zu Station geschickt wurden, wo eine*r der zuvor qualifizierten Guides den Teilnehmer*innen erzählte, was dort passiert war. Zwischenzeitlich haben über 3.000 Menschen an diesen Führungen teilgenommen, die mit einem Einführungsvortrag im Kulturzentrum Franzis beginnen.

Das Projekt erhielt die Zusage, aus Mitteln des Bundeshaushaltes gefördert zu werden, aber eine Voraussetzung hierfür war die Gründung eines als gemeinnützig anerkannten Vereins. Und so entstand WETZLAR ERINNERT e.V. am 6. August 2013. Die 14 Gründungsmitglieder trafen sich im Kulturzentrum Franzis und formulierten in der Präambel der Satzung:

»Wer nicht erinnert, vergisst – wer vergisst, kann wieder schuldig werden. Damit sich deutscher Faschismus nicht wiederholt, ist es erforderlich, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen … «

Umso wichtiger, wenn man weiß, dass die letzten Zeitzeugen bald nicht mehr unter uns sein werden.

Seitdem werden neben dem »Weg der Erinnerung« Fahrten zu Gedenkstätten und Lesungen zu Ereignissen der NS-Zeit angeboten, mit dem Projekt »Gedenktafeln zu Ereignissen der NS-Zeit in Wetzlar« sollen seit 2018 an 25 Standorten vorübergehende Passant*innen durch die 90×79 cm großen Schilder auf das aufmerksam gemacht werden, was dort geschah. Die 16. Tafel wurde anlässlich des Ochsenfestes unterm Hakenkreuz vor 90 Jahren am 15. Juli 2023 auf der Bachweide und vor dem Festgelände Finsterloh enthüllt. Der auf den Tafeln befindliche QR-Code ermöglicht Interessierten mit ihrem Smartphone eine Internetseite mit detaillierten Informationen zu diesem Ereignis zu öffnen. Zu jeder dieser Tafeln konnten wir Tafelstifter gewinnen, die das Projekt unterstützen, das aus dem Bundesprogramm »Demokratie leben« bezuschusst wird.

Ein besonderes Anliegen war es dem Verein, die noch lebenden Zeitzeug*innen, die ihre Kindheit während der Nazi- und Kriegszeit erleben mussten, zu Wort kommen zu lassen und deren Aussagen per Filmaufnahmen festzuhalten. Dank der Bereitschaft von hessencam – einem medienpädagogischen Angebot der katholischen Domgemeinde an Jugendliche – interviewten fünf Jugendliche unter Anleitung von Pastoralreferent Joachim Schaefer acht Senior*innen. Leider behinderte die Pandemie die Aufnahmemöglichkeiten sehr stark. Immer wieder mussten Drehtermine abgesagt, die Fertigstellung der Filme verschoben werden. Aber die Filme wurden im Internet auf der Vereinshomepage zwischenzeitlich veröffentlicht und hoffentlich können bald in einem gemeinsamen Treffen der Zeitzeug*innen mit ihren jungen Interviewer*innen die Filme der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Ebenfalls möchten wir dafür Sorge leisten, dass das Ausmaß der NS-Zwangsarbeit von 1942-1945 in Wetzlar als zeitgemäße Dauerausstellung in die städtische Museumslandschaft integriert wird. Wir haben ein Industriemuseum und dort muss das Thema aufgenommen werden.

Falls Sie uns unterstützen oder im Verein mitmachen möchten: Wir würden uns sehr darüber freuen! Auch an Dokumenten und Bildern aus der Zeit sind wir sehr interessiert!

16.00 Uhr
Ankommen
Begrüßung mit Sekt und O-Saft

16.30 Uhr
Eröffnung und Begrüßung
Julie Sir und Ernst Richter

16.35 Uhr
»Besser einmal gesehen, als tausendmal davon gehört zu haben …«
Bilder von den Highlights unserer Erinnerungs- und Gedenkinitiativen der letzen 10 Jahre

