WETZLAR | Am 21. Mai 2022 nahmen knapp 50 Menschen in Niedergirmes an gleich zwei Enthüllungen von Gedenktafel zu den Ereignissen der NS-Zeit teil. Es handelt sich um die

Zu den Tafelstifter*innen gehörten Viola Krause (Volksbund Hessen), Dr. Hartmut Sitzler (ev. Kirchenkreis an Lahn und Dill), Pfarrer Peter Hofacker (Pfarrei Unsere liebe Frau Wetzlar), Pfarrer Wolfgang Grieb (GCJZ Gießen | Wetzlar), der Magistrat der Stadt Wetzlar (vertreten durch Stadtrat Jörg Kratkey und unser Verein (vertreten durch Irmtrude Richter)

Nachfolgend können Sie in den Aufklappmenüs per Mausklick den Bericht von Klaus Petri lesen, die Bilder von der Veranstaltung betrachten oder den Film, der den 28 Opfern des jüdischen Gettos gedenkt.

Zwei Gedenktafeln am 21. Mai 2022 in Niedergirmes enthüllt
Gedenkstunde in der St. Wallburgis-Kirche

Von Klaus Petri
»Die ganze NS-Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen. […] Zum ersten Mal in der deutschen Politik ist so die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen.«

Mit diesem Kurt Schumacher-Zitat vom 23.02.1932 charakterisierte Wetzlars Kulturdezernent Jörg Kratkey (SPD) für den Magistrat den demagogischen und verbrecherischen Charakter der Nazi-Ideologie. Aus Anlass der Enthüllung von zwei weiteren der insgesamt 21 geplanten Erinnerungstafeln zur NS-Zeit in Wetzlar hatten sich rund 30 Menschen eingefunden, darunter Repräsentanten der Tafel-Stifter-Organisationen am Niedergirmeser Friedhof und dem 1942 als Sammel- und Abschiebe-Ghetto für die jüdische Bevölkerung Wetzlars genutzten Gebäude Jahnstraße 3.

Eine würdige Gedenkfeier für die 269 verstorbenen – meist aus Osteuropa stammenden – Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und die deportierten und ermordeten jüdischen Menschen fand in der benachbarten Katholischen Kirche statt. Ernst Richter ( Vorsitzender von Wetzlar erinnert e.V.) nannte die Zahl von 26 Mio. Menschen aus ganz Europa, die während des 2. Weltkrieges verschleppt und zur Zwangsarbeit – meist in der Rüstungsproduktion – eingesetzt worden waren. Im damaligen Altkreis Wetzlar waren es in 1942 knapp 10 Tausend Menschen. Richter bedankte sich bei den Tafelstiftern für ihr Engagement und bedauerte zugleich, dass sich die IHK des Lahn-Dill-Kreises nicht habe entschließen können, sich auf diese Weise am historischen Gedenken vor Ort zu beteiligen.

Die einstündige Gedenkfeier vermittelte zunächst Einblicke in den Alltag der zu »Untermenschen« erklärten und als Arbeitssklaven behandelten Menschen. Katharina Börner, Mia Förster und Sarah Schneider – Schülerinnen der Klasse 9B an der August Bebelschule – hatten hierfür historische Quellen gesichtet und aufbereitet. Die Beerdigung eines verstorbenen Zwangsarbeiters wurde seitens der Behörde als »lediglich gesundheitspolitische Maßnahme« bewertet, der Leichnam sei mit Teerpappe oder Ölpapier zu umwickeln und eine Trauerzeremonie mit geistlichem Beistand habe zu unterbleiben. Für einen verstorbenen Säugling – mutmaßlich wurde er gemeinsam mit einer Erwachsenen ins Grab gelegt – erging die Order, ihn »im Abort zu entsorgen«.

Viola Krause ist Landesgeschäftsführerin des Volksbundes für Kriegsgräberfürsorge in Hessen. Sie sieht Gräber als Mahnung und Erinnerung und freute sich über das von WETZLAR ERINNTERT e.V. und der verstorbenen Historikerin Marianne Peter bisher Geleistete: »Fragmentarisches Wissen ging nicht verloren, sondern wurde systematisiert und aufgezeichnet. Die Gräber wurden so aus ihrem Schattendasein befreit. Dabei sind Grabstätten nicht selbsterklärend. Die von uns heute installierten Tafeln fordern zum Nachdenken, eigenem Handeln und gemeinsamem Gegensteuern angesichts bedrohlicher Entwicklungen auf«.

Superintendent Dr. Hartmut Sitzler sprach für den Ev. Kirchenkreis an Lahn und Dill. Er nahm auf seine seelsorgerische Arbeit Bezug: »Menschen sollen erwachsen, gesund und frei sein. Verdrängung und Leugnung führen dazu, dass man nicht aufrecht und frei ist«. Das gelte auch für historisches Gedenken und das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft: »Wer von Goethe und Bach begeistert ist, kann die dunkelsten Kapitel der eigenen Geschichte nicht einfach ausblenden«. Das komme hervorragend durch das Jesu-Wort »Die Wahrheit wird euch freimachen!« zum Ausdruck.

