Gedenkstunde am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus
Bürger zu einem deutlichen »Nie wieder!« aufgefordert

Es versammelten sich Vertreter*innen der Wetzlarer Stadtgesellschaft  am 1987 errichteten Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus für die Opfer des Nationalsozialismus im Rosengärtchen zum Holocaust-Gedenktag. Stadtverordnetenvorsteher Udo Volck begrüßte die rund 50 teilnehmenden Personen mit den Worten: »Antisemitismus und Rassismus entgegenzutreten, ist unsere tägliche Aufgabe«. Matthias Siegel von der Musikschule Wetzlar sorgte mit der Trompete für eine musikalische Umrahmung der Veranstaltung.

In den Aufklappmenüs können Sie die Ansprachen von OB Manfred Wagner sowie von der wissenschaftlichen Dokumentarin der Gedenkstätte Hadamar, Dr. Esther Abel, nachlesen, bzw. über die Videoaufzeichnungen von hessencam anschauen:

Ansprache von Oberbürgermeister Manfred Wagner zum Holocaust-Gedenktag 2022

Es gilt das gesprochene Wort

Anrede,
ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie der Einladung der Stadt Wetzlar zu dieser Stunde des Innehaltens anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus gefolgt sind. Einmal mehr haben wir uns an dem Mahnmal im Rosengärtchen versammelt, dass an die Gräueltaten der Nazi-Diktatur und an ihre Opfer erinnert.

Ein Ort des Gedenkens, ein Mahnmal, das leider immer noch allzu vielen Menschen nicht wirklich bewusst ist. Und dennoch ist dieses sehr schlichte, aus einer »abgebrochenen Marmorsäule« bestehende Denkmal in meinen Augen ein sehr wichtiger Platz für das Bewusstsein unserer Stadt.

1987 wurde dieses Mahnmal auf Initiative des damaligen Stadtbildpflegers Walter Ebertz errichtet. Es sollte in erster Linie an die Wetzlarer Opfer des Faschismus, insbesondere aber auch an Jakob Sauer erinnern. Jakob Sauer wurde in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 auf Anordnung des damaligen Kreisleiters der NSDAP, Wilhelm Haus, am Wetzlarer Friedhof in der Bergstraße erhängt.

Jakob Sauer wurde zum Verhängnis, dass er einen Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner in Wetzlar an seinem Haus ein Pappschild angebracht hatte, auf dem stand:

»Schütze mein Haus! Wir sind keine Nazis!
Wir begrüßen die Befreier!«

Aus Anlass des 70. Jahrstages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz – also im Jahr 2015 – haben wir seitens der Stadt erstmals eine Einladung ausgesprochen, um uns an diesem Platz zu versammeln und den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Auschwitz ist das Synonym für den Massenmord der Nazis an den europäischen Juden. Auschwitz ist der Ausdruck des Rassenwahns und das Kainsmal der deutschen Geschichte.

Und genau so, wie Auschwitz, sind es die Namen der anderen Vernichtungslager, oder der Landesheilanstalten, die wie Hadamar in eine Tötungsanstalt umgebaut wurden, die mit dem Schicksal der Opfer, aber auch mit der europäischen und insbesondere unserer deutschen Geschichte für immer verbunden sein werden.

Das wissen wir.

Und die ganz überwältigende Mehrheit unserer Gesellschaft trägt diese Bürde in Trauer, aber auch in ernster Verantwortung. Millionen von Kindern, Frauen und Männern wurden von Angehörigen der SS und ihren Helfershelfern durch Gas erstickt, oder ausgehungert und erschossen.

Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner, Angehörige von Kirchen und Glaubensgemeinschaften, Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer aus ganz Europa wurden mit kalter, industrieller Perfektion vernichtet, oder bis zum Tode versklavt.

Eine eigens gegründete Verwaltungszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 (»Aktion T4«) plante und organisierte die als »Euthanasie« bezeichneten Morde.

Einen tieferen Riss durch die Geschichte der europäischen Kultur und Zivilisation hatte es nie zuvor gegeben.

Es hat einige Zeit gedauert, bis dieser historische Riss nach Kriegsende in seinem ganzen Ausmaß offenbar wurde. Menschen, wie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer haben daran maßgeblichen Anteil.

Wir kennen diesen Riss, aber ich bezweifle, dass wir ihn jemals begreifen können. Vergangenheit lässt sich nicht, wie es oft heißt, »bewältigen«. Sie ist vergangen.

