Warum das College der Univerity of Chicago die Gedenktafel für Christian Wilhelm Mackauer unterstützt:
Statements von Elisabeth Clemens und Professor John Boyer als Videobotschaft
The College At The University of Chicago
Prof. Elisabeth Clemens
Professorin für Soziologie an der University of Chicago
Wir freuen uns, gemeinsam mit den Lehrkräften und Schülern der Goetheschule Wetzlar das außergewöhnliche Leben von Dr. Christian Mackauer und Clara Mackauer zu feiern. Ich bin Elisabeth Clemens, ein Mitglied des College und des Fachbereichs Soziologie. Ich wurde – wie ehemals Dr. Mackauer – zum William Rainey Harper Professor ernannt. Es gibt vier dieser Lehrstühle, die eingerichtet wurden, um Lehrkräfte zu würdigen, die einen besonderen Beitrag zum College geleistet haben. Dr. Mackauer hat unser Leben hier durch seine großen Beiträge zur Gestaltung eines berühmten Teils des Chicagoer Kerncurriculums für Undergraduates nachhaltig geprägt, den Kurs Geschichte der westlichen Zivilisation.
Ich freue mich nun, Ihnen Professor John Boyer vorstellen zu dürfen, der Martin A. Ryerson Distinguished Service Professor für Geschichte am College ist, und seit vielen Jahren Dekan des Colleges. Professor Boyer ist ein Historiker sowohl Österreichs als auch der Universität von Chicago, also genau der richtige Gelehrte, um ein paar Worte über die wichtige Rolle zu finden, die Professor Mackauer und andere emigrierte Wissenschaftler bei der Entwicklung der Universität von Chicago gespielt haben.
Chicago, den 26.02.2024
Lis Clemens
Übersetzung des Skripts für die Video-Grußbotschaft von Thomas Welling
Das Statement von Prof. John Boyer
Lehrstuhl für Geschichte des modernen Europas:
Christian Mackauer wurde 1934–44 eingestellt, um sozialwissenschaftliche Theorie zu lehren, spielte aber schon bald eine führende Rolle bei der Entwicklung der vergleichenden Kultur- und Zivilisationsforschung in den 1940er und 1950er Jahren an der Universität von Chicago. Er kam als Flüchtling aus Hitlerdeutschland. Er erhielt 1948 eine unbefristete Anstellung und wurde bald zu einem zentralen Akteur bei der Entwicklung des neuen Studiengangs Geschichte der westlichen Zivilisation an der Hochschule nach 1948.
Die University of Chicago wurde 1890 gegründet und war stark von den Idealen der deutschen Forschungsuniversitäten beeinflusst. Unsere frühe Fakultätskultur orientierte sich daher an Deutschland, was die Ideale wissenschaftlicher Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Reputation betraf.
Doch fünfzig Jahre später – in den 1940er Jahren – war die Universität so erfolgreich und angesehen, dass sie führende deutsche Flüchtlinge in ihre laufenden Studienprogramme aufnehmen und von dem intellektuellen Kapital und den kulturellen Werten profitieren konnte, die diese Gelehrten mit in die Neue Welt brachten. In den 1940er Jahren erwies sich die Universität von Chicago, die von einem bemerkenswerten Zusammentreffen amerikanischer und europäischer Werte aus dem Mittleren Westen geprägt war, als weitaus kosmopolitischer als die von den Nazis dominierten deutschen und österreichischen Universitäten, aus denen diese Gelehrten fliehen mussten.
Mit der Einstellung von deutschen Flüchtlingen wie Christian Mackauer bekräftigte die Fakultät den frühen Internationalismus, der in den ersten Jahrzehnten der University of Chicago so offensichtlich war. Die Fähigkeiten und die Kreativität, die die geflüchteten Wissenschaftler mitbrachten, wurden durch die Loyalität und Zuneigung von Generationen amerikanischer Studenten belohnt.
Christian Mackauer war ein einflussreicher Lehrer, aber er war auch ein Vorbild für das Ideal des aktiven, informierten Bürgers. Aus dem von den Nazis beherrschten Europa stammend, war er vor allem daran interessiert, die Freiheit des individuellen Geistes zu verteidigen, die seiner Ansicht nach nur durch den Zwang zu intellektueller Aktivität geschützt werden konnte, ähnlich wie ein professioneller Turner seinen Körper trainiert, um eine Art Freiheit zu erlangen.
Mackauer bestand darauf, dass dieses Erbe zunächst als ein intellektuelles Problem behandelt werden müsse, das es zu ergründen und in seiner ganzen Komplexität zu verstehen gelte. Für Mackauer reichte es nicht aus, das Konzept von Freiheit zu studieren. Man muss sich darin üben, intellektuell frei zu sein, und das kann nur durch die aktive Auseinandersetzung des Schülers mit den Mechanismen und Materialien des Lernens geschehen.
Christian Mackauer schätzte den Wert und den Einfluss der europäischen intellektuellen Traditionen als Bereicherung des amerikanischen Kulturlebens sehr. Aber Mackauer war auch der Meinung, dass amerikanische Universitätsstudenten die Komplexität und sogar die Willkürlichkeit solcher überlieferten Ideen begreifen mussten, um ihre eigene mögliche Rolle in der modernen Gesellschaft zu verstehen. Er war somit ein idealer internationaler Bürger, der die besten Tugenden der europäischen und der amerikanischen Kultur in sich vereinte.
Es war ein Privileg für uns, ihn als Kollegen und Freund zu haben.
Chicago, den 26.02.2024
John Boyer
Übersetzung des Skripts für die Video-Grußbotschaft von Thomas Welling
Elisabeth S. Clemens (A.M. 1985, Ph.D. 1990) ist Professorin für Soziologie an der University of Chicago und ehemalige Master of the Social Sciences Collegiate Division.
Ihre Forschungsarbeiten befassen sich mit der Rolle von sozialen Bewegungen und organisatorischen Innovationen im politischen Wandel.
Clemens‘ erstes Buch, »The People’s Lobby: Organizational Innovation and the Rise of Interest Group Politics in the United States«, 1890-1925 (Chicago, 1997) wurde sowohl in der Organisationssoziologie (1998) als auch in der politischen Soziologie (1999) als bestes Buch ausgezeichnet.
Lehrstuhl für die Geschichte des modernen Europas,
Professor John Boyers Forschungs- und Lehrtätigkeit konzentriert sich auf die Geschichte des modernen Europas, insbesondere auf die Staaten, die Völker und die Gesellschaften Mitteleuropas seit 1700. Seine besonderen Lehrinteressen gelten der deutschen Geschichte von 1740 bis 1918, der Geschichte des Habsburger Reiches von 1648 bis 1918 und der Geschichte Österreichs von 1918 bis heute, Religion und Politik in der modernen europäischen Geschichte sowie der Geschichte der europäischen und amerikanischen Universitäten im 19. und 20. Jahundert.
In den letzten Jahren hat er sich mit der Geschichte der Universität und mit der Geschichte des Habsburgerreiches und des republikanischen Österreichs beschäftigt. Er veröffentlichte The University of Chicago: A History (University of Chicago Press, 2015), undhat kürzlich den Band Austria, 1867-1955 für die Reihe Oxford History of Modern Europe abgeschlossen, der Ende 2022 bei Oxford University Press erscheint.
Derzeit arbeitet er an der Geschichte von Religion und Politik in der modernen europäischen Geschichte von 1789 bis 1960 für Princeton University Press.