um mehr über die Zwangsarbeiterzeit ihres Vaters
bei Röchling-Buderus in Wetzlar zu erfahren
Die Niederländerin Karin van Abshoven ist fünf oder sechs Jahre alt, als ihr Vater versucht, über seine Zeit in Wetzlar zu reden. Harry van Abshoven erzählt seiner Tochter, er sei Feuerwehrmann gewesen. Die findet das spannend, fragt immer wieder nach. Doch der Vater will ihr nichts mehr sagen. Was das Mädchen da noch nicht wissen kann: Der »Feuerwehrmann« musste nach Luftangriffen Trümmer schleppen und Leichen bergen. Ihr Vater war im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter in Wetzlar.
Im Gepäck hat Karin van Abshoven aus dem Nachlass Ihres Vaters Bilder und ein ärztliches Gutachten über die Folgen der Zwangsarbeit-Strapazen in Wetzlar, die Harry van Abshoven lebenslang begleiteten.
Die Fünf- oder Sechsjährige Karin von damals ist heute 72 Jahre alt und entscheidet nach der . Mittlerweile weiß sie, wie es ihrem Vater in Deutschland erging. Oder? Sie will noch mehr erfahren. Der Stadt, in die ihr Vater verschleppt wurde, hat sie nun einen Besuch abgestattet.
Vor über 80 Jahren, am 10. Juli 1943, steigt Harry van Abshoven in Rotterdam in einen Zug nach Deutschland. Die nationalsozialistischen Besatzer in den Niederlanden befehlen es. Der frisch 20-Jährige soll nach Wetzlar – für das Stahlwerk Röchling-Buderus arbeiten. Van Abshoven lebt im firmeneigenen Zwangsarbeiterlager in der Gabelsbergerstraße.
Röchling Buderus hatte von den knapp 10.000 Zwangsarbeiter*innen im Altkreis Wetzlar rund 1.100 Menschen für sich beansprucht. Leben muss Harry van Abshoven in dem GemiGemeinschaftsheim Niedergrimes, dass Röchling Buderus für Männer und Frauen aus den Niederlanden, Belgien, Franzosen und Italiener einrichtet, Sie arbeiteten im Zweischichtbetrieb – je zwölf Stunden – auch am Hochofen und im Stahlwerk, der Carolinen-Hütte und beim Kalksteinbruch nebst Zementwerk.
Am Hochofen arbeitet auch der 20-jährige Rotterdamer. Aber nicht lange. Denn der Niederländer ist gelernter Drucker. Wegen seiner Sprachkenntnisse wird er bald in die Betriebsdruckerei eingesetzt. Eines Nachts bricht er mit einer kleinen Gruppe in die Offset-Druckerei ein. Sie versuchen, sich mehr Essensmarken zu drucken – obwohl das Essen „furchtbar“ geschmeckt habe, berichtet Karin van Abshoven. Es gibt Kohlrübensuppe, Kartoffeln aus Polen und Kaffee-Ersatz.
Die nächtliche Druckereiaktion fliegt auf. Die Folge ist eine Lohnstrafe. Käme Harry van Abshoven aus einem anderen Land, sähe die Strafe wohl anders aus. »Ostarbeiter sind fürchterlich behandelt worden«, weiß van Abshoven aus Erzählungen ihres Vaters. Zwangsarbeiter aus den Niederlanden sind aber privilegiert, gelten in der nationalsozialistischen Ideologie als Arier, können in der knapp bemessenen Freizeit das Lager verlassen, Kontakt zu Deutschen pflegen. So holt die Tochter Fotos heraus, die zeigen: Ihr Vater kann sich frei bewegen – macht Ausflüge zum Kalsmunt oder schwimmt in der Lahn.
