»Vergangenheit im Blick behalten«
Tafel zum Gedenken an die fast 10.000 Zwangsarbeiter enthüllt, die während der NS-Zeit im Altkreis Wetzlar lebten

»Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.« Mit diesem Satz des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker leitete Wetzlars OB Manfred Wagner (SPD) seine Ansprache zur Enthüllung der sechsten (am Verkehrskreisel Taubenstein) und siebten (in der Sparkassen-Passage zwischen Karl Kellner-Ring und Seibertstraße) von über 20 geplanten Erinnerungstafeln zur NS-Geschichte ein: »Während der heutige Name Karl-Kellner-Ring an Wetzlars traditionsreiche Zeit als Standort der optischen Industrie erinnert, wurde die ursprünglich ›Umgehungsstraße‹ genannte Verkehrsader während des Krieges in ›Jakob-Sprenger-Straße‹ umbenannt. Die Ehrung galt dem damaligen NSDAP-Gauleiter, einem besonders rabiaten Antisemiten und fanatischen Nazi.«

Den gesamten Bericht von Klaus Petri über die Veranstaltung können Sie dem nachfolgenden Akkordeon entnehmen. Ebenso eine Fotostrecke von der Veranstaltung.

Der Vereinsvorsitzende von WETZLAR ERINNERT, Ernst Richter, erinnerte daran, dass die in dem Barackenlager der Firma Pfeiffer untergebrachten 390 Menschen (Männer, Frauen und wenige Kinder) ständigem Hunger, der Kälte und willkürlichen Repressalien despotischer Aufseher ausgesetzt waren: »Die SS war das größte Leiharbeitsunternehmen in der deutschen Geschichte. Die aus Osteuropa verschleppten Menschen galten gemäß der NS-Rassendoktrin als ›der letzte Dreck‹. Küchenabfälle seien für deren Ernährung völlig ausreichend, hieß es in einem behördlichen Erlass. Wenn von den Arbeitssklaven welche erkrankten, blieben sie sich selbst überlassen oder wurden in der Euthanasieanstalt Hadamar getötet.«

Die Firma Pfeiffer Apparatebau produzierte im Gebäude Brühlsbachstraße 15, dem heutigen Hessenkolleg, u.a. Flugzeugmotoren und sogenannte Drehkreisel für die gegen England eingesetzten Raketen (»V-Waffen«). Richter zeigte den Anwesenden ein Exemplar der 1985 im (Ost-)Berliner Dietz-Verlag unter dem Titel »Und ihr werdet doch verlieren!« erschienenen Lebenserinnerungen des polnischen Antifaschisten Thomasz Kiryllow (1925–90), der wegen Sabotage am Arbeitsplatz über das Frankfurter »Arbeitserziehungslager« der SS in Heddernheim ins KZ Buchenwald verschleppt wurde: »Leider ist das Buch nur noch antiquarisch erhältlich. Wir haben aber Kontakt mit der Witwe und der Tochter aufgenommen und planen mit deren Einverständnis eine Neuauflage. Kiryllow berichtet sehr lebendig von seinen Wetzlarer Erfahrungen. Das Ganze ist ein Teil der hiesigen Industriegeschichte.

Die damals 9575 Ausländer im Altkreis Wetzlar – 5.500 davon waren in Barackenlagern untergebracht – machten ein Drittel der städtischen Zivilbevölkerung aus«, erläuterte der Vorsitzende von WETZLAR ERINNERT e.V. und bot den Auszubildenden der Sparkasse Wetzlar und anderen Gruppen zwei- bis dreistündige historische Stadtführungen auf dem »Weg der Erinnerung« an.

Daniel Sälzer sprach als weiterer Tafelstifter für die weltweit aufgestellte Aßlarer Firma Pfeiffer Vacuum ein Grußwort: »Es geht um die Erinnerung an zwangsweise entwurzelte Menschen, die rassistisch diskriminiert und denen unsägliches Leid zugemutet wurde. Heute gehören die weltweit 3.000 Pfeiffer-Beschäftigten unterschiedlichen Kulturen und Nationalitäten an. Sie begegnen sich auf Augenhöhe und haben miteinander einen Nutzen vom internationalen Austausch.«

Sparkassen-Chef Norbert Spory findet den Ort der Erinnerung in einer ruhigen Fußgängerpassage gut gewählt und berichtete von familiären Gesprächen über die damalige Zeit: »Meine 1931 geborene Mutter hat als Kind mitbekommen, dass der bei Buderus beschäftigte Vater mit Zwangsarbeitern aus Osteuropa zu tun hatte und es wurde von ukrainischen Mädchen und Frauen berichtet, die als Erntehelferinnen in der Landwirtschaft angefordert wurden.«

Für Spory gehört das Kapitel Zwangsarbeit in der Nazi-Zeit »genauso zur Stadtgeschichte wie das Reichskammergericht oder Goethes Wetzlar-Aufenthalt in 1772«. Heute gelte es, die mit der weltweiten Migration verbundenen Herausforderungen anzunehmen und humane Lösungen für die damit verbundenen Probleme zu finden.