Doch ihre Spuren und vor allem ihre Lehren reichen in die Gegenwart und müssen uns und künftigen Generationen auch bewusst sein.

Für das Ausmaß des Grauens, der Qualen und des Leids, das in den Konzentrationslagern, aber auch in Tötungsanstalten, wie in Hadamar, geschah, wird es niemals einen Ausgleich geben können.

Der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, der sich heute zum 77. Mal jährt, wurde 1996. Auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum offiziellen deutschen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erhoben.

Und wenn wir heute zusammenkommen, dann sind wir uns auch bewusst, dass sich vor 80 Jahren, nämlich am 20. Januar 1942, fünfzehn hochrangige Vertreter verschiedener Reichsministerien, der SS und der NSDAP zu einer Besprechung trafen.

Bei diesem Treffen wurden die Deportation und Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden in den von den Deutschen besetzten Gebieten geplant und organisiert.

Diese Besprechung, die als »Wannseekonferenz« bezeichnet wird, verdeutlicht, dass zahlreiche NS-Ministerien, Behörden und deren Beamte daran mitwirkten, den Holocaust, die Verschleppung, Ausbeutung und Ermordung von sechs Millionen Menschen, in die Tat umzusetzen. Der millionenfache Mord an den europäischen Juden war zu diesem Zeitpunkt aber längst besiegelt. Die Vorbereitungen begannen bereits 1933, als die NS-Diktatur das »Gesetz zur Verhinderung des erbkranken Nachwuchses« erließ.

Brutale Eingriffe in die Würde kranker und behinderter Menschen waren die Folge. In den »Heil- und Pflegeanstalten«, deren eigentliche Bestimmung mit Füßen getreten wurde, erprobte das medizinische Personal die Tötung durch den Einsatz von Gas. Das war das Muster für den millionenfachen Massenmord, der nicht zuletzt im Rahmen der »Wannseekonferenz« mit bürokratischer Akribie und einem Höchstmaß an Menschenverachtung organisiert wurde.

Wir treffen uns am 9. November eines jeden Jahres am Ort der ehemaligen Synagoge, um an die schrecklichen Ereignisse der Reichspogromnacht und an die Verfolgung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger zu erinnern.

Wir erinnern mit einem Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof an unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die während der Nazi-Zeit aus unserer Stadt vertrieben wurden, die umgebracht wurden, die verschollen sind.

Wir erinnern mit Publikationen, mit »Stolpersteinen«, mit einem Weg der Erinnerung, oder mit Gedenktafeln zu Ereignissen der NS-Zeit an die dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte.

Wir machen deutlich, dass diese Geschichte auch ein Teil der Geschichte unserer Stadt ist und im Bewusstsein bleiben muss. Wir kommen am Vorabend des Volkstrauertages zusammen, um in Gedanken bei den Opfern von Krieg und Gewalt zu sein und um damit ein deutliches »Nie wieder« zum Ausdruck zu bringen. Wir diskutierten in unserer Stadt mitunter auch über richtige und zeitgemäße Formen des Erinnerns. Bei all dem waren und sind wir Demokraten uns aber in dem Ziel einig: die Erinnerung an die grausamen Kapitel unserer Geschichte muss unser Selbstverständnis als Nation auch in der Zukunft prägen.

Unser heutiger Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte am letzten Tag seiner Amtszeit als Außenminister:

»Das Erinnern hat kein Ende und darf es auch nicht haben.«

Den Nachfahren der Opfer und den Überlebenden eine gewisse Genugtuung zu verschaffen, ist möglich, indem wir der Opfer gedenken, indem wir ihr Schicksal als Mahnung begreifen.

Doch welche Lehren ziehen die Menschen, zieht unsere Gesellschaft aus diesen Ereignissen?
Diese Frage stellt sich gerade in diesen besonderen Zeiten, die wir gerade durchleben.