16.45 Uhr
Laudatio
MdB Dagmar Schmidt

17.05 Uhr
Zeitzeugen*innenfilme der NS-Zeit
(Auszüge)

17.20 Uhr
Grußworte
Prof. Dr. Roman Poseck (Hessischer Minister der Justiz)
• Weitere Grußworte von Stadtrat Jörg Kratkey (Kulturdezernent der Stadt Wetzlar)
• Pfarrer Dr. Hartmut Sitzler (Superintendent des Ev. Kirchenkreises)
• Pfarrer Wolfgang Grieb (Gesellschaft für Chrstlich-Jüdische Zusammenarbeit)
• Dr. Oliver Nass (Ernst-Leitz-Stiftung)
• Markus Huth (unser Partnerverein Weilburg erinnert e.V.)
• Caroline Jung (Trägerverein Kulturzentrum FRANZIS)
• Danksagung an das Kulturzentrum FRANZIS für die Zusammenarbeit der letzten 10 Jahre

17.45 Uhr
»Und ihr werdet doch verlieren«
Lesung aus dem Buch des Zwangsarbeiters Tomasz Kiryllow
Rezitation: Chris Sima und Irmgard Mende
Musikalische Begleitung: Ina Steger

18.30 Uhr
Gespräche bei Getränken und Leckerem vom Buffet
Getränkeservice vom Franzis, Fingerfood Café Freiraum (WALI)

Zu dieser Jubiläumsveranstaltung haben wir Vereinsmitglieder, Freunde*innen sowie Vertreter*innen unserer Kooperationsparte*innen aus den letzten 10 Jahre eingeladen. Von denen, die sich aus unterschiedlichsten und durchaus guten Gründen für diesen Nachmittag entschuldigten, haben einige Grußworte zugesandt, die wir aufgrund des straffen Programms nicht alle vorlesen konnten.

Aber wir uns erlaubt, diese in einer Schrift während der Veranstaltung auszulegen. Nachfolgend die Texte und zum Download als PDF das Faltblatt

Viel Spaß beim lesen!

Dr. Bergis Schmidt-Ehry
Gründungsmitglied von Wetzlar erinnert e.V.
Berlin, 25.08.2023

Mein Vater war NAZI

Aber durch ihn habe ich gelernt, wie wichtig es ist, den Anfängen zu wehren!

Ich bin stolz darauf den Verein Wetzlar Erinnert e.V. mitgegründet zu haben, weil »Wer nicht erinnert, vergisst – wer vergisst, kann wieder schuldig werden«.

Leider gibt es auch in meiner schönen Heimatstadt Wetzlar immer noch Menschen, die glauben »an ihrem Wesen möge das Land genesen« und sich zum »Familientreffen der Schwarm-Intelligenz« vereinen. Menschen, die nicht (wirklich) erinnern. Menschen, die wieder schuldig werden!

Dem tritt »Wetzlar erinnert« entschieden und mutig entgegen.

Liebe Freunde, Euer Engagement ist nicht nur lobenswert – es wird mehr denn je gebraucht.

Die rechtsradikalen und faschistischen Flammen züngeln an der Republik. „Reichsbürger“ plan(t)en den gewaltsamen Umsturz. Im Osten der Republik feiert sich die AfD mit Umfrage-Werten von über 35%. Und neben Hate-Speech in den sozialen Medien sind Aussagen in unserer Gesellschaft wieder möglich, die wir nicht mehr für möglich gehalten hätten.

Deshalb ist die Arbeit von »Wetzlar erinnert« so ungeheuer wichtig.

Mein Dank geht hier an Ernst und Irmi, die unermüdlichen Motoren des Vereins.

Bleibt weiter auf Erfolgskurs!
Bergis Schmidt-Ehry


Adda Schmidt-Ehry
Gründungsmitglied von Wetzlar erinnert e.V.
Berlin, 25.08.2023

Wie üblich, ist Bergis’ Worten wenig hinzuzufügen. (*Grins*)

Ich bin vor zehn Jahren eher zufällig in die Vereinsgründung hineingerutscht, habe dann aber mit viel Engagement den administrativen Rahmen mitgestaltet und bin mit Bedauern anlässlich unseres Wegzugs aus der aktiven Vereinsarbeit ausgeschieden.

Aus der Ferne verfolge ich aber dennoch die Vereinsaktivitäten, Eure Aktivitäten, und bin jedes Jahr beim Jahresbericht baff erstaunt, was Ihr so alles auf die Beine stellt und bewegt in dieser schönen Stadt.

Manch größerer Verein in einer größeren Stadt schafft nicht, was Ihr schafft!

Danke an jeden und jede Einzelne, Ihr seid toll!

Adda Schmidt-Ehry


Martina Göbel
Teamvorstand Der Kinderschutzbund Lahn-Dill | Wetzlar e.V.
Wetzlar, 07.09.2023

Sehr geehrter, lieber Ernst Richter,
ich bedanke mich sehr herzlich für die freundliche Einladung zur Feier anlässlich des 10. Geburtstags von Wetzlar erinnert.

