Gedenkstunde am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus
Bürger zu einem deutlichen »Nie wieder!« aufgefordert

Es versammelten sich Vertreter*innen der Wetzlarer Stadtgesellschaft  am 1987 errichteten Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus für die Opfer des Nationalsozialismus im Rosengärtchen zum Holocaust-Gedenktag. Stadtverordnetenvorsteher Udo Volck begrüßte die rund 50 teilnehmenden Personen mit den Worten: »Antisemitismus und Rassismus entgegenzutreten, ist unsere tägliche Aufgabe«. Martin Zörb, sorgte mit dem Saxophon für eine musikalische Umrahmung der Veranstaltung. Schüler aus Geschichtsleistungskursen der Goetheschule berichteten von Ihrer Erforschung von NS-Opfern, der Gedenkkultur in Wetzlar und was sie daraus gelernt haben.

In den Aufklappmenüs können Sie die Ansprachen von Stadtverordnetenvorsteher Udo Volck und OB Manfred Wagner lesen:

Es gilt das gesprochene Wort

Das Redemanuskript fehlt noch

Ansprache von Oberbürgermeister Manfred Wagner zum Holocaust-Gedenktag 2023

Es gilt das gesprochene Wort

Anrede

Heute vor 78 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von Soldaten der Roten Armee befreit. Dabei kamen 231 russische Soldaten ums Leben. Auch das sollten wir in unseren besonderen Zeiten nicht vergessen.

Auschwitz ist das Synonym für den Massenmord der Nazis an den europäischen Juden.

Auschwitz ist der Ausdruck des Rassenwahns und das Kainsmal der deutschen Geschichte.

Und genau so, wie Auschwitz-Birkenau, sind es die Namen der anderen Vernichtungslager, die mit der Geschichte der Opfer, aber auch mit der europäischen und der deutschen Geschichte für immer verbunden sein werden.

Das wissen wir.

Wir tragen diese Bürde in Trauer, wir tragen sie aber auch in ernster Verantwortung.

Millionen von Kindern, Frauen und Männern wurden von deutschen SS-Mitgliedern und ihren Helfershelfern durch Gas erstickt oder ausgehungert und erschossen.

Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer aus ganz Europa wurden mit kalter, mit industrieller Perfektion vernichtet, oder bis zum Tode versklavt.

Einen tieferen Riss durch Tausende Jahre europäischer Kultur und Zivilisation hatte es nie zuvor gegeben.

Es hat einige Zeit gedauert, bis dieser historische Riss nach Kriegsende in seinem ganzen Ausmaß erfasst wurde.

Wir kennen ihn, aber ich bezweifle, dass wir ihn jemals begreifen können.

Vergangenheit lässt sich nicht, wie es oft heißt, »bewältigen«.

Sie ist vergangen.

Doch ihre Spuren und vor allem ihre Lehren reichen in die Gegenwart und dürfen nicht wieder Zukunft zu werden.

Für das Ausmaß des Grauens, der Qualen und des Leids, das in den Konzentrationslagern und in ehemaligen Landesheilanstalten, die zu Tötungsanstalten umfunktioniert wurden – so auch Hadamar, geschah, wird es niemals einen Ausgleich geben können.

Doch wir sind es den Opfern schuldig alles dafür zu tun, damit sich diese Qualen niemals mehr wiederholen.

Vor 27 Jahren versammelte sich der Deutsche Bundestag, um erstmals mit einem eigenen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern.

Die Erinnerung dürfe nicht enden, forderte damals Bundespräsident Roman Herzog. Und er sagte:

»Ohne Erinnerung gibt es weder eine Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft.«

Und in diesem Lichte sind auch Prozesse, wie zuletzt der gegen die frühere KZ-Sekretärin Irmgard Furchner zu sehen, die im KZ Sutthof bei Danzig arbeitete. Sie tat es im Übrigen freiwillig!