  • Zeiten – die von Schreckensnachrichten über Krieg, Terror, Verfolgung, Mord, Flucht und Vertreibung nahezu überschüttet werden – aktuell auch aus Burkina Faso, dem Land, in dem die Stadt Dori liegt, für die wir vor rund vier Jahrzehnten eine Patenschaft übernommen haben,
  • Zeiten – in denen Menschen Schutz und Zuflucht suchen, weil ihr Leben von Terror und Krieg bedroht ist und in denen wir mehr denn je verspüren, dass die oftmals glänzende Medaille der Globalisierung eine unschöne Kehrseite hat,
  • Zeiten – in denen wir ob des Ukraine-Konfliktes den Eindruck haben, dass nicht unweit von unserer Haustür entfernt bald wieder ein fürchterlicher Krieg entstehen kann,
  • Zeiten – in denen die Angehörigen der Opfer des rechtsextremistischen Anschlages von Hanau auch nahezu zwei Jahre danach noch immer die vollständige Aufklärung der Hintergründe der Tat von ihrem demokratischen Staat einfordern müssen,
  • Zeiten – in denen ein Präsident der Vereinigten Staaten einen demokratischen Machtwechsel zu verhindern versucht, in dem er ganz offensichtlich Feinde der Demokratie instrumentalisiert und billigt, dass sie das Kapitol stürmen,
  • Zeiten – in denen wir die »Nachahmer« auf den Stufen des Reichstages in Berlin sehen konnten,
  • Zeiten – in denen Menschen ob der Pandemie und der Kritik an den Coronaregelungen unter Inanspruchnahme ihrer selbstverständlich bestehenden Rechte, sich zu versammeln, ihre Meinung zu äußern, zu demonstrieren auf die Straße gehen und »Frieden, Freiheit, keine Diktatur« skandieren, ohne zu gewärtigen, dass sie in einer Diktatur nicht einen einzigen Schritt mit einem ihrer Pappschilder auf die Straße setzen würden.
  • Zeiten – in denen Menschen sich Judensterne an ihr Revers heften und »ungeimpft« darauf schreiben.
  • Menschen – die sich als angebliche Opfer auf eine Stufe mit den Menschen stellen, die zu Feinden gemacht wurden, nur weil sie waren, wer sie waren. Auf eine Stufe mit Menschen, denen die Menschlichkeit erst abgesprochen und dann genommen wurde.
  • Menschen – die in Viehwagons gepfercht und in Vernichtungslager gefahren wurden.
  • Zeiten – in denen einige, die sich als Geknechtete wie einstmals im Nationalsozialismus stilisieren, selbst zu den Methoden der Unfreiheit greifen, mit Fackeln vor die Häuser von Politikerinnen und Politiker ziehen und in Telegram-Gruppen vom Mord an Ministerpräsidenten schwadronieren, von Weltverschwörungen raunen, antisemitische Hassbotschaften und Karikaturen teilen und ganz offensichtlich von einem ganz anderen Land träumen.
  • Zeiten – in denen man billigend in Kauf nimmt, mit Menschen »spazieren zu gehen«, die Symbole der Reichsbürgerszene bei sich führen, oder die ein auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept verfolgen und die es sich zum Ziel gesetzt haben, die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten »Volksgemeinschaft« ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen zu wollen.

Für uns alle, ob geimpft, genesen oder ungeimpft sollten spätestens an diesem Punkt alle Linien überschritten sein;
Linien, die gespannt sind zwischen dem noch Akzeptablen und jenem, gegen das sich eine wehrhafte Demokratie unter allen Umständen wenden muss.

Es gibt andere Gründe, nicht geimpft zu sein. Ich muss sie nicht verstehen. Es gibt auch Ängste, die sich offensichtlich nicht mal eben wegdiskutieren lassen. Doch jene »Wohlmeinenden«, die sich in Kenntnis dessen, was die Entwicklung von Impfstoffen in der Geschichte der Menschheit an schlimmen Schicksalen, an verstorbenen Menschen, verhindert hat, gegen eine Impfung entscheiden und sich auf ihr individuelles Recht und ihre Freiheit berufen, müssen sich auch mit der Frage konfrontiert sehen, ob es nicht gerade darum geht, jedem Einzelnen dieses Recht auf Freiheit zu gewährleisten.

Eben weil wir in unserem Staat jedes Leben für so unbedingt wichtig und gleichwertig und schützenswert erachten, dass die Gesellschaft es nicht als Verfügungsmasse betrachten darf. Weil es eben nicht darum geht, ob jemand sowieso eine Vorerkrankung hatte, oder ob er schon alt ist, sondern nur darum, dass er oder sie noch weiterleben kann, wenn er oder sie Rücksicht erfährt.

Das ist ein riesiger zivilisatorischer Fortschritt.