Aber trotz Privilegien ist er immer noch Zwangsarbeiter. Und Konsequenzen können unvorhersehbar sein, wie sich nach einem Luftangriff im Mai 1944 zeigt: Eine Phosphorbombe trifft das Lager, welches sich direkt am Ufer der Lahn in Niedergrimes befindet. Van Abshoven wird verschüttet und schwer verletzt. Am linken Arm und Knie sowie an den Rippen. Sein linkes Auge erblindet in der Folge. Erst nach zwei Tagen wird er ausgegraben und ins Wetzlarer Krankenhaus gebracht (auch ein »Privileg, dass die Ostarbeiter oder Polen nicht gehabt hätten). Insgesamt war er sechs Tage bewusstlos.
Im Krankenhaus spielt ein Mann eine Rolle, dem auch Karin van Abshoven begegnen wird: »Onkel Walter«. Nach dem Krieg ist »Onkel Walter« mit seiner Frau und zwei Söhnen – einen hatte er Harry genannt – zu Besuch bei den van Abshovens in Rotterdam.
Später findet Karin van Abshoven heraus: »Onkel Walter« ist während des Zweiten Weltkriegs deutscher Wehrmachtsoffizier, der sich offenbar mit dem niederländischen Zwangsarbeiter angefreundet hat. Im Krankenhaus bringt Walter Koch ihm immer wieder Essen vorbei – und einmal auch eine zweite Uniform.
Van Abshoven soll diese anziehen, das Krankenhaus verlassen und in einen Wald fliehen. Dort hört die Geschichte, die van Abshoven seiner Tochter erzählt hat, aber auf.
Diese Lücke in der Geschichte ihres Vaters will die Niederländerin füllen. Das chronologisch nächste Ereignis: Van Abshoven sitzt mit seinen Verletzungen und halbseitiger Erblindung beim SS-Arzt, der ihm vorwirft, er simuliere. Daraufhin wird van Abshoven im November 1944 wegen »Arbeitsvergehen und politischer Unzuverlässigkeit« in ein Arbeitserziehungslager (AEL) versetzt. Laut einem Dokument in das »SS-Erziehungslager Heddernheim, Außenlager Simberg« – für die Niederländerin ein weiteres Rätsel.
Auch für WETZLAR ERINNERT e.V. ist ein solches Lager im Raum am Wetzlarer Simberg eine neue Erkenntnis »Das SS-Arbeitserziehungslager Heddernheim (bei Frankfurt)« ist uns schon aus den Erzählungen des weißrussischen Zwangsarbeiters Tomaz Kiryllow bekannt. Auch dass das SS-AEL Heddernheim Außenlager besaß. Aber in den uns bekannten Unterlagen tauchte dort bisher kein Außenlager Simberg auf«, erwidert Ernst Richter (Vorsitzender von WETZLAR ERINNERT e.V.) in einem der vier Begegnungen zwischen Karin van Abshoven und Vereinsvertreter*innen.
»Er hat einige schreckliche Sachen erzählt«, sagt Karin van Abshoven über das AEL. Ihr Vater wird mehrere Male misshandelt, geschlagen. Morgens müssen er und seine Mitinsassen 1,5 bis 2 Stunden in ihren stinkenden, gestreiften und teils nassen Jacken in der Kälte stehen. Ihr Vater muss Exekutionen miterleben. Immer mit der Warnung: »Pass auf, morgen bist du dran.«
Tagsüber geht es in einen Kalksteinbruch. Ohne Lohn. Nachts muss ihr Vater auf Zementboden schlafen. Zum Essen bekommt er zwei Stücke Brot, Wassersuppe und wieder polnische Kartoffeln. Zwangsarbeitern aus östlichen Ländern sei es seinen Erzählungen nach noch schlechter gegangen. Van Abshoven muss etwa beobachten, wie sie wegen Unterernährung auf Latrinen sterben. Er selbst überlebt die Zeit.
Während seiner Zeit in Deutschland gilt Kontaktverbot nach außen. Briefe werden zurückgeschickt. Karin van Abshovens Tante wird ihr aber einige Jahrzehnte später erzählen, dass eines Tages ein deutscher Offizier mit einem Paket Waschpulver vor der Haustür der van Abshovens in Rotterdam gestanden habe.