Irmgard Furchner fühlte sich am Ende ihres Lebens ungerecht vor ein Gericht gezerrt. Doch ungerecht war aber die Tatsache, dass der mangelnde Aufklärungswille in den Jahrzehnten nach dem Krieg die Mehrheit der Verantwortlichen hat ungestraft davonkommen lassen.

Und mit diesem Prozess ging es darum, das Unrecht festzuhalten, auch für die Angehörigen der Überlebenden des Grauens. Und es geht um die Zukunft, um unsere Zukunft.

Die Verbrechen der Schoa rücken langsam in den Hintergrund.

Diskriminierung, Ausgrenzung, fremdenfeindliche, rechtsmotivierte, antisemitische Straftaten sind allgegenwärtig. – Der Mord an Walter Lübcke, das Attentat von Halle, der Anschlag in Hanau.

Wohin Rassismus führen kann, muss im Bewusstsein aller Generationen bleiben.

Und dabei hilft auch ein Prozess, wie der gegen Frau Furchner weiter.

Ein Prozess, bei dem den immer wieder bemühten Ausreden die Wahrheit entgegengesetzt werden kann: Doch, ihr habt es gewusst, er hättet es wissen können und müssen!

Auch wir sind verpflichtet, die Erinnerung wach zu halten und versammeln.

Da sind Stolpersteine, da ist das Engagement von »Wetzlar erinnert«, da ist das Engagement der Schulen zu nennen, da sind Zeitzeugengespräche mit Gisela Jäckel anzusprechen und Publikationen zu benennen, wie z. B. die gerade aktualisierte Schrift von Karsten Porezag »Als aus Nachbarn Juden wurden«.

Seit einigen Jahren versammeln wir uns zum Holocaustgedenktag hier im Rosengärtchen, an dem Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus.

Diese abgebrochene Marmorsäule veranschaulicht in kaum zu überbietender Klarheit, dass durch die Gräueltaten der Nazi-Diktatur und ihrer Schergen unfassbare Brüche entstanden sind.

Werte der Humanität gingen zu Bruch, Beziehungen wurden jäh beendet und abgebrochen, Vertrauen zerbrach, Lebenslinien wurden jäh unterbrochen, Menschenleben wurden ausgelöscht, Erinnerungen an sie sollten getilgt werden.

Ich danke Ihnen, dass Sie der von Herrn Stadtverordnetenvorsteher Udo Volck und mir gemeinsam ausgesprochenen Einladung zu dieser Gedenkstunde gefolgt sind, damit wir an diesem Tag gemeinsam deutlich machen, dass die Erinnerung nicht enden darf.

Mein ganz besonderer Gruß und mein Dank gilt den Schülerinnen und Schülern des Geschichtsleistungskurses der Goetheschule in Wetzlar, die sich begleitet von Herrn Dr. Fuchs unter dem Titel »Nationalsozialismus in Wetzlar« auf Spurensuche begeben haben.

Die Schülerinnen und Schüler werden heute von Herrn Dr. Strum begleitet, da Herr Dr. Fuchs mit einem Teil der Tutorengruppe in Berlin bei der Preisverleihung des Jugendwettbewerbes gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit der Konrad-Adenauer-Stiftung weilt – und, so hoffe ich, für ihren Beitrag eine Auszeichnung erfährt.

Wir jedenfalls fühlen uns »ausgezeichnet«, dass Sie uns an den Ergebnissen Ihrer Spurensuche teilhaben lassen und neben Herrn Martin Zörb, Saxophon, mit uns diese Stunde des Gedenkens gestalten.

»Die Erinnerung ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen.

Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen, und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.«

So hat es der polnisch-israelischen Ökonom, Diplomat, Holocaust-Überlebende und spätere Präsident des Ausschwitz-Komitees, Eliasz Noach Flug, der von 1925 (Lodz) bis 2011 (Jerusalem) lebte, zum Jubiläum der Stiftung Erinnerung, Aufarbeitung, Zukunft im Jahr 2010 zum Ausdruck gebracht.

Erinnerung ist lebensnotwendig jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr.