Leider kann ich aus terminlichen Gründen nicht teilnehmen. Das bedaure ich sehr, ist doch das zehnjährige Bestehen des Vereins wirklich ein Grund zum Feiern!

Und das Anliegen ist auch mir persönlich sehr wichtig, ebenso wie die von uns (Kinderschutzbund) in diesem Jahr gemeinsam erlebte Gedenkveranstaltung am 2. Mai oder auch die Gedenkveranstaltung »2 Jahre Covid« im vergangenen Jahr auf dem Domplatz.

Bestimmt wird es weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit geben, unsere Arbeit ist (leider) weiterhin sehr nötig und geboten.

Ich wünsche schon jetzt allen Beteiligten eine wunderbare Veranstaltung und ein fröhliches Gelingen.

Mit herzichen, solidarischen Grüßen,

Martina Göbel

10 Jahre WETZLAR ERINNERT e.V.  – Moderation – Eröffnung

Es gilt das gesprochene Wort

Julie Sir (kursiv und blau)
Ernst Richter (schwarz)

Wir möchten nun beginnen

Und uns kurz vorstellen:

Neben mir steht Julie Sir
sie vertritt Natalija Köppl, unsere stellvertretende Vorsitzende.

Natalija ist seit einer Woche die Mutter von Anton! Und dem geht es seit zwei Tagen nicht so gut und ich springe ein.

Julie vertritt heute die feminine Seite und die jungen Leute in unserem Verein. Sie ist seit drei Jahren Guide auf dem »Weg der Erinnerung«.

Und neben mir steht Ernst Richter, unser Vorsitzender. Er repräsentiert genau das Gegenteil in unserem Verein.

Wir werden gemeinsam diese Veranstaltung moderieren.

Liebe Gisela,
sehr geehrter Herr Minister Prof. Dr. Posek;
sehr geehrter Herr Stadtrat Kratkey;
meine Damen und Herrn Abgeordnete

  • des Deutschen Bundestages,
  • des hessischen Landtages,
  • des Kreistages,
  • sowie der Stadtverordnetenversammlung.

Werte Magistratsmitglieder.

Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Stifter unserer Tafeln zu den Ereignissen der NS-Zeit,
liebe Gäste und Vereinsmitglieder!

Manche werden sich fragen:
… und wer ist Gisela?

Sie wurde 1934 in Wetzlar geboren
als die Tochter von Rosa und Werner Best.
Sie musste als Kind erfahren, was es heißt, ein »Judenbalg« zu sein!
Obwohl sie evangelisch getauft war,
galt sie nach den Rassengesetzen der Nazis als »Halbjüdin«.

Seitdem schnitten sie ihre Schulkameradinnen,
 aber auch die Lehrkräfte;
Nachbarn beschimpften sie!

1938 musste sie als Vierjährige erleben,
wie ihr Großvater Josef Lyon
in »Schutzhaft« genommen wurde.

Er kam wieder frei, aber das war nur ein Aufschub.
Der Altmetallhändler und seine Frau Berta wurden 1940 in die Vernichtungslager abtransportiert.

Zwei Jahre später wurde auch Ihre Mutter –  Rosa Best – nach Auschwitz gebracht und dort 1944 ermordet.

Auch ihre Tanten wurden von den Nazis umgebracht.

Am 29. März 1945 besetzt die US-amerikanischen Soldaten Wetzlar.
Zwei von ihnen suchten drei Tage später Giselas Vater auf.
Sie fragten ihn, ob er zwei Töchter habe?
Und nach seiner Bestätigung zeigten sie ihm den Befehl zum Abtransport
der damals 11-jährigen und ihrer vier Jahre jüngeren Schwester.

Sie hatten den Nazibefehl gefunden
in der Buderus-Villa, die 1933–1945 als NSDAP-Kreisleitung diente.

Gisela war also in der letzten Sekunde dem Tod von der Schippe gesprungen.
Sie hat lange gebraucht, bis sie über all das reden öffentlich konnte.

Filme wie »Schindlers Liste« in den 1990er Jahre haben sie dazu ermutigt.
Seitdem geht sie in Schulklassen
zu Konfirmandengruppen
und stand zwischenzeitlich schon einigen Fernsehteams als Zeitzeugin zur Verfügung.

