Warum unsere Familie die Gedenktafel für Jakob Sauer unterstützt:
Statement von Klaus Kirdorf
für die Familie Kirdorf

Meine Familie unterstützt die Aufstellung einer Gedenktafel für Jakob Sauer am Eingang zum Alten Friedhof. Nach unserer Meinung ist es auch heute noch wichtig, dass Nazi-Verbrechen sichtbar bleiben. Meine Frau hat die Folgen des Zweiten Weltkriegs als Flüchtlingskind erlebt und ich hautnah in meiner Geburtsstadt Wiesbaden den Bombenterror.

Schon als Kind fielen mir im Fotoalbum meines Vaters Bilder auf, die ihn bereits im Jahr 1934 bei besonderen Anlässen in Uniform zeigten. Als mein Vater schon nicht mehr lebte, habe ich irgendwann meine Mutter einmal nach den Aufnahmen gefragt und sie sagte mir: »Der Papa war doch 1933 arbeitslos und ihm wurde eine neue Arbeitsstelle nur unter der Bedingung zugesagt, wenn er entweder in die NSDAP oder in die SA eintritt.« – Seitdem war er also Mitglied in Hitlers paramilitärischer »Sturmabteilung«. Allerdings saß er nach Aussage meiner Mutter, die mit mir damals schwanger war, am Abend der Reichspogromnacht, also am 9. November 1938,  friedlich am Küchentisch und malte, während seine SA-Genossen in meiner Geburtsstadt Wiesbaden die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte zertrümmerten. Am Abend des nächsten Tages kam er von der Arbeit nach Hause und brachte in seiner Aktenmappe nach Aussage meiner Mutter diverse »Andenken« mit: Bleikristallschalen, Puderdöschen und Handspiegel. Er arbeitete nämlich in der vornehmen Wilhelmstraße in Wiesbaden bei einer Versicherungsgesellschaft direkt neben einem jüdischen Parfümerie- und Juweliergeschäft. Ob die Dinge vor dem zertrümmerten Schaufenster lagen oder ob sie mein Vater aus dem Schaufenster herausgenommen hat – ich habe es nie erfahren. Aus meiner Sicht hat er damals einen Diebstahl begangen. Er konnte froh sein, dass ihn die Nazi-Schergen damals nicht erwischt haben.

Am 20. Juni 2011 hatte ich an dem von der DGB-Jugend Mittelhessen initiierten  »Antifaschistischen Stadtrundgang – Gießen von 1933 bis 1945« mit Irmi Richter aus Wetzlar teilgenommen. Ich war so beeindruckt von dem Weg durch die Gießener Kernstadt, dass ich mir noch am selben Abend überlegt habe, wie ein solcher Stadtrundgang durch Wetzlar gestaltet werden könnte. Und schon im November 2011 hatte ich einen »Weg der Erinnerung von 1933 bis 1945« zu etwa 20 »Stationen« in Wetzlar konzipiert und im privaten Kreis zwei Stadtführungen durchgeführt. Schnell merkte ich aber im Zusammenhang mit dem »Weg der Erinnerung«, dass die besten Ideen nichts einbringen, wenn sich keine Unterstützer finden, die einem bei der Umsetzung der Ideen behilflich sind. Und diese Unterstützung fand ich damals in Ernst Richter. Er war Sprecher der Initiative »Bündnis gegen Nazis Wetzlar« und hatte bereits 2009 als Vorsitzender der DGB-Region Mittelhessen das Begleitheft zu dem »Antifaschistischen Stadtrundgang« in Gießen herausgegeben. Im September 2012 erschien dann durch die Zusammenarbeit eines Redaktionsteams, an dem auch ich beteiligt war, die erste Auflage der Broschüre »Weg der Erinnerung – Antifaschistischer Stadtführer für Wetzlar«. Für den Weg wurden spezielle »Guides« ausgebildet, die Schulklassen, Organisationen und Einzelgruppen auf dem Rundgang begleiteten. Seit seiner Gründung im August 2013 wird der »Weg der Erinnerung« vom Verein »Wetzlar erinnert e.V.« betreut.

Abschließend komme ich zu einem weiteren Projekt, das ich in Wetzlar angestoßen bzw. mitgetragen habe – zur Aufstellung von Gedenktafeln in Zusammenhang mit der Nazi-Zeit 1933 bis 1945 in Wetzlar.

Als am 18. Mai 2017 das schwedische Möbelhaus IKEA in der Hermannsteiner Straße 13 seine Wetzlarer Niederlassung eröffnete, war mir sofort bewusst, dass sich während des Zweiten Weltkriegs auf dem jetzigen Firmengelände Zwangsarbeiterbaracken der Buderus’schen Eisenwerke befanden, die nach dem Krieg dem Buderus-Zementwerk Platz machten. Außerdem lebte im damaligen Haus Hermannsteiner Straße 13 der Buderus-Arbeiter Erich Deibel, der – angeblich wegen versuchtem Hochverrat – vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt und am 15. August 1942 hingerichtet worden war. Mit Schreiben vom 2. September 2017 nahm ich Kontakt auf zu dem damaligen IKEA-Geschäftsleiter Detlef Boje und schlug ihm die Aufstellung einer Informations- und Gedenktafel für die Buderus-Zwangsarbeiter und für Erich Deibel im Eingangsbereich von IKEA vor. Umgehend kam seine Antwort: »Ich unterstütze Ihr Anliegen sehr gerne. Bitte stimmen Sie mit mir einen Termin ab, wo wir gemeinsam einen Standort festlegen.« – Somit wurde am 6. Dezember 2018 vom Verein »Wetzlar erinnert e.V.« im Eingangsbereich des IKEA-Möbelhauses je eine Tafel zum Andenken an das Zwangsarbeiterlager der Buderus’schen Eisenwerke und für Erich Deibel enthüllt.

Da meine Frau und ich seit nunmehr über 50 Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft zum Haus »Am Geilberg 4« wohnen und uns das Schicksal des früheren Besitzers Jakob Sauer seit langem bekannt ist, haben wir uns entschlossen, für ihn als Opfer der Nazi-Terrorherrschaft eine Gedenktafel beim alten Wetzlarer Friedhof zu stiften.

Wetzlar, den 16.12.2023

Klaus Kirdorf

Tafelstifter für die Gedenktafeln:

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