Die Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz vor nunmehr 78 Jahren, die Anknüpfungspunkt für diesen Gedenktag ist, ist elementar mit Ereignissen verbunden die sich allesamt in dem Jahr 2023 zum 90. Mal jähren.

Und so stellt uns das Jahr 2023 vor ganz besondere Herausforderungen und konfrontiert uns nicht zuletzt ob der Ereignisse unserer heutigen Tage einmal mehr mit der Frage, ob unsere Form des Erinnerns geeignet und ausreichend wirkungsvoll war, um das Wort des Ausschwitzüberlebenden Justin Sonder zu widerlegen, der gesagt hat:

»Wer denkt, es kann sich nicht wiederholen, der irrt«.

Denn vor 90 Jahren manifestierten sich in unserem Land die Ereignisse, die in Besonderem Ausgangspunkt allen Schreckens waren.

Am 30. Januar 1933 übertrug der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg mit Unterstützung rechtskonservativer Kreise die Macht an Adolf Hitler und die Nationalsozialisten, indem er ihn zum Reichskanzler berief.

Am 1. Februar 1933 wurde der Reichstag aufgelöst und die neuen Machthaber schränkten in den folgenden Wochen, die von nationalsozialistischem Terror gekennzeichnete waren, die politischen und demokratischen Rechte durch Notverordnungen des Reichspräsidenten ein.

Das Reichstagsgebäude wurde am 27. Februar 1933 in Brand gesetzt und als entscheidende Schritte auf dem Weg zur Diktatur gelten die Verordnung des Reichspräsidenten zum »Schutz von Volk und Staat« (die sogenannte »Reichstagsbrandverordnung«), die postwendend am 28. Februar 1933 erging, sowie das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« vom 24. März 1933 – das sogenannte »Ermächtigungsgesetz«.

Es hob nicht einmal 15 Jahre nachdem Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen hatte, die Gewaltenteilung auf und verlieh der Reichsregierung unter Hitler umfassendste Handlungsvollmachten.

Zu der entscheidenden Sitzung des Reichstages in der Kroll-Oper hatten bereits viele demokratisch gewählte Reichstagsabgeordnete keinen Zutritt mehr.

26 Abgeordnete der SPD waren inhaftiert oder geflohen, die gesamte Fraktion der KPD mit ihren 81 Abgeordneten wurde vor der Abstimmung widerrechtlich verhaftet, oder die Abgeordneten waren vor der Gewalt der Nazis geflüchtet und untergetaucht.

Und Repressalien in Kauf nehmend, hielt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Otto Wels, seine beeindruckende Rede gegen das Ermächtigungsgesetz, aus der die Worte

»Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!«

allenthalben bekannt sein sollten.

Am Ende stimmten die 94 anwesenden SPD-Abgeordneten mit »Nein«. Alle anderen Abgeordneten – insgesamt 444 – mit »Ja« und damit verlor der Reichstag praktisch jegliche Entscheidungskompetenz.

Am 21. März 1933 gab Heinrich Himmler, damals noch Polizeipräsident von München, die Errichtung eines Konzentrationslagers in Dachau in Auftrag. Damit begann in Dachau ein Terrorsystem, das mit keinem anderen staatlichen Verfolgungs- und Strafsystem verglichen werden kann.

Konzentrationslager dienten den NS-Machthabern von Anfang an nur einem Zweck.

Hier wurden seit Anfang 1933 alle Andersdenkenden und Gegner des Regimes konzentriert: Kommunisten und Sozialdemokraten, Zeugen Jehovas, oppositionelle Priester und Pastoren, politisch unliebsame Juden, Sinti, Roma und Homosexuelle.

Im Sommer 1941, nach dem Angriff auf die Sowjetunion, begannen die Deutschen mit der Massenerschießung von jüdischen Männern, Frauen und Kindern in den eroberten sowjetischen Gebieten. Diese Morde waren Teil der sogenannten »Endlösung der Judenfrage«, der geplanten Massenvernichtung der europäischen Juden.