Seit 2014 ist sie unser Ehrenmitglied.
Meine Damen und Herrn, begrüßen Sie mit uns Gisela Jäckel!

Wir freuen uns, dass Sie so zahlreich erschienen sind.
Und Sie fragen sich sicherlich:
Hätte man nicht einen größeren Saal wählen können? Nein! Hätte nicht!

  • Denn genau hier trafen sich vor 10 Jahren am 6. August 14 Leute,
    um WETZLAR ERINNERT e.V. zu gründen.
  • Seitdem haben etwas mehr als 3.000 Menschen in diesem Saal den Weg der Erinnerung begonnen.
  • Und könnte es in Wetzlar einen Ort geben, der authentischer ist, was unser Thema – dem Erinnern und Gedenken an die NS-Zeit – betrifft.
  • Authentischer als diese Baracke, die 1941 als Wohnort für rund 120 Fremdarbeiter aus dem faschistischen Italien errichtet,
  • die bei der Fa. Leitz die Arbeiter ersetzen sollten, die man zur Wehrmacht eingezogen hatte.

Deshalb sind wir heute genau hier – auch wenn‘s etwas eng wird.

Wir bedanken uns bei unseren Sponsoren der heutigen Veranstaltung

  • Der Initiative Respekt –
    Kein Platz für Rassismus!
  • Und beim Kulturförderverein FRANZIS

Und wir möchten keine großen Reden über uns selbst machen
Stattdessen mit einem Bilderpotpourri über die letzten zehn Jahre beginnen, nach dem Motto:

»Lieber einmal gesehen –
statt tausendmal nur davon gehört zu haben«

Und dann andere zu Wort kommen lassen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit

Laudatio »10 Jahre Verein Wetzlar erinnert e.V.«
Von MdB Dagmar Schmidt

Es gilt das gesprochene Wort

Eigentlich begann alles mit dem Weg der Erinnerung.
Mit einer besonderen Stadtführung, die die prägenden Orte der Nazi-Herrschaft sichtbar machen sollte.
Und das schon im im September des Jahres 2012.

Und es begann in einer Zeit, in der Wetzlar – vor 1933 keine braune Stadt, Im Gegenteil hatte es die NSDAP zunächst nicht sonderlich leicht, hauptsächlich aus jungen bürgerlichen Menschen bestehend und mit wenigen Mitgliedern aus der Arbeiterschaft, sich gegen die vielen Sozialdemokraten und mit ihnen verbündeten Gewerkschaften zu etablieren.

Trotzdem wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts Wetzlar zunehmend zum Zielort rechter Aktivitäten und Aufmärsche.

Und in der nächsten Umgebung – der Patrioten Treff der Familie Zutt in Ehringshausen oder später der Teutonicus in Leun – gab es Hotspots des Rechtsextremismus, denen man mit Aufklärung, Erinnern und dem Stärken unserer Demokratie entgegentreten wollte.

Geschichte wird lebendig, wenn sie etwas mit einem selbst zu tun bekommt.
Wenn sie an den Orten sichtbar wird, an denen man tagtäglich vorüber geht, die eine eigene oder eine andere Bedeutung bekommen haben.
Und wenn man Menschen in der Geschichte sichtbar macht, deren Gefühle, Wünsche, Leben, Träume und Erlebnisse man nachfühlen und auch in sich erkennen kann.

Alles das leistet der Weg der Erinnerung.
Wenn an einem Ort der Kultur und der Freude, dem Franzis – hier – an das Schicksal der so genannte Fremdarbeiter erinnert wird, die damals für die Firma Ernst Leitz arbeiten mussten.

Oder der Domplatz als Demonstrationsort gegen die Faschisten noch im Februar 1933 (Eiserne Front aus Reichsbanner, ADGB und SPD) oder als Aufmarschort der Faschisten für den gekaperten 1. Mai. Man kann sich das heute noch gut vorstellen – auch wenn dort Markttag ist oder die Musik spielt.

Dazu die Stolpersteine, die von jüdischem Leben in Wetzlar zeugen genau so wie die Orte der so genannten Arisierung – der Beraubung der Jüdinnen und Juden, die bis dato gut integrierte Händler und Gewerbetreibende waren und ein wichtiger Teil der Stadtgesellschaft.

Und diese wichtige Geschichts- und Demokratiearbeit, das leisten auch die vielen anderen Aktivitäten, die seit dem Weg der Erinnerung mit dem dann gegründeten Verein umgesetzt und angestossen wurden.
Aber eins nach dem anderen.

