Anlässlich der reichsweiten Schändung der Synagogen, der Zerstörung jüdischer Geschäfte und Einrichtungen, sowie der Verfolgung von jüdischen Mitbürgern während der Reichspogrome im November 1938 wird auch in Wetzlar eine Gedenkfeier ausgerichtet. Sie findet am Ort der ehemaligen Wetzlarer Synagoge in der Pfannenstielsgasse statt, die in der Nacht zum 10. November 1938 zerstört wurde. Ein Abbrennen des Gebäudes – wie es an vielen anderen Orten geschehen ist – verhinderte der benachbarte Brauereibesitzer Waldschmidt, der ein Übergreifen des Feuers auf seine Häuser befürchtete. Aber die Zerstörung der Einrichtung sowie der Wohnung des über der Synagoge wohnenden jüdischen Kultusbeamten erfolgte durch die SA.

Das baufällig gewordene Haus wurde – auf Beschluss des damaligen Magistrats – 1956 abgerissen. Heute befindet sich dort eine Gedenktafel, vor der die Gedenkfeiern stattfinden.

Der Magistrat der Stadt Wetzlar hatte auch in diesem Jahr – in Kooperation mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen­ | Wetzlar – zu einer Gedenkfeier am Jahrestag der Reichspogrome am:

Di., 9. November 2022
17:00 Uhr
an der Gedenktafel für die ehemalige Synagoge
in der Pfannenstielsgasse

eingeladen.

Das Veranstaltungspogramm sah wie folgt aus:

  • Begrüßung:
    Oberbürgermeister Manfred Wagner
  • Redebeiträge:
    Dr. Oliver Nass
    (Enkel von Frau Elsie Kühn-Leitz)
    Nicolas Obitz
    (Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Gießen)
  • Kaddisch (Totengebet):
    Lawrence de Donges-Amiss-Amiss
    (Vertreter der jüdischen Gemeinde Gießen)
  • Psalmrezitation:
    Pfarrer Peter Hofacker
    (Katholische Kirche)
  • Kranzniederlegung
  • Instrumentalstück
    Soundtrack zum Film »Schindlers Liste«
  • Redebeitrag:
    Pfarrer Wolfgang Grieb
  • Gedenken im Horizont des Ukraine-Krieges
    inmitten aktueller Kriegserfahrungen und Kriegsbedrohung
  • Abschluss der Veranstaltung:
    Oberbürgermeister Manfred Wagner
    Liedbeitrag

    »Eli, Eli«

Die musikalische Begleitung der Gedenkveranstaltung
erfolgte von Elisabeth Hausen (Gesang), Travis Meisner (Klarinette) sowie Jörn Martens (Gitarre).

Immer wieder eine Frage: Wie konnte es sein?
Stadt und GCJZ erinnern an Novemberpogrome des Jahres 1938

Von Pascal Reeber
WETZLAR. Es waren eben nicht allein die Wannsee-Konferenz und die Todesfabriken in Auschwitz oder anderswo. Der Judenhass und schließlich die Vernichtung, sie spielten sich auch im Alltag ab, mitten in unseren Städten. Der 9. November 1938, als vielerorts in Deutschland Synagogen brannten oder verwüstet wurden, ist das Fanal jener unseligen Zeit. Am Platz der früheren Wetzlarer Synagoge haben Stadt und Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) am Mittwochabend erinnert.

Wagner: Widerstand hat größeren Platz verdient
»Der 9. November steht wie kein anderer Tag für Licht und Schatten in der deutschen Geschichte«, sagte Oberbürgermeister Manfred Wagner (SPD) mit Bezug auf die Reichspogromnacht 1938, den Mauerfall 1989 und die Ausrufung der Weimarer Republik 1918. »Dieser Tag stellt uns die wohl schwierigste und schmerzhafteste Frage der deutschen Geschichte: Wie konnte es sein, dass das Volk, das 1918 den Aufbruch in die demokratische Selbstbestimmung wagte, innerhalb weniger Jahre den Totengräbern der Demokratie zur Mehrheit verhalf?«

Wie konnte es sein? Diese Frage stelle sich aber nicht nur an einer Stelle, sagte der OB. Sondern auch bei den weiteren Ereignissen. Etwa, als Deutschland seine Nachbarn mit Tod und Vernichtung überzog. Oder als jüdische Bürger verhaftet wurden und Nachbarn jubelten. Oder eben, als am 9. November 1938 im ganzen Land die Synagogen brannten. Wie konnte es sein?

Dankenswerterweise gebe es auch mutmachende Beispiele aus jener Zeit, sagte Wagner mit Blick auf den Rettungswiderstand. »Dieser hätte nach meinem Empfinden in der Erinnerungskultur einen größeren Platz verdient.«

Rettungswiderstand gab es auch in Wetzlar, wo am 9. November 1938 die SA die Synagoge in der Pfannenstielsgasse verwüstete. In seiner Rede erinnerte Oliver Nass an seinen Urgroßvater Ernst Leitz II. Auch er hatte jüdischen Bürgern geholfen, unter anderem durch die finanzielle und organisatorische Unterstützung bei der Ausreise. Beispiele wie dieses zeigten, dass es in einer dunklen Zeit eben auch Lichtblicke gab, sagte Nass. „Das, was der jüdischen Bevölkerung und andere Minderheiten passiert ist, dürfen wir nie vergessen. Und auch nicht, wie es dazu kam.“ Die heutige Generation trage keine Schuld, wohl aber Verantwortung – für die Erinnerung nämlich.

Von Normalität im Hier und Jetzt weit entfernt
Vom alltäglichen Antisemitismus im Hier und Jetzt berichtete Nicolas Obitz (Deutsch-Israelische Gesellschaft Gießen). Elf Drohbriefe habe er im vergangenen Jahr in seinem Briefkasten gefunden, dazu beschmierte Ausgaben der Jüdischen Allgemeinen. Als Jude lebe man auch im Jahr 2022 kein normales Leben. „Oder fährt die Polizei an hohen christlichen Feiertagen vor ihrem Haus Streife?“, fragte er in die Runde der rund 100 Besucher. „Für Juden hier ist das leider traurige Realität.“ Der Blick zurück sei wichtig, sagte Obitz. „Aber die Vergangenheit werden sie nicht mehr ändern. Die Gegenwart und die Zukunft schon. Ein immerwährendes ,Nie wieder‘ wird uns nicht weiterbringen. Was zählt, sind ihre Handlungen.“

Worte des Gedenkens sprachen auch die Pfarrer Peter Hofacker und Wolfgang Grieb sowie Lawrence de Donges-Amiss-Amiss (jüdische Gemeinde Gießen).