Und am 20. Januar des darauffolgenden Jahres trafen sich hochrangige Vertreter des NS-Regimes in einer Villa am Berliner Wannsee, um zu koordinieren, wie die Ermordung der europäischen Juden auf Behördenebene möglichst effizient umgesetzt werden sollte. Das systematische Morden war da bereits von der NS-Führung beschlossen und in vollem Gange.

»Die Erinnerung ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen«,

mit diesem Wort habe ich Noach Elias Fluch zitiert.

Und so stellt uns nicht nur an dem Gedenktag am 27. Januar eines jeden Jahres neu die Aufgabe:

  • Wie können wir immer wieder dafür sorgen, dass die lebensnotwendige Erinnerung ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen finden kann?
  • Wie können wir so gedenken, dass der Holocaust nicht verharmlost wird, dass er nicht dem historischen Vergessen anheimfällt?

Das sind keine nebensächlichen Fragen, sondern sie gehören in das Zentrum unseres Selbstverständnisses.

An der Art und Weise, wie wir das Kainsmal der deutschen Geschichte in Erinnerung halten, wie wir derer würdig und angemessen gedenken, die Opfer wurden, entscheidet sich unsere Identität.

Aber auch mit der bewussten Wahrnehmung, dass die Menschen in unserem Land 1918 zu einem demokratischen Aufbruch einerseits und nur eineinhalb Jahrzehnte später zu entsetzlichen Verbrechen andererseits fähig waren.

Und es wird uns auch an Gedenktagen wie diesem immer wieder neu die Frage danach gestellt, wie wir heute und morgen, jetzt und in Zukunft gemeinsam leben wollen, worauf wir uns in diesem Land gemeinsam verpflichten, wonach wir in diesem, unserem gemeinsamen Land miteinander streben wollen?

Wenn man so will, fragt uns nicht nur der 9. November, der Schicksalstag der Deutschen, sondern auch der Holocaustgedenktag, ob wir die drei großen Ziele aus unserer Nationalhymne wirklich ernst nehmen: Freiheit, Recht, Einigkeit.

Wollen wir in Freiheit leben, wollen wir unser Leben und unser Gemeinwesen selbstbestimmt und demokratisch in die eigenen Hände nehmen?

Wollen wir die Institutionen unserer Demokratie respektieren, wollen wir uns autoritären Versuchungen und medialen Manipulationen entschieden verweigern?

Wollen wir die Herrschaft des Rechts immer und für alle in unserem Land anerkennen? Das Recht auf Leben, auf Freiheit, auf Gleichheit, das Recht auf die eigenen Überzeugungen, Lebensweisen und Glaubensbekenntnisse?

Wollen wir uns dem Unrecht, der Diskriminierung, der Missachtung jeden Andersseins und wollen wir uns vor allem dem Antisemitismus entschieden entgegenstellen?

Und schließlich stellt der Holocaustgedenktag die Frage:

  • Wollen wir in unserem Land Einigkeit leben?
  • Keine Mauern akzeptieren, weder physische noch mentale?
  • Nicht als genormte Einheitstypen, sondern in der Einigkeit der Verschiedenen in ihrer jeweiligen Besonderheit: Einigkeit von West und Ost, von Stadt und Land, von Frau und Mann, von Jung und Alt, von hier Geborenen und später Dazugekommenen?

Wir, die wir uns jährlich zur Gedenkstunde am 27. Januar zusammenfinden, die wir am 9. November den Pogromen gedenken und die wir uns am Volkstrauertag den Opfern von Krieg und Gewalt erinnern, wir haben über die Grenzen demokratischer Parteien hinweg eine klare Position.

Doch nehmen wir nicht zuletzt in Folge der Pandemie und des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine in den sogenannten sozialen Medien, oder bei Demonstrationen, die montags auch in unserer Stadt durchgeführt werden wahr, dass Menschen abseits jeglicher Faktenlage Behauptungen aufstellen und Forderungen erheben, die geeignet sind, unsere Demokratie zu unterhöhlen.

Es gilt wachsam zu sein, es gilt diesen Geistern Widerspruch entgegenzusetzen.