Auf den ersten Weg der Erinnerung folgte dann am 06. August 2013 die Vereinsgründung. 14 Bürgerinnen und Bürger trafen sich,

Adda und Bergis Schmidt-Ehry (mittlerweile in Berlin)
Ernst und Irmie Richter
Gerhard Ihle,
Arne Beppler,
Andrea und Michael Neischwander,
Andrea Theiß,
Michael Becker,
Klaus Kirdorf,
Stefan Lerach,
und die leider schon verstorbenen
Marianne Peter
und Gitta Donges-Herbel.

Sie gründeten den Verein Wetzlar Erinnert e.V., der 2014 als gemeinnützig anerkannt wurde, vor allem, weil in diesem Rahmen nicht nur der Weg der Erinnerung, sondern auch zahlreiche weitere Projekte voran getrieben werden konnten und aus der Initiative eine organisatorische Plattform werden konnte, die engagierte Menschen zusammen führt.

Und so wurden aus den 14 Gründungsmitglieder heute 49, zu denen auch ich mich glücklicherweise zählen darf.
Kleiner Werbeblock: wer heute hier aber noch kein Mitglied ist, wird nicht darin aufgehalten es heute zu werden.

Was aber nicht jeder werden kann, das ist Ehrenmitglied und deswegen sei mir an dieser Stelle ein kleiner Exkurs erlaubt, denn ein Ehrenmitglied möchte ich besonders hervorheben.

Weil es so wichtig ist, dass Zeitzeuginnen und Zeitzeugen über ihr Leben erzählen und berichten.
Denn das macht Geschichte authentisch und bringt sie auf besondere Weise nah.
Wenn du erzählst, wie du deine Großeltern, deine Mutter verloren hast, wie du ausgegrenzt und beschimpft wurdest.
Und zu was Menschen fähig werden, wenn Menschenfeinde das Ruder übernehmen.

Dafür gebührt dir ein ganz großes Dankeschön!!!

Weiter mit dem Verein, denn neben dem Weg der Erinnerung war die Frage der NS-Zwangsarbeit in Wetzlar ein weiteres Thema, das euch bewegte und bewegt. Schon allein das Ausmaß: Jeder dritte Zivilist war zu der Zeit ein Zwangsarbeiter. Mit 12-Stunden-Schichten im Akkord, in Baracken lebend zur Sklavenarbeit gezwungen – das ist auch Teil unserer Industriegeschichte.

In dieser Zeit einer Kriegswirtschaft, in der gerade auch ukrainische Zwangsarbeiter hier bei uns ausgebeutet wurden, gedemütigt und bis zum Tode gequält – da zeigt sich auch die ganz besondere Verantwortung und Solidarität die wir heute den Geflüchteten aus der Ukraine entgegen bringen und der Wille, das dieser Teil der Geschichte unserer Heimat nie vergessen wird und Verantwortung für die Zukunft daraus wächst.

Aber nicht jeder Ort kann Teil des Wegs der Erinnerung werden.
Und deswegen hat Wetzlar erinnert seit 2018 angefangen Gedenktafeln aufzustellen. 16 Tafeln wurden bereits aufgestellt – 25 sollen es werden.
Bei einigen der Einweihungen durfte ich dabei sein.
Sie stehen auf dem IKEA-Gelände oder bei der Buderus Villa, am Hessenkolleg oder am Friedhof in Niedergirmes.

Und sie fordern auf, sie laden ein zum Innehalten und Nachdenken – damit man nicht vergisst was geschehen ist:
Das diejenigen, die angaben das Volk zu vertreten als erstes die Interessenvertretung der arbeitenden Menschen zerschlugen,
dass es auch immer Widerstand gab, der auch mit dem Leben bezahlt wurde, wie der von Erich Deibel,
oder dass aus „braunen Häusern“ „weiße Häuser“ werden können.

Und dass man sich Tradition, Kulturgut und Spaß wieder zurückholen kann – wie das Ochsenfest in Wetzlar.

Aber dabei bleibt es nicht, denn Erinnerungsarbeit hat viele Facetten und braucht und nutzt viele Medien: Gedenkstättenfahrten und Ausstellungsbesuche – KZ-Außenlager Mörfelden-Walldorf, Hadamar oder Kriegsgefangenenlager Ziegenhain. Die Verstrickung der Justiz in das NS-System, das Eintracht-Museum in Frankfurt, Lesungen am Anti-Kriegs-Tag, Themenabende und die Herausgabe vieler Schriften. Dazu Schulprojekte und vieles andere mehr.

