Verschleppung in das KZ-Buchenwald
Verlegung von »Stolpersteinen« in Wetzlar
Pfannenstielsgasse 13

»Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.« Dieser Satz stammt von dem Kölner Künstler Gunter Demnig, der seit dem Jahr 2000 »Stolpersteine« vor den Häusern von Nazi-Opfern verlegt. Mehr als 40.000 Steine in über 750 Städten und Gemeinden und über 15 weiteren europäischen Ländern erinnern seitdem an die deportierten und ermordeten Menschen. Dennoch bleiben die »Stolpersteine« umstritten. In München z.B. wurde das Projekt nicht genehmigt, »weil die Namen der Opfer mit Füßen getreten werden«. Bereits verlegte »Stolpersteine« wurden dort auf Anweisung von Oberbürgermeister Christian Ude wieder entfernt.

Auch in Wetzlar war die Verlegung lange umstritten. Der Denkmalbeirat hatte sich von Anfang an gegen das Projekt ausgesprochen, und erst nach mehr als zweijährigen Auseinandersetzungen innerhalb der Wetzlarer Stadtverordnetenversammlung wurden am 22. Oktober 2009 für sechs von 54 Wetzlarer Juden, die von den Nazis deportiert und ermordet worden waren, »Stolpersteine« – mit Genehmigung ihrer Nachkommen – verlegt.

Der jüdische Altwarenhändler Salomon (Salli)
Moses kam 1879 in Braunfels zur Welt und wohnte mit seiner nichtjüdischen Frau Katharina seit 1922 hier in der Pfannenstielsgasse 13. Nach Diktion der Nationalsozialisten lebten sie in einer »privilegierten Mischehe«. Ihre sieben Kinder wurden – wie ihre Mutter – evangelisch getauft.

Am 10. November 1938, direkt nach der Reichspogromnacht, wurde Moses »in Schutzhaft« genommen und in das Amtsgerichtsgefängnis in der Wertherstraße eingeliefert. Einen Tag später wurde er mit 17 weiteren jüdischen Männern aus dem Kreis Wetzlar in ein Sammellager in der Frankfurter Festhalle und noch am selben Tag weiter in das KZ Buchenwald deportiert. Salomon Moses überlebte die Strapazen (Schlafentzug, Hunger und Durst, stundenlanges Strammstehen in der Winterkälte) nicht. Am 26. Dezember 1938 starb er an Entkräftung und den erlittenen Misshandlungen – als eines der ersten jüdischen Mordopfer aus der Stadt Wetzlar.


Einzelheiten zum Schicksal von Solomon Moses im Jahre 1938

Salomon Moses (am 5. August 1879 in Braunfels geboren) wohnte mit seiner Familie in der Pfannenstielsgasse 13. Seit dem 4. Dezember 1902 war er mit der »nichtjüdischen« Dienstmagd Katharina Moses, geb. Simon verheiratet. Das Ehepaar hatte sieben Kinder:

  • Paula (geb. am 26. Februar 1902 in Gießen)
  • Ella (geb. am 24. August 1903 in Gießen)
  • Elsa (geb. am 28. Dezember 1905 in Gießen)
  • Emmy (geb. am 15. Februar 1909 in Gießen)
  • Paul (geb. am 8. Juli 1914 in Wetzlar)
  • Otto Friedrich (geb. am 13. April 1915 in Wetzlar)
  • Hans (geb. am 12. November 1917 in Wetzlar)

Er hatte bei Lehr (ein Herrenkonfektionsgeschäft am Eisenmarkt, links neben dem Haus, in dem sich heute das Bistro der Lebenshilfe befindet) in der Altstadt Verkäufer gelernt. Seit dem 1. Weltkrieg war Salomon Moses durch ein Lungendurchschuss und Schussverletzungen in der Hüfte entsprechend behindert, war also ein Kriegsversehrter1).

Nach dem 1. Weltkrieg hatte er mit einem Pferdegespann mit Schrott und Porzellan gehandelt. Später brachte er einen älteren LKW zum Einsatz.

Solomon Moses Konfession war evangelisch.

Aber nach dem NS-Rassengesetz von 1935 galt er als Jude. Ein Freund seiner Tochter Ella und deren Mann Fritz Dreckmann, der Polizist Strelow, der – wie die beiden – in einem Haus in der Friedenstraße wohnte, hat den an Lungenentzündung erkrankten Moses am Tag nach den Reichspogromen2) am 10. November 1938 mit vorgehaltener Pistole aus dem Krankenbett geholt und festgenommen.

Wie bekannt ist, wurde Salomon Moses mit allen anderen in Wetzlar wohnenden »jüdischen« Männern zwischen 16 und 60 Jahren in »Schutzhaft« genommen und tags darauf nach Frankfurt am Main in ein Sammellager (die Festhalle Frankfurt) verbracht, von wo aus er noch am selben Tag in das Konzentrationslager Buchenwald (Häftlingsnummer 30.446) deportiert wurde.