Wir erinnern uns: Die Nationalsozialisten definierten »lebensunwertes Leben» und löschten es aus.

Anrede
In Zeiten wie diesen stellt sich die Frage nach der Verantwortung eines jeden einzelnen und nach der kollektiven Verantwortung immer wieder neu – aktuell wohl mehr denn je!

Und am Ende braucht auch keiner sagen, er habe es nicht gewusst.

Jeder kann wissen, jeder hätte wissen können.

Und gerade auch angesichts dieser aktuellen Beispiele ist es unsere Pflicht, dass wir am 27. Januar eines jeden Jahres diesen Ort aufsuchen, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.

Und auch abseits der Gedenktage ist es unsere Pflicht, dass wir uns immer wieder vor Augen führen, wie es dazu kommen konnte, dass unsere Nation, die durch ihre Dichter

und Denker geprägt wurde, den Wertekanon der zivilisierten Staaten über Bord warf und wie es uns gelingen kann, frühzeitig vermeintliche Parallelen und Fehlentwicklungen

zu erkennen.

Die beste Versicherung gegen Völkerhass, gegen Totalitarismus, gegen Faschismus und Nationalsozialismus ist und bleibt die lebendige Erinnerung an die Geschichte und die aktive Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit. Roman Herzog betonte bei der Proklamation des Gedenktages:

»Ich wünsche mir, dass der 27. Januar zu einem Gedenktag des deutschen Volkes, zu einem wirklichen Tag des Gedenkens, ja des Nachdenkens wird.

Nur so vermeiden wir, dass er Alibi-Wirkungen entfaltet, um die es am allerwenigsten gehen darf.«

Manches Erinnern erfordert Mut und Beharrlichkeit, manches Erinnern ist eine Pflicht, die uns der Wille zur Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber Schuld und Versagen auferlegt.

Doch es ist auch immer eine Frage der Haltung.

Und daher danke ich Ihnen für Ihre Teilnahme an dieser Gedenkstunde!

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Wagner
sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher Volck,
sehr geehrte Frau Scheurich
sehr geehrter Herr Siegel

Liebe Mitwirkende und liebe Anwesende.

Ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung bedanken und für die Gelegenheit, an der heutigen Gedenkveranstaltung ein Grußwort für die Gedenkstätte Hadamar zu sprechen.

Letzte Woche, am 20. Januar, jährte sich zum 80. Mal die »Wannsee-Konferenz«. Auf ihr wurde die Umsetzung zur Ermordung der europäischen Juden besprochen und in Gang gesetzt.

Sie spiegelt jene Barbarei wider, die neben 6 Millionen Juden viele weitere Gruppen von Menschen traf, derer wir heute gedenken: der Sinti und Roma, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Homosexuellen, der politisch Verfolgten, der als »asozial« Verfolgten, der Zeugen Jehovas, Zwangssterilisierten, NS-»Euthanasie«-Opfer, und auch derjenigen, die mutig Widerstand leisteten oder anderen Schutz und Hilfe gewährten und dafür selbst oft mit dem Leben bezahlen mussten.

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz durch Truppen der Roten Armee befreit. Seit dem Jahre 1996 wird der 27. Januar begangen als ein Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland. Erst 2017 widmete der Bundestag an diesem Datum seine alljährliche Gedenkstunde den Zwangssterilisierten und den Opfern der nationalsozialistischen Euthanasie.

Die Idee einer »Auslese der Schwachenq war 1933 nicht neu. Jahrzehnte zuvor haben bereits Rassenhygieniker und Eugeniker verschiedene Modelle zu einer sogenannten Ausmerzung angeblicher Krankheiten und erblicher Schwächen erarbeitet, Zwangssterilisierungen gab es auch in anderen europäischen Ländern und den USA. Jedoch kam in Deutschland nach 1933 eine Besonderheit der nationalsozialistischen Ideologie hinzu, nämlich die Idee der »Volksgemeinschaft«, die ideell höher als die »Rassegemeinschaft« angesiedelt war. Das bedeutet, »arisch« nach den Rassegesetzen zu sein, war zwar Voraussetzung um zur »Volksgemeinschaft« zu gehören, aber es genügte nicht. Eine weitere Voraussetzung war, nicht »erbkrank« zu sein, bzw. kein Verhalten aufzuweisen das als »Gemeinschaftsfremd« gewertet wurde. »Volksgemeinschaft« definierte sich also vor allem darüber, wer nicht zu ihr gehören sollte.

