Der Sprecher*innenrat der Landesarbeitsgemeinschaft Hessischer Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen
Der verschobene Blick
Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung empfiehlt Fahrt zur Gedenkstätte Buchenwald
Gedenkstätten und Erinnerungsorte zur NS-Zeit in Hessen werden nicht erwähnt.Dr. Alexander Jehn, Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, sprach am 12. Juli 2022 auf dem 44. Hessischen Archivtag zum Thema »Gedenkstätten und Erinnerungsarbeit in hessischen Archiven«. Sein Beitrag war überschrieben mit »Der Aufbruch ins Digitale: Hessische Gedenkstätten und die Weiterentwicklung der Erinnerungskultur«. Über die hessischen Gedenkstätten, von denen einige maßgeblich aus Mitteln der HLZ gefördert werden, erfuhr man jedoch wenig. Über die Nennung der Gedenkstätten und die Erwähnung ihrer Arbeitsschwerpunkte ging Jehn nicht hinaus. Dagegen berichtete er ausführlich, wie wertvoll die Arbeit der Gedenkstätte Buchenwald sei. Die HLZ fördere Gedenkstättenfahrten für Schulklassen. Besonders gerne würde man ob der guten Arbeit, die dort geleistet würde, in die Einrichtung nahe Weimar fahren. Auch die Arbeit des Memorium Nürnberger Prozesse in Nürnberg lobte Jehn mit Blick aufs Digitale mehrfach. Für die Vielfalt der Gedenkstättenlandschaft in Hessen und die Leistung insbesondere ehrenamtlich getragener Erinnerungsorte in den hessischen Städten und Kommunen fand Jehn hingegen keine Worte. Außer Acht ließ Jehn auch die Bedeutung der Erinnerungsorte in großen und kleinen hessischen Städten und Landkreisen, die zeigen, dass die NS-Verbrechen nicht nur in den großen Konzentrationslagern stattfanden, sondern die Ausbeutung, Verfolgung und Ermordung von Menschen alltäglich und sichtbar war und von der deutschen Mehrheitsgesellschaft gebilligt wurde.
Den Blick nach Hessen warf Jehn erst, als er die drei Säulen der Arbeit der HLZ vorstellte. Dabei verschmolz durch seine Wortwahl die Erinnerung an die NS-Zeit mit derjenigen an die Diktatur in der DDR. Diesen Eindruck bestätigt auch der Internetauftritt der HLZ. Unter der Rubrik „Hessen erinnert“ werden die Gedenkstätten Hadamar und Breitenau ohne Bezug neben Point Alpha und Schifflersgrund genannt.
Dr. Alexander Jehn fuhr fort mit der Weiterentwicklung des Portfolios der HLZ durch Demokratiebildung an Lernorten, die für positive Entwicklungen in der deutschen Geschichte stehen und an denen erfolgreich Demokratie bzw. demokratische Strukturen geschaffen wurden. Wie wichtig es sei, Geschichte auch an positiven Beispielen zu erzählen, illustrierte er an der Frankfurter Paulskirche. Dann sprach Jehn über den 27. Januar. Das Datum sei bei ihm durch seinen Großvater als Kaisers Geburtstag (gemeint ist der Geburtstag Wilhelm II.) im Gedächtnis geblieben und nicht als „Tag der Befreiung“ des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Weiteres führte er hierzu nicht aus. Jedoch gerade diese Deutungsoffenheit muss maximal irritieren, mag sie doch eine Relativierung der Erinnerungskultur mit Bezug auf die NS-Menschheitsverbrechen implizieren.
Uns als Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS- Zeit in Hessen besorgt die in dem Vortrag von Jehn zum Ausdruck kommende Geschichtsdeutung und seine Sicht auf die hessische Erinnerungskultur sehr. Die hessischen Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit leisten seit Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur historisch-politischen Bildung sowie zur Demokratiebildung in Ballungszentren wie im ländlichen Raum. Es ist nicht zuerst die HLZ, wie Herr Dr. Jehn beim Hessischen Archivtag erklärte, die als »Feuerwehr« gegen Verschwörungserzählungen agiert. Es sind die Gedenkstätten und Initiativen vor Ort, die sich kritisch mit der Geschichte ihrer Umgebung auseinandersetzen und gegen Relativierungsversuche argumentieren. Die NS-Zeit darf nicht mit der Diktatur in der DDR gleichgesetzt werden. Der 27. Januar ist in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess eben nicht der Kaiser-Geburtstag, sondern der nationale »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« und internationale Holocaust-Gedenktag. Von einer Einrichtung wie der HLZ, die »politische Bildung« im Namen trägt, erwarten wir einen differenzierten Blick auf die deutsche Geschichte und die Wertschätzung der Akteure, die historisch-politische Bildungsarbeit vor Ort leisten.
Für die LAG
der Sprecher*innenrat