Mindestens 30.000 Menschen wurden reichsweit nach den Novemberpogromen interniert. Hunderte starben an den Folgen der mörderischen Haftbedingungen oder wurden hingerichtet. Sie kamen in Sammelstellen (wie Moses in Frankfurt) und wurden von dort in die KZs Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt.

Salomon Moses ist am 26. Dezember 1938 im KZ Buchenwald verstorben, wahrscheinlich nach stundenlangem Stehen auf dem KZ-Appellplatz in Eiseskälte. Ärztliche Hilfe war dem an Lungenentzündung erkrankten 59-Jähren – wie allen KZ-Häftlingen – verwehrt. Salomon Moses gilt als der erste aus Wetzlar stammende Jude, der von den Nazis ermordet wurde.

Dass man im Zusammenhang mit Salomon Moses Tod von Mord sprechen kann, zeigt der fürchterliche Zeitzeugenbericht eines der betroffenen, aber namentlich nicht benannten, KZ-Häftlinge, die 1938 in das KZ-Buchenwald eingeliefert wurden.

»Nach Buchenwald kamen 10.000, darunter waren 3.000 Juden, die in der Frankfurter Festhalle zusammengetrieben wurden. Der Transport erfolgte teils durch LKW, teils mit der Bahn. Schon auf dem Weg vom Bahnhof Weimar nach Buchenwald stand die SS mit Knüppeln und Ochsenziemern bewaffnet Spalier und schlug auf die Juden ein. Die von blutigem Gepäck und Kleidungsstücken bedeckte Straße glich einem Schlachtfeld. Zurückbleibende wurden erschossen. Die Überlebenden mussten die blutüberströmten Toten und Verwundeten mit ins Lager schleppen. Am Tor des KZ stauten sich die Massen.

Immer je 1.000 kamen zugleich an. Die SS ließ das große Gittertor (auf dem den Häftlingen zugewandt der Spruch stand »JEDEM DAS SEINE«) geschlossen. Die Ankommenden mussten durch das kleine Tor, dort standen die SS-Blockführer wieder Spalier und schlugen erneut auf die Juden ein. Nicht einer kam ohne Verletzung davon.

Was sich damals im Lager zutrug, kann man in wenigen Worten nicht schildern. Wie furchtbar das war, kann man daraus ersehen, dass gleich in der ersten Nacht 68 Juden wahnsinnig wurden und dann von SS-Oberscharführer Sommer, der zuständig für den Bunker (Arrestzellen) war, wie tolle Hunde totgeschlagen wurden.

In den berüchtigt gewordenen Baracken Ia bis Va lagen je 2.000 Juden, während der Raum dieser primitiven Notbaracken für 400 Personen berechnet war. Es gab weder Fenster noch Türen. Nur in der Mitte war ein nach jeder Seite offener Durchgang. In Abständen von 60 bis 70 cm wurden fünf Etagen errichtet. Nur kriechend konnte ein Mensch auf diese Lagerstätten gelangen. Es gab keine Waschgelegenheiten, keine Heizung. Die sanitären Verhältnisse waren unvorstellbar. Die ersten zwei Tage gab es nichts zu essen und zu trinken; auch kein Wasser.[ … ]

Die SS nutzte die Aktion nicht nur zur Befriedigung ihrer Mordlust, sondern auch zur persönlichen Bereicherung, an der von der SS-Führung bis zum kleinsten SS-Mann alle beteiligt waren. Durch Lautsprecher wurde verkündet, ›Alle Millionäre und vermögende Juden ans Tor‹, es wurden ihnen Unterschriften für größere Geldspenden – bis zu mehreren hunderttausend Mark – abverlangt. Diejenigen, die ihre Autos, Häuser usw. der SS-Lagerleitung zur Verfügung stellten, wurden bevorzugt entlassen. Sie durften plötzlich schreiben, um sich Geld von zu Hause schicken zu lassen, was die SS dann kassierte.«

Der Zeitzeugenbericht erschien in dem Buch von Emil Carlebach, Willy Schmidt und Ulrich Schneider, »Buchenwald – Ein Konzentrationslager«, erschienen in Bonn 2000. Auf S. 44/45 steht:

  • Die Erinnerungen von Paula Unger, geb. Drecksmann, über ihren Großvater Salomon Moses;
  • Wikipedia-Eintrag zu den Novemberpogromen 1938
  • »Die Glocke vom Ettersberg«, Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora (Gegründet 1958 von Otto Roth, Rudi Gottschalk, Ludwig Wolf, Nr. 252, 64. Jahrgang, IV/2023. Entnommen von Emil Carlebach/Willy Schmidt/Ulrich Schneider, Buchenwald, Ein Konzentrationslager, Bonn 2000, S. 44/45

04 WdE-Station Salomon Moses

Bild eines unbekannten Passanten, aufgenommen auf dem Vorplatz des Bahnhofs. Unter den Männern war Salomon Moses © Wetzlar erinnert.