Dazu war der erste Schritt das 1934 eingeführte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Man merkt schon an dieser sperrigen Sprache, dass die Nationalsozialisten (genau wie später in der Wannsee-Konferenz) ein Höchstmaß an Bürokratie, Technokratie und Verwaltungsdenken an den Tag legten.

Ab 1939 gab es dann verschiedene Mordprogramme der nationalsozialistischen Euthanasie, des Patientenmordes. Zwei davon wurden in der damaligen Tötungsanstalt Hadamar verübt, 1941 die sogenannte Aktion T4, in der in Hadamar mehr als 10.000 Menschen binnen 8 Monaten durch Gas getötet wurden, 1942-45 die sogenannte Dezentrale Euthanasie, in der durch Medikamente und systematische Vernachlässigung getötet wurde. Hier starben in Hadamar noch etwa 4.400 Menschen.

1941 waren unter den Opfern 20 Männer und Frauen aus Wetzlar, 1942-45 waren 48 aus Wetzlar, darunter etliche Zwangsarbeitende, die von den entsprechenden Arbeitsämtern in die Tötungsanstalt geschickt wurden, wenn sie nicht mehr leistungsfähig waren oder Tuberkulose hatten.

Zwischen dem Patientenmord und dem Völkermord an Juden, Sinti und Roma in den Vernichtungslagern bestand ein enger Zusammenhang. Über 100 Ärzte, Pfleger und sonstige Beteiligte an den Krankenmorden durch Gas (also der »Aktion T4«) in den Jahren 1940/41, setzten ihr Tun bruchlos in den Vernichtungslagern für KZ-Häftlinge fort.

Liebe Anwesende,
wir begehen den 27. Januar ja nicht nur als Gedenktag, sondern auch als einen Anlass der Positionierung und persönlichen Standortbestimmung. Mahnung und Gedenken brauchen Wissen, und sie brauchen Haltung. Wir brauchen die historische Einbettung des konkreten Geschehens, dessen gedacht wird.

Gerade dieser Tage erleben wir einen sehr bedenklichen Roll-Back, was die Enthemmung von Sprache angeht und auch den Verlust von Scheu, sich Verschwörungsmythen und Hasstiraden anzuschließen. [wir hörten heute mehrfach davon].

Im Zuge der Diskussionen um Corona-Einschränkungen kommt es vermehrt zu unerträglichen Vergleichen der gegenwärtigen Situation mit der nationalsozialistischen Diktatur. Diese gewählten Vergleiche stellen nicht nur die Gefährlichkeit der Pandemie in Abrede, sondern sie setzen die gegenwärtigen Debatten um Corona-Maßnahmen in einer Demokratie mit dem terroristischen System der NS-Diktatur gleich. Solche Vergleiche entbehren nicht nur jeder Grundlage, sondern sie spielen sehenden Auges eine rassistische, menschenverachtende Diktatur herunter. Die Selbstvictimisierung derer, die z. B. die Nazi-Zeit imitierende Judensterne mit der Aufschrift »ungeimpft« tragen, stellt eine Verharmlosung des NS-Terrors dar, der nicht hinnehmbar ist.

Verschwörungsmythen dienten jahrhundertelang als Grundlage für Antisemitismus. Sie heute aufzuwärmen und sogar weiter zu entwickeln ist ein Angriff auf unsere kritische und reflexive Erinnerungskultur und das muss in aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden – nicht nur aus den Gedenkstätten, sondern auch aus der demokratischen Zivilgesellschaft. Das ist heute in der personellen Zusammensetzung der Akteurinnen geschehen, danke dafür.

Ich möchte schließen mit einem Satz von Margot Friedländer, einer inzwischen 100-jährigen Shoah-Überlebenden:

»Nachdem ich 64 Jahre in Amerika gelebt habe bin ich zurück nach Deutschland gekommen um euch die Hand zu reichen aber euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen sein werdet, die wir nicht mehr lange sein können.«

Begrüßung durch den Stadtverordnetenvorsteher Udo Volck (SPD) am Internationalen Tag des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus.

© hessencam

Das Erinnern hat kein Ende

Rede von Oberbürgermeister Manfred Wagner (SPD) zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

© hessencam

Verharmlosung der NS-Diktatur ist nicht hinnehmbar

Rede von Dr. Esther Abel von der Gedenkstätte Hadamar zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

@ hessencam