Völkisches Denken im Volksbildungsheim
Widerstreit zwischen Gleichheitsgrundsätzen und Ungleichheitsideologien
Kirchgasse 2

Der völkisch beseelte Vorsitzende
Am 7. Oktober 1919 fand der erste Volkshochschulabend der damaligen Wetzlarer »Volksbildungsstätte« statt, bei dem der erste Vorsitzende, der Niedergirmeser Pfarrer Jakob Peter Heep (1876–1945), über das Thema »Industriearbeiter« referierte. Heep war von 1929 bis 1936 Superintendent der evangelischen Synode Braunfels und von 1933 bis 1936 leidenschaftlicher Anhänger der »Deutschen Christen«; diese waren eine 1932 gegründete eigene Kirchenpartei mit rassistischen und antisemitischen Zielen. So versuchten sie u.a., den »Arierparagraphen« der Nazis in die Kirchenverfassung aufzunehmen und somit Christen jüdischer Herkunft auszuschließen.

Die aufgeklärte Geschäftsführerin
Meline Müller, 1879 in Wetzlar geboren, wurde 1921 Geschäftsführerin der Volksbildungsstätte im »Volkshaus«, Kirchgasse 2. Ihre Mutter war die Tochter von Richard Buderus, einem der Mitbesitzer der »Main-Weser-Hütte« in Lollar, ihr Vater war Direktor bei den Buderus’schen Eisenwerken in Wetzlar. Meline Müllers besonderes Bestreben war es, gesellschaftspolitische Themen für Arbeiterinnen und Arbeiter anzubieten.

Am 7. Dezember 1934 musste die Volksbildungsstätte das »Volkshaus« für die Lotteschule räumen und in das Gebäude Jäcksburg 1 umziehen.

Vererbungslehre und Rassenhygiene
Bereits 1932 waren erstmals im Kursangebot der Wetzlarer Volksbildungsstätte rassistische Themen wie »Vererbungslehre und Rassenhygiene« aufgetaucht. Im Programm des Jahres 1933 wurde dann u.a. die »Nationalsozialistische Gemeinschaft – Kraft durch Freude« vorgestellt, deren Aufgabe es war, die Freizeit der Bevölkerung zu gestalten und zu überwachen. Es gab aber auch weiterhin Kurse wie »Englisch für Anfänger« von der späteren Schulrätin Lore Reitz oder »Mit der Kamera durch den Kreis Wetzlar«. Während des Vortrags des Psychotherapeuten Dr. Johannes Neumann kam es nach dem Bericht von Meline Müller zu einem Zwischenfall: Auf dem Flur vor dem Hörsaal protestierten einige Jugendliche gegen die Teilnahme von drei Jüdinnen an der Veranstaltung. Daraufhin erklärten die drei Frauen, dass sie auf den Besuch weiterer Veranstaltungen verzichten würden, um die Arbeit der Volksbildungsstätte nicht zu gefährden.

Berufsverbot für Meline Müller
Anfang April 1936 führte ein mutiger Nachruf Meline Müllers auf den Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführer Karl Hildebrand (bis 1933 Nachfolger von Pfarrer Heep) zu ihrer sofortigen Entlassung. Danach kam die Volksbildungsarbeit bis zum Kriegsende weitgehend zum Erliegen. Gleich nach dem Krieg beteiligte sich Meline Müller maßgeblich am Wiederaufbau der VHS Wetzlar und blieb bis ins hohe Alter ihre Geschäftsführerin. Sie starb am 30. Mai 1975. Heute trägt eine Straße im Gewerbegebiet »Eiserne Hand« ihren Namen.

Weitere Informationen
Bernd Lindenthal (vom Wetzlarer Geschichtsverein) hat über Pastor Jakob Peter Heep einen zweiteiligen Beitrag in der heimatgeschichtlichen Rubrik »DAMALS« der WNZ am 29.07. und 05.08.2017 mit dem Titel »Ein Gotteskrieger in zwei Weltkriegen« geschrieben. Die beiden Zeitungsseiten sind nachfolgend als PDF-Dokumente einsehbar / abrufbar.