Der katholische Pfarrer Peter Hofacker findet es beim historischen Gedenken angemessen, »die Opfer selbst zu Wort kommen zu lassen«. Es gelte, das Leben und die Menschen zu lieben – trotz aller Grausamkeiten. Eine Textstelle aus dem Tagebuch einer zur Vernichtung bestimmten Jüdin bringt diese Ambivalenz zum Ausdruck: »Mein Herz ist ganz grau und Tausend Jahre alt. Wir hausen in Baracken wie Ratten im Abwasserkanal« lautet der schaurige Befund. Und der Text setzt sich fort: »Das Leben ist etwas Herrliches und Großes. Wir leiden, aber wir dürfen nicht daran zugrunde gehen. Ich möchte ein Wörtchen mitreden, wenn nach dem Krieg etwas Neues aufzubauen ist«.

Der Hermannsteiner Pfarrer Wolfgang Grieb nutzt das ehemalige »Judenhaus« in der Jahnstraße, damals ein umgebautes Ziegelei-Wirtschaftsgebäude, mit Konfirmandengruppen als Ort der Erinnerung und lädt dazu die Wetzlarer Holocaust-Überlebende Gisela Jäckel als Zeitzeugin ein. Für ihn ist »Erinnerung das Geheimnis der Erlösung«. Ohne Erinnerung gebe es keine Zukunft. Er versteht die neu installierten Tafeln als »echte Hingucker« und sieht in der QR-Code Technik eine große Chance, sich über erste Eindrücke hinausgehendes profundes Wissen anzueignen. Wenn heute Erinnerungstafeln an einem Kirchengebäude angebracht werden, sieht Pfarrer Grieb darin auch das Eingeständnis, »dass wir als Kirche damals versagt haben«. Leid und Freude gehörten im Leben von Menschen zusammen, das bringe in besonderer Weise die jüdische Klezmer-Musik mit ihren traurig-melancholischen und freudig-enthusiastischen Sentenzen zum Ausdruck. Er schloss mit dem Appell, »Zeichen des Lebens« zu setzen: »Das Leben darf siegen!«

Im letzten Teil der Gedenkveranstaltung gab Ursula Fokken Einblicke in Schicksale jüdischer Menschen aus Wetzlar. Sie griff dabei auf Veröffentlichungen und Bildmaterial von Karsten Porezag, des Ehepaars Doris und Walter Ebertz und der Historikerin Susanne Meinl zurück. Insgesamt gab es 105 Menschen jüdischen Glaubens aus Wetzlar, die durch den NS-Terror ihr Leben verloren. Von den aus der Jahnstraße Deportierten überlebten nur zwei den Holocaust. Die meisten starben in den Lagern Theresienstadt, Majdanek und Auschwitz. Die Order zur »Bereithaltung zum Abtransport« traf im Juni 1942 auch die als »Katzenmutter« bei ihren Nachbarn beliebte Jenny Hamburger. Die vom Staat geraubten Privatvermögen mussten „bis auf die letzte Unterhose und den letzten Kaffee-Löffel« aufgelistet werden und wurden anschließend im »Braustübl« – einer Gaststätte am unteren Eselsberg – meistbietend an »arische« Interessenten versteigert. Großformatige Portraitbilder ließen Einzelschicksale skizzenhaft deutlich werden. Das stille Gedenken wurde musikalisch von Ursula Fokken und Wolfgang Grünhagen mit Klezmer-Musik umrahmt.

Wir danken Doris Ebertz für die Gestattung, die Bilder der betroffenen Personen aus dem Buch »Jüdische Familien in Wetzler« nutzen zu dürfen.

Ursula Fokken danken wir für die Gestaltung des Beitrags während der Gedenkstunde anlässlich der Tafelenthüllung am 21. Mai 2022.

Bilder: Manfred Schiebel und Ernst Richter © Wetzlar erinnert e.V.

Begrüßung und Einführung durch Ernst Richter
Vorsitzender von WETZLAR ERINNERT e.V.

  • Sehr geehrte Herr Stadtrat,
  • sehr geehrte Herrn Landtagsabgeordnete,
  • meine Damen und Herrn Stadtverordnete und Magistragsmitglieder,
  • werte Tafelstifterinnen und Tafelstifter,
  • liebe Mitbürgerinnen und -bürger,
  • liebe Freundinnen und Freunde von WETZLAR ERINNERT

Acht von insg. 24 geplanten Gedenktafeln zu Ereignissen der NS-Zeit wurden seit 2018 bis 2021 aufgestellt.

