Warum ich die Gedenktafeln zu den Ereignissen der NS-Zeit in Wetzlar unterstütze und ein persönliches Interesse an diesen beiden Tafeln habe
Es ist noch lange nicht vorbei.
Wenngleich die Täter, Kommandeure oder deren willfährige Lakaien nicht mehr am Leben sind; wenngleich deren Opfer, die Unsagbares erdulden mussten, immer weniger werden und bald keinen Bericht mehr ablegen werden können; so bleiben doch Zeugnisse der Unmenschlichkeit für uns Gegenwärtige greif- und begreifbar. Es sind die Orte wie die Zwangsarbeiterlager der Firma Moritz Hensoldt und Söhne in Wetzlar, wo diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden.
Solche Orte – in unserer Stadt – alltäglich sicht- und wahrnehmbar, zeigen uns deutlich, wie unglaubwürdig die heuchlerischen Aussagen eines »nichts davon gewusst habens« sind. Diese Orte waren alltäglich für jedermann sichtbar und somit selbstverständlich wahrnehmbar. Mag das Bemühen um kollektives Verdrängen, insbesondere in den Nachkriegsjahren, die notwendigen Auseinandersetzungen mit dem geschichtlichen Erbe und der damit einhergehenden Schuld erschwert haben, so hilft doch das Benennen und Bewusstmachen des Geschehenen, das kollektive Unrecht einzugestehen.
Wenngleich wohl nahezu keiner der heute Lebenden diese Taten persönlich begangen hat, tragen wir doch alle die Verantwortung dafür, solche Verbrechen zukünftig zu verhindern. Die Verpflichtung zur aktiven Gegenwehr gegen extremistisches, faschistisches, menschenverachtendes Denken und Handeln fordert ein solcher Ort des Gedenkens von uns heutigen ein. Es ist noch lange nicht vorbei. Es darf keine Selbstzufriedenheit über Erreichtes geben, solange die Folgen von Unterwerfung, Verfolgung und Vernichtung der Zwangsarbeiter bis in die Gegenwart wirksam geblieben sind: Für die Opfer, die alles verloren haben, sowie die Täter, die zum Teil noch bis heute von materiellen Vorteilen Ihrer Verbrechen profitieren.
Überlebende Zwangsarbeiter mussten mangels Entschädigung mitunter ein Leben am Existenzminimum führen, während Nazi-Schergen und deren Angehörige auskömmliche Pensionen einsteckten. Die westdeutsche Gesellschaft ignorierte nach 1945 in weiten Teilen die individuelle Schuld des Einzelnen an den Verbrechen des Nazi-Regimes und unternahm durch großzügige Entnazifizierungsverfahren den Versuch, ein ganzes Volk straffrei zu halten.
Erst Jahrzehnte später begann der Versuch einer zögerlichen Aufarbeitung.
Es ist noch lange nicht vorbei.
In der Gegenwart scheint deutsches Leben geprägt von der Bereitschaft, sich mit der eigenen Gewaltgeschichte auseinanderzusetzen. Deshalb noch ein paar Gedanken zum Begriff der »Erinnerungskultur«. Während »Erinnerung« auf das Vergangene verweist, steht »Kultur« zu oft für inhaltsleere Ritualisierung. Eine funktionierende Erinnerungskultur hat jederzeit Formen von Abwertung, Diskriminierung und Verfolgung zu thematisieren.
Erinnerungskultur beinhaltet neben der Bewusstmachung vergangener Verbrechen die aktive Verhinderung der Wiederholung neuer Verbrechen. Die aktuell wahrzunehmende Verharmlosung völkischen Denkens ist keinesfalls hinnehmbar.
Erinnerungskultur ist nicht Akzeptanz des Gewesenen oder Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit, sondern aktives Eintreten für Demokratie und Menschenrechte.
Es ist noch lange nicht vorbei.
Dr. med. Ullrich Waldschmidt
Ein Nachkomme von Moritz Hensoldt
und praktizierender Arzt