Gerade dann, wenn sie zudem meinen sich mit dem Skandieren des Ausspruches »Wir sind das Volk« mit den Menschen gemein machen zu können, die gegen die Diktatur in der DDR auf die Straße gegangen sind und ganz maßgeblichen Anteil an der Wiedervereinigung unseres Landes haben.

Lassen Sie mich mit einem Wort von Fritz Bauer, dem früheren Generalstaatsanwalt des Landes Hessen zur Spurensuche der Schülerinnen und Schüler überleiten.

Ein Wort, das uns immer begleiten und mahnen sollte:

»Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.«

Rede von Dr. Moritz Fuchs
Schulleiter der Goetheschule Wetzlar
vorgetragen von Moritz Kramer1)

Es gilt das gesprochene Wort

»Orte« jüdischen Lebens
»Orte« der Täter und ihre öffentliche Präsenz in Wetzlar heute

Sehr verehrte Damen und Herren,
vorab möchte ich mich im Namen meiner Tutorengruppe dafür bedanken, heute hier sein zu dürfen.

Wir als Geschichtsleistungskurs der Goetheschule Wetzlar haben uns in den beiden letzten Jahren intensiv mit zahlreichen historischen Fragestellungen, mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen auf nationaler und globaler Ebene auseinandergesetzt. Eine besondere Wendung nahm der Geschichtsunterricht, als unser Geschichtslehrer, Dr. Thorsten Fuchs, uns beim Thema „Nationalsozialismus“ in die Altstadt schickte, um hautnah vor Ort die Auswirkungen dieser Epoche unserer Geschichte kennenzulernen.

Unter der Überschrift »Orte« jüdischen Lebens – »Orte« der Täter und ihre öffentliche Präsenz in Wetzlar heute beschäftigten wir uns in einzelnen Gruppen mit den beiden jüdischen Friedhöfen, der ehemalige Synagoge, mit Stolpersteinen, der Rolle von NSDAP und Gestapo in Wetzlar, mit Fremdarbeiterlagern sowie Gedenkorten wie hier am Fuß des Rosengärtchens. Dabei ging es uns gleichermaßen um die historische Dimension und um die gegenwärtige Wahrnehmung und Aufarbeitung des Themas in Wetzlar.

Eingehende Recherchen im Rahmen eines Projekttages vor Ort, Interviews mit Passanten auf der Straße, Interviews mit dem Oberbürgermeister Herrn Wagner, mit Frau Dr. Knell und Mitgliedern des Vereins »Wetzlar erinnert«, die Nutzung von Archivalien des Historischen Archivs der Stadt Wetzlar sowie der einschlägigen Literatur boten uns teils beklemmende Einblicke in die Auswirkungen, die die NS-Diktatur hier vor Ort hatte. Mit welch großem Engagement wir gearbeitet haben, kann man daran sehen, dass zwei Gruppen ihre Ergebnisse beim Wettbewerb der Konrad-Adenauer-Stiftung »Antisemitismus damals und heute« eingereicht haben und sich gestern und heute zur Preisverleihung in Berlin aufhalten dürfen.

Lassen Sie uns an dieser Stelle einige Eindrücke und Beobachtungen aus dieser Arbeit mitteilen:

Die gemeinsame Gruppenarbeit zum Thema »Gestapo-Außenstelle« an der Hausertorstraße und NS-Parteizentrale im sog. »Weißen Haus« war für uns ein interessanter und belehrender Weg, die NS-Thematik greifbarer zu gestalten. Es ist nun mal ein Unterschied, ob man etwas über das Thema mit Hilfe von Geschichtsbüchern lernt oder ob man sich mit einem konkreten Beispiel in der eigenen Heimatstadt beschäftigt.