Die Tafeln sollen auf öffentlichem bzw. öffentlich begehbarem Gelände in der Stadt Wetzlar an Ereignisse aus der Zeit des deutschen Faschismus erinnern. Für jede dieser Tafel haben wir uns bemüht, einen Kreis von Tafelstiftern zu gewinnen, die mit dem jeweiligen Ereignis bzw. Ereignisort damals bzw. heute eine Berührung haben.

Kurz vor Weihnachten kamen zwei weitere Schilderpaare hinzu – hier in Niedergirmes.

Eine zeitnahe Enthüllung am Jahreswechsel haben wir aufgrund der damaligen Pandemielage vermieden. Diese Enthüllungen sollen nun heute nachgeholt und der jeweiligen Opfer von damit verbundenen NS-Verbrechen in einer Gedenkstunde gedacht werden.

Zum einen handelt es sich um das Gräberfeld für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter (im NS-Jargon »Fremdarbeiter« genannt) Auf einem abgetrennten Gräberfeld. Hier auf dem Friedhof Niedergirmes wurden zwischen 1942 und 1946 ums Leben gekommene Zwangsarbeiter*innen anonym und unwürdig verscharrt. Diese Doppeltafeln werden wir sogleich enthüllen.

Bei dem anderen Gedenktafelpaar handelt es sich um die letzten Jüdinnen und Juden, die noch in der Stadt Wetzlar lebten und ab dem Februar 1942 in einer Baracke in der Jahnstraße zusammengepfercht wurden, bevor sie über die Frankfurter Großmarkthalle in die Massenvernichtungslager im Osten verschleppt wurden.

Beide Ereignisse fanden im Jahre 1942 – also genau vor 80 Jahren – statt. Und sie fanden in unmittelbarer örtlicher Nähe zueinander statt.

Schätzungsweise 26 Millionen Menschen wurden aus den besetzten Teilen Europas zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Bei den monatlichen Zählungen im Altkreis Wetzlar wurden Ende 1942 knapp 10.000 registriert.

Wie es diesen Menschen erging, werden uns später Schülerinnen und Schüler der August-Bebel-Gesamtschule anhand einiger Beispielen erzählen.

Hier in WZ waren vor allem Zivilisten aus den von Nazideutschland besetzten Ländern zum Einsatz gekommen, um die Rüstungsmaschinerie in den stahlerzeugenden und eisenverarbeitenden Werken, sowie der feinoptischen Industrie aufrecht erhalten zu können.

Verliehen von der SS, die zum ersten und gleichzeitig mit Abstand größten Leiharbeitsunternehmen in Deutschland wurde. Profiteure waren der NS-Staat und die Rüstungsbetriebe zugleich.

Deshalb wollten wir auch die IHK Lahn-Dill – Nachfolgerin der damaligen IHK Wetzlar – als Tafelstifterin gewinnen. IHK-Präsident Flammer und Hauptgeschäftsführer Loewe haben ein halbes Jahr gebraucht, um dies schließlich dankend abzulehnen mit dem Verweis, in einer Festschrift zum 150. Jubiläum der Wirtschaftskammern an Lahn und Dill das Thema NS-Zwangsarbeit ausreichend erwähnt zu haben.

Um dies klarzustellen: Niemand von uns sollte heute Anderen eine Schuld an dem geben, was damals geschah. Es geht heute vielmehr um die Frage, wie wir gemeinsam sicherstellen, dass sich derartiges nicht mehr wiederholen kann.

Gerade unsere heimische Industrie weist zu Recht darauf hin, wie sehr sie vom Export in andere europäische Länder und in die ganze Welt lebt. Nicht nur, aber auch deshalb, sollten Nationalismus und völkisches Denken von uns gemeinsam bekämpft werden. Dazu sollen diese Schilder dienen.

Um so mehr freue ich mich, dass die heimischen Vertreter der beiden großen Kirchen und der hessische Landesverband des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge als Tafelstifter der Initiative beigetreten sind.

Ich begrüße unter uns recht herzlich und darf Ihnen vorstellen:

  • Viola Krause
    Landesgeschäftsführerin des Volksbundes in Hessen
  • Hartmut Sitzler
    Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises an Lahn und Dill
  • Peter Hofacker
    Katholischer Pfarrer in der Pfarrei Unsere Liebe Frau Wetzlar

Die zwei letztgenannten zeichnen auch verantwortlich für das zweite Tafelpaar, dass wir später an der St. Wallburgis-Kirche enthüllen werden. Dortiger Tafelstifter sind auch:

  • Pfarrer Wolfgang Grieb von der Ev. Kirchengemeinde in Hermannstein,
    der heute die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vertritt.

Last not Least:

Stadtrat Jörg Kratkey
Oberbürgermeister Manfred Wagner musste für heute absagen.
Lieber Jörg, unser Projekt hat etwas mit »Gedenkkultur« zu tun und Du bist der Kulturdezernent unserer Stadt. Ich finde: Du bist nicht nur der Ersatz für den OB, sondern hier genau der richtige Vertreter des Magistrats!