Nach einem geheimnistuerischen »Psst« verschwindet der Soldat schnell. Im Paket, dass Harry van Abshoven Mutter öffnet, befindet sich ein Bild von Harry. Im Hintergrund ist der Kalksteinbruch zusehen, Harry ist im Profil zu sehen, aber damit sind seine Augenverletzungen nicht sichtbar. »Es war aber das erste Zeichen für die Familie, dass er noch lebt«, sagt seine Tochter.
Nach mehreren Monaten im Arbeitserziehungslager kommt van Abshoven im Februar 1945 wieder zurück zu Röchling-Buderus. Aber durch die vielen Luftangriffe ist die Arbeit unmöglich. Stattdessen muss er nun die Trümmer und Leichen aufräumen – »Feuerwehr«, wie er es seiner jungen Tochter umschreiben wird.
Ende März befreien die Amerikaner das Arbeitslager und das Rote Kreuz bringt den noch immer verletzten jungen Mann in ein Maastrichter Krankenhaus. Im Anschluss wird er einen Monat im Kloster versorgt. Aber seine Verletzungen begleiten ihn sein ganzes Leben, sind immer sichtbar. Er kann kein Auto fahren, bleibt auf dem linken Auge blind. Vor allem ist er aber psychisch krank.
Bereits 1945 meldet er sich bei einem Psychiater. Viele weitere sollen folgen. Auch noch Jahrzehnte später. Allein in zwei Jahren besucht er wohl elf Psychiater. Manchmal hat er das Gefühl, wieder für einen Simulanten gehalten zu werden – wie damals vom SS-Arzt. In den 1980ern will er sich das Leben nehmen.
Wie schlimm es ihrem Vater wirklich ging, erfährt Karin van Abshoven vor allem aus seinen Aufzeichnungen. »Der Mann war manchmal etwas melancholisch, aber durchaus auch gut gelaunt«, sagt sie über ihren Vater. »Er konnte lachen.« Mit Blick auf die lange Liste an Psychiatern sagt sie aber: »Ich wundere mich über seine Standkraft, dass er das durchgehalten hat.«
Er wechselt oft den Arbeitgeber. Einmal, weil er sich mit seinem Chef, einem NS-Kollaborateur, streitet. Mit Deutschland an sich hat er aber kein Problem. »Wir waren immer in Deutschland im Urlaub«, sagt van Abshoven. Mehrere Male besucht ihr Vater auch Wetzlar.
Als er 1988 von einer dieser Reisen zurückkommt, sagt er zu seiner Tochter: Das nächste Mal will er zusammen mit ihr nach Wetzlar. Dazu kommt es aber nicht. 1995 stirbt Harry van Abshoven an einem Schlaganfall. Nun ist seine Tochter alleine auf Spurensuche.
Mehrfach arbeitet Karin van Abshoven Dokumente aus dem Stadtarchiv durch – das sei nicht immer einfach, wenn die Nazis seinen Namen auf acht verschiedene Weisen schrieben und ihn manchmal unter »Tschechen« oder »Polen« kategorisierten.
Viele Lücken sind schon gefüllt, andere will sie noch füllen. Die Zwangsarbeiterzeit ihres Vaters prägte schließlich auch sie. Seien es auch nur Lektionen wie: »Zuerst Socken und Schuhe anziehen, damit du schnell wegkannst.«
Sie lobt die Zuvorkommenheit, mit der man ihr im Wetzlarer historischen Stadtarchiv geholfen hat. Schon beim ersten Besuch im histirschen Archiv findet sie von Frau Dr.Schneider zusammengestelle Dossiers auf einem Tisch.
WETZLAR ERINNERT e.V. wird sich gezielt an weitere Nachforschungen über das SS-Arbeitserziehungslager Heddernheim – Außenstelle Simberg machen. »Karin hat unserem Verein mit ihren Nachforschungen geholfen, unsere Kenntnisse über das NS-Lagersystem von Wetzlar zu erweitern zu können,« sagt Ernst Richter. Und er dnakt Karin dafür, »dass wir einem der 10.000 Zwangsarbeiter*innen von Wetzlar mehr ein Gesicht und einen Namen geben konnten.«