Die öffentliche Führung 2019 fand am Sonntag, den 12. Mai, statt. An der Führung nahmen 12 Personen teil.

Bericht über die historische Stadtführung
zum »Weg der Erinnerung« am 12.05.2019

»Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Von Klaus Petri
Was vor 70 Jahren als Artikel 1 des Grundgesetzes in Kraft gesetzt wurde, ist der bewusst hervorgehobene und prinzipielle Kontrapunkt zu 12 Jahren Nazi-Barbarei mit Entrechtung von Minderheiten und politischen Gegnern, Verschleppung, Zwangsarbeit, legalisiertem Raub, Krieg und Massenmord. Wie sich »große Geschichte« vor Ort, in der eigenen Stadt abgespielt hat, darüber informiert der Wetzlarer »Weg der Erinnerung«, eine vom Verein WETZLAR ERINNERT e.V. konzipierte und angebotene Stadtführung zu Wetzlars Stadtgeschichte zwischen 1933 und 1945.

Von dem Angebot machen Gruppen Gebrauch, einmal im Jahr wird eine öffentliche Führung für die Allgemeinheit angeboten. »Für uns ist das eine Gelegenheit auf den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus und den 1. September als Antikriegstag hinzuweisen«, erläutert Ernst Richter, Vorsitzender von WETZLAR ERINNERT.

Erste Station des dreistündigen Stadtgangs sind die ehemaligen Leitzbaracken, wo in den Räumen des Kulturzentrums FRANZIS ein mit Grafiken und historischem Bildmaterial illustrierter Vortrag über den Aufstieg der Nazis und deren völkisch-rassistisches Menschenbild den Auftakt bildet. In den Holzbaracken waren während des Krieges zunächst italienische »Fremdarbeiter«, später dann »Kriegshilfsdienst-Maiden« untergebracht.

Am lang gestreckten alten jüdischen Friedhof zwischen Schützenstraße und Steighausplatz informierte Irmi Richter, dass die teilweise 300 Jahre alten Grabsteine während des Krieges als Baumaterial für einen Splitterbunker gegen Luftangriffe verwendet wurden. Das gemäß der jüdischen Tradition strikt zu beachtende Gebot ewiger Totenruhe interessierte damals niemanden, waren doch alle lebenden Juden durch die offizielle Staatsdoktrin zum Freiwild erklärt worden.

Am Ort der ehemaligen Synagoge in der Pfannenstielgasse war zu erfahren, dass sich die Zahl von 132 Menschen jüdischen Glaubens im Jahr 1933 fünf Jahre später halbiert hatte. 1942 und 1943 wurden die letzten 34 Wetzlarer Juden in Vernichtungslager deportiert. Der 1879 in Braunfels geborene Altwarenhändler Salomon Moses wurde nach der Reichspogromnacht ins KZ Buchenwald verschleppt und starb dort am 26. Dezember an Entkräftung und den erlittenen Misshandlungen.

In der Lahnstraße 28 betrieb Meta Keßler eine Pferdemetzgerei. Sie hoffte, durch den Verkauf des Hauses die Mittel für eine Auswanderung in die USA zu erzielen, wurde aber am 10. Juni 1942 mit ihrem Sohn Karl deportiert. In ein Vernichtungslager verschleppt wurden auch der Altwarenhändler Josef Lyon und seine Frau Berta. Ihre Habe versteigerte das Finanzamt im Saal einer Gaststätte am Eselsberg.

Überlebende Enkel der Lyons erhielten nach dem Krieg dafür als Entschädigung vom deutschen Staat 210,75 DM. Ein Opfer der »Arisierung« jüdischer Geschäfte wurde H. Rosenthal, der ein Kaufhaus am Eisenmarkt betrieb, das er am 1. Juni 1933 aufgab. Der Totalausverkauf erfolgte unter Aufsicht der NSDAP.

Theodor David Gold hatte in der Weißadlergasse ein gut gehendes Textilgeschäft geführt. Auch er wurde 1935 zum Verkauf genötigt. Er verzieht zunächst nach Frankfurt, 1940 gelingt ihm die Flucht in die USA. Früher noch als jüdische Menschen wurden die politischen Gegner der Nazis maltraitiert und aus dem öffentlichen Leben verbannt.

Im »Polizeigewahrsam Jäcksburg« (einem frühen wilden KZ in einem ehemaligen Fabrikgelände oberhalb des Domes) wurden ab Juni 1933 Dutzende Kommunisten und Sozialdemokraten ohne Gerichtsverfahren in »Schutzhaft« genommen.

»Ich finde es wichtig, dass wir uns auch für die Schattenseiten unserer Geschichte interessieren und daraus für die Zukunft lernen«, begründete die 22-jährige Wetzlarer Lehramtsstudentin Julie ihr Interesse an der antifaschistischen Stadtführung. Auch dem 41-jährigen Sozialarbeiter und Familienvater Ingmar Feth und dem aus Sachsen stammenden Benjamin Schramm (21) ist an der Herstellung eines »kollektiven Gedächtnisses« gelegen: »Man kann dann Schulwissen und Erzählungen der Großeltern besser einordnen, wenn man sich konkret vor Ort auf Spurensuche begibt«.

Aus dem Vortrag von Ernst Richter hat Schramm die Erkenntnis gewonnen, dass das Firmenschild der Nazis »…sozialistische Arbeiterpartei« ein Trickbetrug war: »Was die gemacht haben, war Ausbeutung pur. Das hat mit Sozialismus nichts zu tun. Das war mir vorher so nicht klar«.