Zu merken, dass ein solch menschenverachtendes System wie der Nationalsozialismus ausnahmslos bis in die letzten Winkel Deutschlands Auswirkungen hat, hatte eine sehr erschreckende Wirkung auf uns selbst. Ein Schauder läuft einem über den Rücken, wenn man darüber nachdenkt, was hinter den Mauern geschehen ist. Besonders hat uns an der Geschichte beider Häuser beschäftigt, dass das NS-Prinzip der »Gleichschaltung« tatsächlich so gut funktioniert hat. In Erinnerung geblieben ist uns das Zitat des NSDAP-Kreisleiters Wilhelm Haus, auf das wir bei der Recherche gestoßen sind: Auf die Frage des Mannes einer Frau, die deportiert wurde: »Wie soll ich denn alleine mit fünf kleinen Kindern klarkommen?«, antwortete Haus: »Seien Sie froh, dass Sie Ihre Frau los sind! Und was die Judenbälger angeht, die hängen wir mal gelegentlich auf.«

Informationen konnten wir über die Gedenktafeln und die dort angegebenen Internetseiten erlangen. Dabei ist es unseres Erachtens schade, wie viele Menschen diese Häuser passieren, ohne ihre Geschichte zu kennen.

Alles in allem war die Arbeit an der Hausertorstraße für uns ein voller Erfolg. Mit Hilfe der Informationstafeln und der Internetseite (hauptsächlich der von »Wetzlar erinnert«) war es ein sehr einprägsames, informatives und wichtiges Projekt.

Eine andere Gruppe legt den Fokus stärker auf die heutige Situation:

Beim Projekt der jüdischen Friedhöfe, das uns sehr am Herzen liegt und in welches wir sehr viel Zeit investiert haben, haben wir viele neue Eindrücke gewonnen. Wir haben Besonderheiten der jüdischen Kultur kennengelernt und uns ausführlich mit der Geschichte des jüdischen Friedhofs beschäftigt. Uns selbst hat die Unwissenheit mancher Wetzlarer Bürger erstaunt, die nicht einmal von der Existenz zweier Friedhöfe in Wetzlar wussten. Auch die Verschmutzung des alten jüdischen Friedhofs hat uns sehr erschreckt. Gleichzeitig haben wir im Gespräch mit der Stadt Wetzlar über Gründe für diese Situation nachgedacht und Möglichkeiten in den Blick genommen, wie wir auch als Goetheschule regelmäßig einen Beitrag zur Pflege leisten können. Das Projekt hat jeden von uns für das wichtige Thema sensibilisiert. Ein besonderes Anliegen war es, darüber unter Gleichaltrigen Aufklärung zu leisten, weswegen wir die neusten Ergebnisse jeweils in einem eigens eingerichteten Instagram-Kanal veröffentlicht haben. Darüber hinaus wünschen wir uns, dass Kontakte, die wir knüpfen konnten, z. B. mit Frau Dr. Knell, dem Historischen Archiv oder »Wetzlar erinnert«, auch weiterhin für den Geschichtsunterricht an der Goetheschule und einzelne Veranstaltungen genutzt werden können, eine Anregung, die wir bereits der Fachkonferenz Geschichte an der Goetheschule weitergegeben haben.

Der Weg zu Ikea in Wetzlar hat eine dritte Gruppe an unvermuteter Stelle zu einem weiteren Erinnerungsort geführt.

Uns erschienen die Gedenktafeln leider sehr unscheinbar – so stellen sie fest – und wir mussten leider feststellen, dass sie von den meisten Passanten gar nicht wahrgenommen wurden, was angesichts des Ortes natürlich nicht verwunderlich ist. Dennoch halten wir das Konzept mit den QR-Codes für sehr gut und wir wünschen uns, dass die Tafeln auch dort die Aufmerksamkeit des ein oder anderen Käufers erhalten und so die erschreckende Ermordung von Erich Deibel nicht in Vergessenheit gerät.

Und die vierte Gruppe beschreibt ihre Eindrücke:

Wir haben uns mit den Stolpersteinen und der ehemaligen Synagoge beschäftigt. Zu Beginn unserer Recherche haben wir eine Umfrage bei unseren Mitschülern gemacht, welche zeigte, dass die meisten von den Stolpersteinen zwar gehört hatten, jedoch nicht die Geschichten und Orte dahinter kannten. Von der Synagoge hatten die meisten unserer Mitschüler noch nie gehört. Wir haben uns gefragt, wie das sein kann.