Wetzlar erinnert hat es geschafft, das Stadtbild zu prägen und aufmerksam zu machen. Ihr seid mittendrin, in den verschiedenen Aktionen und Initiativen und ihr seid erfolgreich – denn ihr wirkt und bewirkt viel und erreicht viele.

Und deswegen nochmal an den Vorstand persönlich – an Ernst Richter als Vorsitzenden, an Natalija Köppl als stellv. Vorsitzende, an Andrea Grimmer, die Schatzmeisterin, an Irmtrud Richter, die Schriftführerin, und die Beisitzer Arne Beppler und Stefan Lerach ein unglaublich großes Dankeschön. Es ist gut, dass es euch gibt.

Und das gilt nicht nur für den Verein. Das darf ich an dieser Stelle sagen. Ihr alle macht ja nicht nur das, sondern wirkt an vielen anderen Orten auch noch für unsere Gesellschaft, für Menschlichkeit, für Demokratie und das unermüdlich seit vielen vielen Jahren. Dafür meinen Respekt und mein Dankeschön.

Denn ohne Menschen wie euch kommen wir nicht durch diese Zeit. Und das meine ich sehr ernst.
Ich gehöre auch zu der Generation, wo gerne »wehret den Anfängen« gerufen wurde.

Aber damit sind wir durch.
Die Anfänge sind schon vorbei.

Wir sind mittendrin in einer gesellschaftlichen Dynamik, die nicht nur mir, sondern vielen anderen auch Angst macht.

Aber es ist nicht nur die Auflösung dessen, was mal »Political correctness« hieß und dann als Begriff verbrämt wurde.

Eigentlich ging es um nichts anderes, als eine gemeinsame Basis, eine gemeinsame Wertehaltung, auf die man sich als Gesellschaft geeinigt hatte und die den Rahmen für Diskussion, Auseinandersetzung, gerne auch mal heftigen Streit gesetzt hatte.

Rassismus, Frauenfeindlichkeit, aggressiver Hass, gegen alles, was anders ist als man selbst, gehörten nicht dazu. Und das war auch gut so. Denn das Leben ist schöner, wenn man sich gegenseitig respektiert.

Aber das ist vorbei. Und nicht nur im Osten. Man wird vorsichtig, was man sagt.

Wenn man sich vorsichtig beim Hausarzt abtasten muss, ob er irgendeiner Verschwörungstheorie anhängt oder man bei einer Familienfeier Angst hat, dass Onkel Erwin gegen Migrantinnen und Migranten hetzt und das ganze Fest zerstört. Dann ist unsere Gesellschaft weniger lebenswert geworden.

Wenn diejenigen, die emphatisch mitfühlen, wenn Menschen vor Krieg und Verfolgung fliehen, aus Angst vor der Reaktion den Mund nicht mehr aufmachen. Für Hass und Hetze den Platz räumen. In WhatsApp-Gruppen nicht dagegenhalten, wenn rechte Propaganda geteilt wird, dann bekommt die aggressive Minderheit die Oberhand.

Und wenn dann noch eigentlich stolze demokratische Parteien die Hand reichen und normalisieren, was in einer Demokratie nie normal werden darf. Dann sind wir an einem kritischen Punkt.

Wenn Brandmauern zu reiner Rhetorik zerfallen und faschistischer Bilder und Sprache in die Mitte der Gesellschaft gelangen, dann müssen wir uns wappnen.

Mit dem was immer noch die vielen in unserer Gesellschaft im Herzen tragen. Einem Gefühl, dass es zwar gerade schwierig ist, dass es aber nirgendwo wirklich besser ist. Da ist immer noch die Mehrheit, die sich ehrenamtlich für andere einsetzt, die mitfühlt und mitdenkt. Die die Herausforderungen der Zeit annimmt und gestalten will. Die das Positive darin sehen kann. Und die sich der eigenen Verantwortung bewusst ist. Diese zu stärken, zu bestätigen und es ihnen leichter zu machen. Das ist unsere Aufgabe.

Und dazu braucht es Menschen wie euch. Macht weiter so.
Vielen Dank dafür. Und für die Geduld zuzuhören.

Fotos: Stefan Lerach @ Wetzlar erinnert e.V.