Wir haben uns mehr damit beschäftigt und zunächst geschaut, was man bei Google findet. Dort fanden wir dann den Link zu dem Wetzlar erinnert Verein, auf dessen Seite wir viele nützliche Informationen über unsere beiden Gedenkstätten fanden. Auch interessant war, dass alle Stolpersteine bei Google Maps eingetragen sind.

Nachdem wir uns allgemein informiert hatten, machten wir uns auf den Weg zur Synagoge, um uns ein Bild von der Lage zu machen. Angekommen bei der alten Synagoge fanden wir die Gedenktafel, welche von Efeu überwachsen war. Alleine der Weg hin zu Synagoge war schwierig, da sie leider nicht ausgeschildert war. Schön finden wir jedoch, dass die Gedenktafel an dem Ort steht, wo auch früher die Synagoge stand, auch wenn das Haus längst nicht mehr da ist.

Mithilfe von Google Maps haben wir uns auch viele Stolpersteine angeschaut. Es war wirklich super, dass man sie dort suchen konnte, denn da die Stolpersteine recht unauffällig sind und sich gut dem Straßenbild anpassen, haben wir sie oft erst erkannt, wenn wir direkt davor standen. Die Idee, dass die Stolpersteine vor den früheren Wohnhäusern der Opfer sind, hat uns sehr gut gefallen. Durch sie und auch die Erinnerungsblätter, die es im Internet zu einzelnen jüdischen Personen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, gibt, bekommt man einen kleinen Eindruck der Personen und auch der Zeit damals. Uns war es ein Anliegen, an einzelnen Orten zum Gedenken eine kleine Blume niederzulegen.

An dieser Stelle möchten wir Ihnen zunächst noch einmal für die Einladung, heute hier zu sprechen, danken. Ferner möchten wir Ihnen aber vor allem für ihre großartige Arbeit in Wetzlar danken, die die Erinnerung wachhält, ein Gedenken ermöglicht und an öffentlicher Stelle grundlegende Informationen bereitstellt. Durch Ihre Arbeit konnten wir als Geschichtsleistungskurs diese schreckliche und leidbringende Zeit besser verstehen und behandeln – und zwar nicht nur durch die Distanz eines Schulbuches oder die abstrakte Behandlung von Unterrichtsstoffen vermittelt, sondern greifbar erfahren.

Was heißt für uns erinnern?

Erinnern heißt mehr als Informationen aufzubereiten. Erinnern heißt aufklären. Erinnern heißt Geschichte so aufzubereiten, dass man gar nicht anders kann als zu sagen: Nie wieder!

Erinnern heißt aber vor allem auch zu kämpfen, besonders in Zeiten, in denen Extremismus leider wieder an immer mehr Popularität gewinnt. Wir haben nämlich die Verantwortung, über das aufzuklären, was einmal war, weil das Erbe unserer Geschichte es von uns verlangt.


1) Der Geschichtsleistungskurses der Goethe-Schule in Wetzlar hatte sich unter der Begleitung von Dr. Moritz Fuchs unter dem Titel »Nationalsozialismus in Wetzlar« auf eine Spurensuche begeben. Hierfür wurde dieser Geschichtskurs von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen eines Jugendwettbewerbes gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit geehrt. Am 27. Januar nahmen Dr. Fuchs mit einem Teil der Tutorengruppe in Berlin zeitgleich zu dieser Gedenkveranstaltung den Preis entgegen. Deshalb wurde der Redebeitrag auf der Gedenkveranstaltung von Moritz Kramer verlesen. Moritz Kramer ist Schüler der Klasse 13 und aktiv in der Schüler*innenvertretung seiner Schule. Er gehört dem Geschichtsleistungskurses an.

Moritz Kramer (vorne)

Bilder © Ernst Richter